2. Ungehorsam Kämpfen

Die gesellschaftliche Normalität zu unterbrechen und sich ihr aktiv zu widersetzen, ist Ausgangspunkt, um Risse in den Herrschaftsverhältnissen zu vertiefen. Ungehorsam ist die Voraussetzung für eine radikale Umwälzung des Bestehenden. Wir setzen dabei auf eine Politik der Selbstermächtigung der Ausgebeuteten und Unterdrückten. Diese Politik fragt nicht nach der Legalität, sondern nach der Legitimität ihres Handelns und bestreitet damit das staatliche Gewaltmonopol. Bereits im Zwischenstandspapier haben wir festgehalten, dass uns in diesem Zusammenhang die Möglichkeit und Vermittelbarkeit des massenhaften Regelübertritts als potenzielle Radikalisierung der Vielen besonders wichtig sind. Wir haben aber auch erlebt, dass Aktionsformen an ihre Grenzen stoßen. Um in den nächsten Jahren mehr reale Gegenmacht aufbauen zu können, müssen wir diese Erfahrungen auswerten und Aktionsformen weiterentwickeln: Hat sich unsere Praxis an manchen Stellen ritualisiert? Haben wir dadurch verlernt, in offenen Situationen klar und entschlossen zu handeln? Wie können wir in den neuen Streikbewegungen reale Unterbrechung mit breitem politischem Widerstand verknüpfen und so diese Kämpfe radikalisieren?

Ziviler Ungehorsam

Aktionen massenhaften Ungehorsams waren und sind zentraler Bestandteil unserer Praxis. Offen sagen, was wir tun – und tun, was wir sagen. Mut machen, widerständig und radikal zu kämpfen. Sich nicht einschüchtern lassen vom Staat und seinen Institutionen. Diesen Anspruch konnten wir einlösen: Massenhafter Ungehorsam hat sich in vielen sozialen Bewegungen etabliert und verselbstständigt. Was früher nur wenige gemacht haben, ist heute en vogue. Und das ist gut so. Gerade in der Klimagerechtigkeitsbewegung haben Massenaktionen die Bewegung radikalisiert. Sie haben Kraft gegeben und Mut gemacht, nicht aufzugeben und weiterzukämpfen, auch wenn die Eskalation der Klimakrise nicht aufgehalten werden konnte.

Die letzten Jahre haben uns aber auch Grenzen aufgezeigt. Durch die Regelmäßigkeit von Aktionen haben sich diese ritualisiert. Die Aktionen wurden kontrollierbarer und damit weniger kraftvoll. Die Diskursorientierung und der Wunsch nach möglichst breiter Anschlussfähigkeit haben die Radikalisierung und die Selbstermächtigung der Beteiligten und so die Bildung widerständiger Subjektivitäten in den Hintergrund gedrängt. Die Aktionen wurden zu großen Choreografien, die sich oft auf Sitzblockaden und deren möglichst reibungslosen Ablauf beschränkten. Diese Einschränkung unserer Aktionsfähigkeit wollen wir aufheben.

Das heißt nicht, dass Massenblockaden kein taktisches Mittel sein können. In vielen Fällen – sei es die Blockade einer Nazidemo oder eines Firmensitzes – sind sie nach wie vor eine massentaugliche und zugleich radikale Praxis. Aber in Bereichen wie der Klimagerechtigkeitsbewegung, die sich verbreitert und vergrößert und zeitweise enorme Unterstützung erfahren hat, halten wir es für notwendig, die Mittel anzupassen, um wirksamer unterbrechen zu können und weniger kontrollierbar zu sein. Mit dieser Erkenntnis sind wir nicht allein. Die Schlussfolgerungen sind jedoch sehr unterschiedlich. Einige haben zugunsten des Ziels einer maximalen Anschlussfähigkeit politische Inhalte weitestgehend entleert. Linke Gesellschaftskritik fällt unter den Tisch, Gegner werden nicht mehr benannt. Andere, wie etwa die Letzte Generation, setzen weniger auf Masse und eher auf das Moment des Unkalkulierbaren. Mit entschlossenen Aktionen einiger weniger unterbrechen sie den Alltag vieler Menschen. Sie setzen darauf, mit inszenierter Opferbereitschaft und anschließender Repression breite Teile der Bevölkerung von der Dringlichkeit der Klimakrise zu überzeugen. Die Herrschenden so zum Einlenken bewegen? Diese Wette scheint nicht aufzugehen. Hier fehlen die gleichzeitige Organisation massenhaften Rückhalts und eine politische Vermittlung, die dem Status quo eine linke Alternative entgegensetzt.

Einig sind wir uns in der Notwendigkeit, Aktionen stärker auf die unmittelbare Unterbrechung des Betriebsablaufs oder des Alltags auszurichten. Dies wird auch bedeuten, das Repertoire des massenhaften Ungehorsams wieder häufiger über Sitzblockaden hinaus zu erweitern. Die Wahl der Mittel kann dabei nicht losgelöst von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen stattfinden. Sowohl in der Wahl der Ziele als auch im Anspruch auf Legitimität ringen wir um Vermittelbarkeit. Das bedeutet aber nicht, es immer allen recht zu machen. Vielmehr muss es darum gehen, neue Verbindungen zwischen verschiedenen Aktionsniveaus und -formen zu knüpfen, dem Neuen und Unberechenbaren Raum zu geben, kämpferische Subjektivitäten auszubilden, die Radikalisierung sozialer Kämpfe voranzutreiben und auch uns selbst langfristig handlungsfähiger zu machen. Wir wollen nicht mehr nur vor dem Kraftwerk oder der Fabrik sitzen, während die kapitalistische Katastrophe weitergeht. Gemeinsam mit den Vielen gilt es zu unterbrechen, anzueignen und unschädlich zu machen.

