Wir melden uns zu den Ereignissen in der Ukraine zu Wort, auch wenn wir über die Frage der richtigen Strategie und der richtigen Bündnispartner_innen für Antikriegsaktionen nicht in allen Details einig sind. Wir hegen ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber einfachen Antworten, gegen die Tendenz, entweder für den Westen oder für Russland sein zu sollen, für oder gegen den Maidan oder Anti-Maidan, für oder gegen die umstrittenen Montagsmahnwachen.
An den Antikriegsdemonstrationen am 31. Mai werden wir uns beteiligen, schreiben hier aber keinen „Aufruf“, sondern einen Kommentar, in dem wir unsere Überlegungen zum Ukrainekonflikt zur Diskussion stellen. Sie markieren einen Zwischenstand unserer eigenen, auch mit und in diesem Kommentar fortgesetzten, Diskussion.
Unser Ausgangspunkt
Klar ist für uns allerdings: Die Ausgangspunkte für radikale Linke können nicht geopolitische Erwägungen sein, nicht Machtstrategien der Staaten, und schon gar nicht die Profitinteressen der Konzerne und Oligarchen. Wir schlagen uns nicht auf die Seite der einen oder anderen kapitalistischen Macht, sondern sind an der Seite all der Menschen, die gegen ihre soziale Lage und ihre politische Unterdrückung aufbegehren und sich gleichzeitig der rassistischen und nationalistischen Aufladung des Konfliktes widersetzen.
Dass diese Positionen in der Ukraine inzwischen minoritär geworden sind, dass chauvinistische und faschistische Kräfte eine Hegemonie auf der Straße gewonnen haben und dass Linke und Antifaschist_innen vielfach verfolgt werden, gehört zur Tragik des Maidan-Aufstands gegen die reaktionäre Janukowitsch-Regierung. Dieser Aufstand war von Anfang an ambivalent: in Teilen legitimer Aufstand für demokratische und soziale Rechte und gegen eine autoritär-oligarchische Politik, zugleich geplante Aktion faschistischer Kräfte und Spielball einer westlichen Intervention. Mit umgekehrten Vorzeichen – Spielball einer russischen Intervention zu sein – gilt das nicht weniger für die Bewegungen des Anti-Maidan: Sie waren und sind in Teilen auch legitime Bewegungen der Selbstverteidigung gegen die offenkundige ukrainisch-nationalistische Bedrohung und stellen als solche zugleich demokratische und soziale Forderungen.
Wir stehen vor neuen Herausforderungen
Weil das so ist, halten wir all die Analysen für unvollständig und damit auch für falsch, die das legitime Moment der Aufstandsbewegungen verleugnen, indem sie die vielfältigen Akteur_innen auf den Plätzen allesamt zu bewusstlosen Opfern der Manipulation durch einheimische reaktionäre Kräfte oder von außen intervenierende Mächte herabsetzen. Die Äußerungen und die Ausdrucksmittel vieler Menschen des Maidan wie des Anti-Maidan sind uns oft fremd, manches verstört uns, vieles ruft zu Recht unsere scharfe Ablehnung hervor: Doch wir erkennen an, dass zu den Versammlungen auf den Plätzen aller ukrainischen Städte immer auch Subjekte gehören, die sich gegen ihre Beherrschung, Missachtung und Ausbeutung wehren.
Mehr noch: Die Ereignisse in Kiew wie im Donbass zeigen: Wir erleben nicht erst seit gestern eine Zeit sozialer Kämpfe mit hoher Intensität, die zutiefst zweideutig sind und uns als solche herausfordern: Wir müssen uns selbst etwas einfallen lassen, müssen uns in gewissem Maß sogar neu erfinden, können jedenfalls nicht einfach weitermachen wie immer schon. Gleichwohl gilt für uns immer noch die alte linke Erkenntnis, dass der Hauptfeind im eigenen Land zu suchen ist, dass also die Gegnerschaft zum deutschen und europäischen Imperialismus, der Widerstand gegen die Osterweiterung von Europäischer Union (EU) oder NATO und die Ablehnung aller militärischen und ökonomischen Drohungen durch diese Mächte für uns selbstverständlich sind.
Deutschland, die EU und die Ukraine
Was in der Ukraine als Protest begann und zum Umsturz wurde, hat inzwischen bürgerkriegsähnliche Zustände angenommen und scheint immer weiter zu eskalieren. Deshalb kommen auch wir nicht darum herum, eigens zu beschreiben, wer dort nach unserer Einschätzung mit welchen Mitteln und welchen Interessen engagiert ist. Auch wenn einiges von dem, was wir jetzt aufführen, anderswo bereits gesagt wurde, halten wir es für notwendig, die Täter_innen und ihre Tatmotive noch einmal zu benennen.
