2. Gelegenheiten, kleine Brüche und die Macht der Straße

Revolutionäre Prozesse lassen sich nicht am Reißbrett entwerfen. Genauso wenig aber fallen sie vom Himmel. Sie ergeben sich sowohl aus jahrzehntelanger, kontinuierlicher Arbeit für Veränderungen im Hier und Jetzt, als auch aus den spontanen Kämpfen sozialer Bewegungen und dem utopischen Begehren derer, die gegen das Bestehende rebellieren. In unserer Strategie beziehen wir uns deshalb auf beides: Auf die transformative Verschiebung von Kräfteverhältnissen ebenso wie auf das Handeln in der kurzfristigen Dynamik konkreter Gelegenheiten.

Gelegenheiten sind für uns Zeitfenster, in denen scheinbar stabile Prozesse sprunghaft verlaufen. Momente und Ereignisse, in denen es für einen kurzen Zeitraum politisch mehr zu gewinnen oder zu verlieren gibt als erwartet. Gelegenheiten lassen sich nicht erzwingen. Aber in unserem Zeitalter der Krisen nimmt die Instabilität zu, weshalb solche politischen Gelegenheiten häufiger auftreten. Die letzten Jahre zeigen, dass mutige Interventionen weniger Aktivist*innen einen echten Unterschied machen können. So war es beispielsweise bei den bundesweiten Protesten gegen die Wahl von Thomas Kemmerich zum Thüringer Ministerpräsidenten im Jahr 2020. Dieses Beispiel zeigt aber auch, dass wir zuletzt vor allem dann in der Lage waren, spontan zu handeln, wenn es um Abwehrkämpfe ging. Wir konnten schlimmeres verhindern, aber selten Momente nutzen, um die gesellschaftliche Linke nach vorne zu bringen.

Umso wichtiger ist es, besser als bisher vorbereitet zu sein und zu wissen, wie sich Gelegenheiten nutzen lassen. Wichtige Voraussetzungen hierfür sind die genaue Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen, ein gutes Gespür für gesellschaftliche Situationen und Stimmungen, enge Kontakte zu anderen (Bewegungs-)Akteur*innen und betroffenen Gruppen sowie die Fähigkeit zur koordinierten und entschlossenen Intervention. Um Erfahrungswissen weitergeben zu können, ist ein generationenübergreifendes Organisierungsprojekt wichtig.

Die Herausforderung revolutionärer Politik besteht darin, solche Gelegenheiten mit längerfristigen Transformationsstrategien zu kombinieren. Letztere erzielen reale Erfolge, stellen die Umsetzbarkeit linker Ideen unter Beweis und schaffen gesellschaftliche Verankerung. Sie ermöglichen das Erlernen emanzipatorischer Beziehungsweisen und weisen ganz konkret über die gegenwärtige Traurigkeit des Kapitalismus hinaus. Ein produktives Zusammenspiel von Gelegenheiten und kontinuierlicher Arbeit ermöglicht kleine Brüche.

Kleine Brüche sind zentrale Zwischenziele unserer Politik. Damit meinen wir Veränderungen, die unseren Handlungsspielraum und unsere gesellschaftliche Gegenmacht systematisch aufbauen und erweitern:

  1. Sie verschieben den Horizont des Möglichen;
  2. sie erreichen eine reale Verbesserung;
  3. in ihnen organisieren sich Menschen in handlungs- und durchsetzungsfähigen Strukturen.

Erst durch die Verbindung dieser Dimensionen wird aus einem politischen Sieg ein kleiner Bruch. Er reizt die bestehenden Spielregeln aus oder bricht diese und macht das Unvorstellbare vorstellbar, ohne aber schon die Verhältnisse völlig auf den Kopf zu stellen. Somit ist nicht jede Reform, die wir gegen den Staat durchsetzen, ein kleiner Bruch. Aber kleine Brüche sind die Grundlage eines erfolgreichen revolutionären Prozesses. Die Kampagne Deutsche Wohnen und Co. enteignen ist ein Beispiel für eine Politik, die in die Richtung eines kleinen Bruchs weist: Der Volksentscheid zur Enteignung großer Immobilienkonzerne machte Enteignung und Vergesellschaftung im Bereich Wohnen als reale Option greifbar; seine Umsetzung würde massive Verbesserungen für die Mieter*innen bedeuten und hat in Form des Mietendeckels zumindest kurzfristig materielle Zugeständnisse erzwungen. Deutsche Wohnen und Co. enteignen ist aber nicht nur eine politische Kampagne, sondern basiert auf der jahrelangen Organisierung von Mieter*innen und stadtpolitisch Aktiven in dauerhaften und handlungsfähigen Strukturen.

Besonders komplex und folgenreich ist das Verhältnis von Gelegenheit und Transformation in Momenten des Aufstands. Aufstände sind für uns eine besondere Form der Gelegenheit. Oft markieren sie den Unterschied zwischen gestern und morgen. Sie entfalten eine starke symbolische und motivierende Kraft und können Machtverhältnisse ins Wanken bringen. Zugleich sind sie beständig von der Gefahr repressiver Gewalt und der Logik militärischer Eskalation bedroht. Gerade deshalb sind organisierte Kerne und gesellschaftliche Verankerung wichtig, um über die Dynamik der Situation hinaus ein emanzipatorisches Projekt zu verfolgen.

Einen tatsächlich revolutionären Charakter entfalten solche Aufstände dort, wo sie die Grenzen einer rein sozialen oder politischen Auseinandersetzung überschreiten und alle gesellschaftlichen Bereiche erfassen. In solchen Situationen werden Mittel der Unterbrechung wie Blockaden, Sabotage und der gesellschaftliche Streik besonders wichtig. In einem Aufstand können zudem zuvor aufgebaute Selbstverwaltungsstrukturen über sich selbst hinauswachsen und den Weg der Veränderung weisen. Aufstände ohne eine solche materielle und strukturelle Grundlage bleiben Strohfeuer. Eine revolutionäre Umwälzung ist ein Massenprojekt, das eine überwältigende Mehrheit gegen die Minderheit der Herrschenden erkämpft.
Vor diesem Hintergrund zielen wir auf Momente, in denen die Macht auf der Straße liegt. Auch wenn es herausfordernd ist: Es gilt, Chancen zu erkennen und das zu tun, was unmöglich erscheint – weil Gelegenheiten sonst vorbeiziehen oder reaktionäre Kräfte Geschichte schreiben. Hierfür braucht es eine rebellische Haltung und die Bereitschaft, auch subjektiv den Bruch mit dem Bestehenden zu wagen. Gleichzeitig ist es gefährlich, sich zu sehr in der Hoffnung auf den Moment zu verlieren und Gelegenheiten zu sehen, wo keine sind. Eine solche Herangehensweise nutzt sich ab und führt zu Resignation. Gerade in Zeiten dynamischer Krisen wird es in den kommenden Jahren für uns als Subjekte und als Organisation darauf ankommen, beides zu können: Offen zu sein für die Dynamik der Situation und zugleich mit Beharrlichkeit eine langfristige Transformation zu verfolgen.