Offene Situationen

Auf der Suche nach Rissen und Bruchlinien stoßen wir immer wieder auf Unerwartetes und Unbekanntes. Im Zeitalter der Krisen verstärkt sich diese Tendenz massiv. Die letzten Jahre haben uns einen ersten Eindruck davon vermittelt: Eine Pandemie, die unseren Alltag innerhalb weniger Tage auf den Kopf stellt und unsere politische Handlungsfähigkeit massiv einschränkt; die Klimakrise, die im Ahrtal zur realen Bedrohung wird und Fragen praktischer Solidarität aufwirft; die Wahl von Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten von Thüringen mit Stimmen der AfD als ein erster Vorgeschmack auf künftige Dammbrüche; oder neue, digital initiierte Formen der Massenmobilisierung und des Aufruhrs auf der Straße. Diese sind aktuell oft verschwörungstheoretisch und offen rechts, sind aber auch möglich als Proteste gegen schlechte Arbeitsbedingungen, steigende Energiepreise, Feminizide oder rassistische Polizeigewalt.

Für diese spontanen und dynamischen Situationen gibt es kein Patentrezept. In der Vergangenheit konnten wir mit den Entwicklungen nicht immer Schritt halten, uns nicht ausreichend verständigen, um diese Situationen als politische Gelegenheit nutzen. Zuletzt waren wir vor allem dann in der Lage, spontan zu handeln, wenn es um Abwehrkämpfe ging. Wir konnten schlimmeres verhindern, aber selten Momente nutzen, um die gesellschaftliche Linke nach vorne zu bringen. In vielen anderen Situationen wurden wir überrascht und haben uns überraschen lassen. Eine Aufgabe für die Zukunft ist es daher, stärker als bisher eine Form der entschlossenen Haltung und radikalen Subjektivität zu entwickeln, um in solchen Situationen kurzfristiger handeln zu können und zu wollen. Dazu gehören Mut, Spontanität und Überzeugung ebenso wie Fingerspitzengefühl und die Fähigkeit, Chancen und Risiken abzuwägen. Dabei können wir unsere Stärken nutzen: die Erfahrungen in Organisierungsprozessen, das gegenseitige Vertrauen, unser inhaltliches Wissen und die Vernetzung zu verschiedenen Akteur*innen. Zugleich gibt es Fragen, die gerade in offenen Situationen möglicherweise neu, auf jeden Fall aber bewusst beantwortet werden müssen: Mit wem kämpfen wir, mit welchen Mitteln tun wir dies und was bedeutet dabei Militanz? Statt hierzu vorab ideologische Antworten zu geben, bedarf es einer konkreten Analyse der konkreten Situation und der darin erreichbaren Ziele. Nur so lässt sich sinnvoll bestimmen, was mehr denn je gelten muss: Mit allen notwendigen Mitteln.

Streik

An vielen Stellen der kapitalistischen Produktion und Reproduktion, vor allem im prekären Dienstleistungssektor und der öffentlichen Daseinsvorsorge, hat sich der Widerspruch zwischen dem kapitalistischen Verwertungsdruck und den Bedürfnissen der dort Beschäftigten in den letzten Jahren zugespitzt. Insbesondere in der Pflege und im öffentlichen Nahverkehr, aber auch im Betreuungs- und Bildungsbereich, sind immer wieder kraftvolle Streiks und Proteste entstanden – die Keimformen einer neuen Streikbewegung.

Die Verweigerung von Arbeitskraft ist ein machtvoller materieller Hebel. Kämpferische, basisdemokratische Streiks von Beschäftigten können mehr sein als der reine Kampf um Löhne und Arbeitsbedingungen. Sie unterbrechen den kapitalistischen Normalbetrieb und können Raum schaffen für Kollektivität, Politisierung und Organisierung. Kämpfe können sich verbinden und praktische Solidarität entstehen lassen. Um diesen Hebel über Tarifverhandlungen hinaus zu nutzen, muss es mittelfristig darum gehen, politische Streiks als Möglichkeit durchzusetzen.

Gemeinsam mit anderen Netzwerken und Gruppen haben wir in den vergangenen Jahren Arbeitskämpfe, etwa im Gesundheitssektor, im öffentlichen Nahverkehr oder bei Amazon, solidarisch begleitet und unterstützt. Wir konnten zur Politisierung von Streiks beitragen, kamen dabei aber kaum aus der Unterstützungsrolle heraus. Die hauptamtlichen Strukturen in den Gewerkschaften stehen dem zu oft im Weg. Gleichzeitig haben wir versucht, gesellschaftliche Streiks auch als materiellen Hebel in sozialen Bewegungen zu etablieren, z.B. im Feministischen Streik oder im Klimastreik. Damit konnte zwar die Idee dieser Kampfform stärker in den Bewegungen platziert werden, die konkrete Umsetzung ist aber bisher kaum gelungen. Es fehlt noch an einer breiten sozialen Basis, um derartigen gesellschaftlichen Streiks tatsächlich Schlagkraft zu verleihen.

Wenn an verschiedenen Stellen der Gesellschaft Verweigerung und Unterbrechung entsteht, erwächst daraus ein reales Potenzial von Gegenmacht, das aufgebaut und zusammengeführt werden muss. Unsere Perspektive ist klar: Wir wollen verschiedene Streikmomente stärker verbinden, Tarifstreiks politisieren und in gesellschaftlichen Streiks die materielle und soziale Basis stärken – vom Lohnstreik zum Mietstreik zum Metropolenstreik.