Das Säbelrasseln der EU, der USA und Russlands hat die Ereignisse in der Ukraine von Beginn an begleitet. Das militärische Muskelspiel ging mit einer Desinformationspolitik einher, in der die westlichen Medien den russischen in keiner Weise nachstanden. Wahlweise wurde der Einfluss faschistischer Kräfte in der Ukraine negiert oder maßlos übertrieben. Geschwiegen wurde über die sozialen Folgen, die eine Einbindung des Landes als weiteren Staat in der EU-Peripherie zur Folge hätte.
Durch das geplante Assoziierungsabkommen mit der EU sollte die Ukraine als Rohstofflieferant und Absatzmarkt an den Westen gebunden werden. Nachdem die Regierung Janukowitsch auf Druck Russlands das Abkommen nicht unterzeichnete, erklärten sich die deutsche und EU-Außenpolitik sofort zu begeisterten Unterstützer_innen der „pro-europäischen“ Regierungsgegner_innen auf dem Maidan in Kiew. In den „Solidaritätsadressen“ wurde übergangen und bis zum Ende heruntergespielt, dass sich die Kämpfer_innen auf den Barrikaden zu wesentlichen Teilen aus nationalchauvinistischen und faschistischen Gruppen und Parteien rekrutierten und linke und antifaschistische Kräfte mit Gewalt vom Platz ferngehalten wurden.
Nationale Interessenpolitik
So war das Geschehen in der Ukraine von vorneherein eingebettet und befeuert durch den Konflikt zwischen den Interessen des EU-europäischen und russischen Kapitals. Es ging den verschiedenen Interventionsmächten nie um Demokratie oder um die Entmachtung der ukrainischen Oligarchie: Sie folgten allein ihren eigenen Interessen. Das Ziel Deutschlands und der EU war und ist die Einbindung der Ukraine in den EU-Binnenmarkt, der freie Marktzugang europäischen und vor allem deutschen Kapitals.
Besonders unter den Vertreter_innen des deutschen Kapitals gibt es viele Stimmen, die unter Verweis auf die Abhängigkeit Deutschlands vom russischen Gas zu Nachsicht und Deeskalation aufrufen, um ihre Investitionen in Russland nicht zu gefährden. Die sogenannten Atlantiker betonen hingegen, wie wichtig ein einheitliches Vorgehen mit den USA und den anderen NATO-Ländern sei, wolle man den Einfluss Russlands in Osteuropa zurückdrängen. Überhöht wird diese ebenfalls geopolitisch motivierte Option durch die ideologische Anmaßung, die Ukraine mit der „Befreiung“ aus dem russischen Einflussbereich „demokratisieren“ zu wollen.
Der Widerspruch dieser beiden Tendenzen begründet das „Jein“ der deutschen Position: Während die neue Regierung in Kiew samt ihrer Faschist_innen in ihrer (para-)militärischen „Anti-Terror“-Kampagne gegen die Separatist_innen im Osten weiter unterstützt werden, bemüht sich die Diplomatie um die Einhegung der Krise.
Ein neuer Kalter Krieg zwischen den USA und Russland?
Eindeutiger agieren die USA, die Russland vollmundig angreifen, weil sie kaum auf eigene wirtschaftliche Interessen Rücksicht nehmen müssen, da der Handel US-amerikanischer Firmen mit Russland eher unbedeutend ist. Sie unterstützten die neue Regierung in Kiew umgehend mit der Garantie ukrainischer Staatsanleihen und verstärkten – zeitgleich zur Konzentration russischer Truppen an der ukrainischen Grenze – ihre eigene Truppenpräsenz in Osteuropa.
Überwiegend mit „sanfter“ Gewalt verabreicht der Internationale Währungsfonds (IWF) der Ukraine in bekannter Manier die übliche Medizin: Renten-, Lohn- und Sozialkürzungen. Folgsam kündigt die Führung in Kiew an, ihre Staatsausgaben um 15 Prozent zu kürzen. Welche Folgen diese Politik hat, haben wir in den letzten Jahren in Griechenland gesehen.
Um seine eigenen Interessen zu schützen, griff Russland die Sorgen und Befürchtungen der russischsprachigen Bevölkerung vor einer Dominanz der ukrainisch-nationalistischen Kräfte auf. Moskau inszenierte sich erst auf der Krim, auf der die russische Schwarzmeerflotte stationiert ist, dann auch in der Industrieregion im Donbass als Schutzmacht gegen die „Faschisten in Kiew“. Die russische Wirtschaft schwächelt, da heißt es, die Großmachtträume des einfachen Russen zu befriedigen, indem militärische Stärke in der Ukrainefrage gezeigt wird.
