3. Gegenmacht zwischen Mehrheit und Minderheit

Ein Grund für die aktuelle Krise der gesellschaftlichen Linken ist das Fehlen von Gegenmacht. Unter Gegenmacht verstehen wir, Entscheidungen und Politiken der Herrschenden unterbrechen, aber auch eigene Lösungen durchzusetzen zu können. Hierfür braucht es das Zusammenspiel linker Kräfte. Die Vielstimmigkeit der Bewegungen und Organisationen ist für uns nicht ein Problem, das durch die Führung einer Organisation behoben werden muss. Wir setzen darauf, linke Bewegungen in ihrer Gesamtheit zu stärken, zu verbinden und Vertrauen untereinander zu schaffen. Als organisierte radikale Linke ist es unsere Aufgabe, die Erfahrungen der Bewegungen zu verstetigen und diese auf ein neues Niveau zu heben. Das unterscheidet uns von individualistisch-moralischen Ansätzen innerhalb der Linken. Diese erschöpfen sich in Anleitungen zur persönlichen Verhaltensänderung, entwickeln aber keine Vorstellungen davon, wie die Gewaltverhältnisse kollektiv überwunden werden können.

Gesellschaftliche Gegenmacht entsteht in Kämpfen. Diese Kämpfe entwickeln eine besondere Stärke, wenn Menschen nicht nur über gemeinsame Überzeugungen, sondern auch über gemeinsame materielle Interessen zusammenkommen: Bei Streiks am Arbeitsplatz, in Ausei­nandersetzungen um Grundbedürfnisse wie Wohnen, Gesundheit, Pflege und Energie oder im Kampf gegen Diskriminierung, für Selbstbestimmung und rechtliche Gleichstellung. In diesen Kämpfen um soziale Gleichheit und Freiheit entsteht die Überzeugung, etwas an den eigenen Lebensumständen ändern zu können. Solche Kämpfe ermöglichen es uns, breite Teile der Bevölkerung anzusprechen und nach Mehrheiten für radikale Politik zu suchen.

Aber: Die radikale Linke ist in den kapitalistischen Zentren strukturell in einer Minderheitenposition. Das betrifft das Verhältnis zum Globalen Süden, aber auch zu vielen Interessen der Mehrheitsgesellschaft hier. Beides verschärft sich aktuell, weil das kapitalistische Fortschrittsversprechen mit der Klimakrise an seine Grenzen stößt. Die materiellen Voraussetzungen für globale Gerechtigkeit schwinden. Die Sehnsucht nach Sicherheit, Autoritarismus und Abschottung wächst und wird durch rechte Erzählungen angetrieben – auf Kosten von Menschen im Globalen Süden, aber auch von Mi­grant*innen und FLINTA* hier. Anders als eine grüne Modernisierung oder das reaktionäre Projekt versprechen wir niemandem, dass der materielle Wohlstand endlos weiterwachsen kann und die eigene Lebensweise unverändert bleiben wird. Wer dies tut, täuscht sich und andere – und stellt sich, bewusst oder unbewusst, auf die falsche Seite der Barrikade. Darüber müssen wir mit der Mehrheitsgesellschaft in den Konflikt treten, wenn wir ernsthaft für globale Klimagerechtigkeit und gegen den entstehenden Festungskapitalismus kämpfen wollen.

Wir sind dennoch überzeugt, dass die Verhältnisse hier nicht ohne Bruchstellen sind. Deshalb ziehen wir uns auch in Anbetracht dieser Minderheitenposition nicht auf eine vermeintlich radikale Position der reinen Kritik zurück. Denn die Bruchstellen lassen sich durch eine radikale, aber vermittelbare Politik vertiefen. Klimakrise, Pandemie und Krieg: Auch der Globale Norden ist keine Insel der Stabilität mehr, wo das Leben der meisten Menschen ungestört und unberührt weitergehen könnte. Auch hier gibt es Widersprüche in der herrschenden Produktions- und Lebensweise. Auch hier stellt sich die Frage, wer die Kosten für die Krisen zahlt. Wir leben inmitten einer planetaren Krise. Unter diesen Bedingungen ist eine Revolution die einzige Möglichkeit, ein gutes Leben für alle zu gewährleisten. Statt in moralischer Anklage zu verharren, geht es also darum, selbstbewusst und radikal zu intervenieren – und nach Allianzen zu suchen mit den Betroffenen und denjenigen, die an Menschlichkeit und Solidarität festhalten.

Dabei bestimmen wir die Wahl der Mittel immer wieder neu. Bei der Vergesellschaftung von sozialer Infrastruktur wie etwa Wohnraum deckt sich unser Ziel mit den Interessen der großen Mehrheit. Aber auch dort kann, je nach Situation, eine militante Zuspitzung notwendig sein. Andersherum kann selbst aus einer Position der Minderheit ein breit vermittelbares politisches Projekt sinnvoll sein. Die Seebrücke, die sich insbesondere gegen die Kriminalisierung von Seenotrettung im Mittelmeer richtete, war vielleicht nie ein mehrheitsfähiges Projekt. Aber sie bot vielen Menschen einen Anknüpfungspunkt für konkrete Solidarität. Eine Orientierung auf Vermittelbarkeit und die Kämpfe der Vielen bedeutet in diesem Sinne auch keine Absage an Militanz. Black Lives Matter hat es eindrucksvoll gezeigt: Auch Menschen, die nicht direkt unter Polizeigewalt leiden, können Verständnis haben, wenn eine Polizeiwache brennt. Je besser es uns gelingt, neue Verbindungen zu schaffen, ausgeschlossene Stimmen hörbar zu machen und in konkreten Kämpfen ansprechbar und erlebbar zu sein, desto freier sind wir in der Wahl unserer Mittel.