Kriegsgefahr? Dritter Weltkrieg?
Das durch russisches Militär forcierte Referendum auf der Krim verlief noch verhältnismäßig unblutig, wenn auch unter lautem Protest der USA und der EU. Inzwischen spitzt sich allerdings die Situation im Donbass zu. Hier existiert ein blutiges Patt zwischen der ukrainischen Armee und schwer bewaffneten und zum Teil zu „Sicherheitskräften“ legalisierten Faschist_innen des Rechten Sektors auf der einen Seite und diversen russischsprachigen Aufständischen auf der anderen Seite, die sich gegenseitig belauern und bekämpfen. Doch auch wenn die Kriegsgefahr real ist, wird es wegen der Ukraine wahrscheinlich nicht zum Dritten Weltkrieg kommen.
Vielmehr scheint die Ukrainekrise ein typisches Beispiel für jenen Typus der „neuen Kriege“ zu sein, in denen reguläre Truppen neben paramilitärischen Verbänden agieren und die Grenzen zwischen Polizeieinsatz und Krieg verschwimmen. Das Ganze macht den Fall nicht weniger dramatisch, trotzdem sollten wir gegen den Alarmismus in Teilen der Linken zur Kenntnis nehmen, dass die Konfliktparteien bisher zwar „harte Kante“ zeigen, aber eine Zuspitzung nicht in ihrem Interesse ist.
Die genaue Gestaltung der Ukrainepolitik folgt keinem Masterplan einer kleinen geheimen Gruppe, auch wenn manche Strateg_innen in Washington, Berlin und Moskau sich das wünschen würden: Immer wieder gibt es Abstimmungsprobleme, verschiedene, sich zum Teil widersprechende Interessen, unterschiedliche Möglichkeiten, die eigene Politik in einer sich verändernden und dynamischen Situation durchzusetzen.
Instabile Welt(un)ordnung
Womit wir konfrontiert sind, ist nicht der verrückte General aus „Dr. Seltsam“, der mit der Atombombe spielt, um den Dritten Weltkrieg auszulösen, wie manche Alarmisten fürchten, sondern eine gewaltförmig zugespitzte Interessenpolitik im Rahmen der konfliktiven Herausbildung einer multipolaren und deshalb hochgradig instabilen imperia(listisch)en Welt(un)ordnung. Wir sind weder mit einer „Weltverschwörung“ – schon gar nicht mit einer solchen der Banken oder Zentralbanken – konfrontiert noch mit verrückten Kriegstreiber_innen, sondern mit berechnenden Machtpolitiker_innen und kalkulierenden Strateg_innen auf allen Seiten, die den Konflikt am köcheln halten. Besonders erschreckend ist allerdings, dass das ausführende Personal zumindest zu Beginn der Krise nicht auf der Höhe der eigenen Kalküle war und sich für einen Moment die Option des Hineinschlitterns in eine kriegerische Eskalation öffnete. Pünktlich zum 100. Jahrestag erinnerte das an die Bedingungen, unter denen es zum Ersten Weltkrieg kam.
Die Bundesregierung spielt in der Ukrainekrise ein schmutziges Spiel und hat als Führungsmacht der EU und der NATO maßgeblichen Anteil an der Eskalation in der Ukraine. Obwohl untereinander auch in dieser Hinsicht uneins, streben beide, EU wie NATO, seit Jahren schon maßgeblich auf eine Russland faktisch einkreisende „Osterweiterung“. In der Ukraine ist dieses Projekt vorerst an seine Grenze gestoßen. Aus dieser inneren Krise resultieren auch die Widersprüche der deutschen Politik: Das Gerede von Deeskalation, Gewaltverzicht und diplomatischer Lösung einerseits und die aktive Duldung der in der Ukraine mitregierenden Faschist_innen samt ihrer bewaffneten Banden.
Die Regierungen der EU, Russlands und der USA verfolgen in der Ukraine eine nationale Interessenpolitik und wollen in dem von ihnen geschürten Konflikt geostrategische und wirtschaftliche Vorteile durchsetzen. Alle reden sie von Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung – ob in Berlin, Brüssel oder Moskau. Wir glauben ihnen kein Wort!
Die Ukraine nach dem Umsturz
Die fortschrittlichen Teile der ukrainischen Gesellschaft, die sich weder von Janukowitsch noch von seinen pro-westlichen Gegenspieler_innen besonders viel erhoffen können, verlieren in dieser Konfrontation zunehmend die Möglichkeit, sich demokratisch und kollektiv zu organisieren. Am Beginn der Proteste auf dem Maidan aber stand der legitime Unmut über Korruption und die sozialen Probleme des Landes sowie eine Selbstermächtigung nicht weniger Ukrainer_innen über politische und ethnisierte bzw. konfessionalisierte Lagergrenzen hinweg.
Für viele Demonstrant_innen auf dem Maidan stand und versprach die Flagge der EU Wohlstand und Demokratie; ein illusionsreiches, aber starkes Gegenbild zur bekannten prorussischen Autokratie, zu Janukowitsch. Für viele Aktivist_innen des Anti-Maidan geht es um unmittelbare Selbstverteidigung und den offen pro-oligarchischen Hintergrund der Kiewer Regierung. Schon zu Beginn war der Protest, ähnlich wie die orangene Revolution 2004, kein linker Protest, obwohl Teile der ukrainischen Linken versuchten, in den Protest zu intervenieren: ein Versuch, der zunehmend gefährlich und schließlich nahezu unmöglich wurde. Die Nationalist_innen und Faschist_innen von Swoboda und dem Rechten Sektor stellten zwar nicht die Mehrheit der Protestierenden auf dem Maidan, übernahmen aber bald wichtige Teile der Protestinfrastruktur, die paramilitärische Verteidigung des Protests und etablierten schließlich eine nationalistisch-faschistische Hegemonie.
Eine Hegemonie, die in keinem Verhältnis zu ihrer zwar gestiegenen, aber immer noch minoritären sozialen Basis in Form von Wählerstimmen steht. Andere rechtspopulistische, nationalistische und extrem rechte Parteien in Europa haben ähnliche bzw. deutlich mehr Zustimmung auf sich vereinen können. Doch in der Situation des Umsturzes in der Ukraine stießen die ukrainischen Faschist_innen auf ein Machtvakuum, eine Situation, in der die „Macht auf der Straße lag“ (Lenin) und griffen zu.
Die Folge: Hetzjagden gegen Andersdenkende, gestürmte Gewerkschaftshäuser, verwüstete Parteibüros der kommunistischen Partei und schließlich das von den westlichen Medien in allerbester russischer Manier heruntergespielte oder verschwiegene Pogrom in Odessa. Die Zäsur der Ereignisse in der Ukraine besteht darin, dass zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa Faschist_innen die Kontrolle von Teilen des Staates übernehmen und eine Gewalt ausüben können, die in den letzten 70 Jahren undenkbar war. Sie haben mittlerweile einen Umfang und Organisierungsgrad erreicht, von dem die an deutschen Wehrsportgruppen beteiligten Nazis in den 1980er Jahren nur träumen konnten.
Vom Anti-Maidan wissen wir noch weniger als vom Maidan, doch können und wollen wir die Widersprüche in den Berichten ukrainischer und russischer Genoss_innen von uns aus nicht auflösen. Dass das politische Anliegen vieler Aktivist_innen des Anti-Maidan in „pro-russischem Separatismus“ nicht aufgeht, scheint uns dennoch sicher.
Ihre Politik ist nicht unsere
Im Angesicht dieser unübersichtlichen Gemengelage und der scheinbar ausweglosen Lage vor Ort darf die Linke international nun weder den Fehler machen, sich resigniert abzuwenden, noch sich aus schierer Verzweiflung einem der imperialistischen Lager als kleinerem Übel an den Hals zu werfen oder ihre antifaschistischen und antirassistischen Grundwerte aus den Augen zu verlieren. Mehr denn je heißt Antimilitarismus für uns: Wir müssen entschieden nationalistischen Ressentiments und Deutungsmustern eine Absage erteilen und alle Versuche der europäischen und deutschen Kapitale zurückweisen, ihren Konfrontationskurs als „demokratisch“ oder „humanitär“ zu präsentieren. Unsere Unterstützung gilt den demokratischen und emanzipatorischen Kräften vor Ort, die gerade jetzt auf jede Hilfe angewiesen sind.
Natürlich sind wir gegen Auslandseinsätze, natürlich sind wir für radikale Abrüstung und die Abschaffung der Bundeswehr, natürlich sind wir gegen die Osterweiterung der EU und natürlich sind wir für die Auflösung bzw. Zerschlagung der NATO. Doch wissen wir auch, dass entsprechende Ausrufezeichen-Sätze in der herrschenden Kräftekonstellation nicht abgefragt werden.
Das Eskalationspotenzial, das in der Ukraine zeitweise ein Hineinschlittern in eine direkte militärische Konfrontation zwischen NATO und Russland möglich werden ließ, zeigt uns aber unverkennbar, was wir zu tun haben, was von uns gefordert wird und wir von anderen fordern können: Beginnen wir gemeinsam mit dem Aufbau einer lebendigen, linken und internationalistischen Bewegung gegen Militarismus und Krieg. Die Zukunft unserer Proteste könnte davon abhängen.
interventionistische Linke, Mai 2014