3. Risse, Bruchlinien und Konfliktfelder

Selbst wenn die Herrschaftsverhältnisse hier vor Ort relativ stabil scheinen: Die Widersprüche des Kapitalismus sind auch im „Herzen der Bestie“ wirksam. Diese Risse und Bruchlinien zu erkennen, ihre Dynamik zu verstehen und sie weiter zu vertiefen, ist die Aufgabe einer gesellschaftlichen radikalen Linken. Aus Bruchlinien werden Konfliktfelder, in Konfliktfeldern entstehen dann konkrete Kämpfe, die wir vorantreiben und so weiter-
entwickeln wollen, dass sie über das Bestehende hinausweisen. Die wichtigsten Bruchlinien, die Gelegenheit und Notwendigkeit für politische Intervention und Weiterentwicklung unserer Praxis bieten, werden wir im Folgenden skizzieren.

Falsche Versprechen des Neoliberalismus

Für große Teile der Gesellschaft werden die Versprechen des Neoliberalismus – Freiheit, Selbstverwirklichung, Wohlstand und Konsum – nicht mehr eingelöst. Soziale Garantien und Infrastruktur wurden abgebaut, Hartz IV (jetzt Bürgergeld) eingeführt, gewerkschaftliche Organisierung geschwächt und viele Lebensbereiche durchökonomisiert. Immer mehr Menschen haben immer weniger: weniger Lohn, weniger soziale Sicherheit, weniger Geld für Lebensmittel und Wohnen, weniger gesellschaftliche Teilhabe. Statt sich selbst zu verwirklichen, machen sie Erfahrungen von Abstieg und Entwertung. Sie kämpfen sich mit unsicheren Jobs im Niedriglohnsektor von Krise zu Krise. Vor allem FLINTA* und migrantisierte Personen werden in die Prekarität gedrängt.
Die soziale und räumliche Ungleichheit hat massiv zugenommen. Teure Autos und Luxusquartiere prägen die Innenstädte. Gleichzeitig nehmen Armut und Obdachlosigkeit zu, werden ganze Stadtteile und Regionen abgehängt. Das sind viele Regionen Ostdeutschlands, aber auch westdeutsche Städte und ländliche Gebiete sind von Prekarität und schlechter Infrastruktur geprägt. „Blühende Landschaften“ sind ein leeres Versprechen geblieben – in Ostdeutschland, aber auch anderswo. Kürzungen und Privatisierungen machen die öffentliche Infrastruktur kaputt. Hinzu kommt: Individualisierung, Optimierungsdruck und die Anforderung, sich immer schneller an immer neue Situationen anzupassen, führen bei vielen zu Überforderung und Einsamkeit. Mehr und mehr Menschen haben Sehnsucht nach einem Ausstieg aus der Beschleunigungsdynamik und nach mehr Gemeinschaftlichkeit.

Mehr Gleichberechtigung und mehr persönliche Freiheit waren die Versprechen des Neoliberalismus. Es gab auch Schritte der Liberalisierung und der Anerkennung unterschiedlicher Lebensentwürfe, es gab Maßnahmen für mehr Gleichstellung der Geschlechter. Doch erleben Menschen jeden Tag, dass es mehr Sichtbarkeit und Diversität nur gibt, wenn es in die ökonomische Logik passt. Neoliberale Anerkennungspolitiken heben soziale Ungleichheit und Unterdrückung nicht auf. Patriarchale, queer- und transfeindliche Gewalt und Feminizide gehen weiter, genauso wie rechte und rassistische Morde.

Nicht einmal mit Blick auf seinen harten ideologischen Kern, die Funktionsweise von Ökonomie, Staat und öffentlichen Finanzen, kann der Neoliberalismus seine Versprechen in Zeiten permanenter Krisen halten. Egal ob Corona-Hilfen, Energiekrise oder die notwendigen Investitionen in den Klimaschutz: Der Staat benötigt deutlich größere Haushaltsmittel, als er laut Schuldenbremse und der jahrzehntelang gepredigten Austeritätspolitik ausgeben dürfte. Dies führt nicht nur zu handfesten Konflikten innerhalb der Herrschenden. Wenn für die „Sondervermögen“ zur Aufrüstung oder Wirtschaftsstabilisierung ein Fingerschnipsen ausreicht, um astronomische Summen wie aus dem Nichts zu mobilisieren, wirkt es nicht länger glaubwürdig, dass für soziale und gesellschaftliche Bedürfnisse angeblich kein Geld da ist.

Das untergräbt die Zustimmung zur neoliberalen Herrschaft. Damit bieten sich vielfältige Ausgangspunkte für eine linke Klassenpolitik, die für gesellschaftliche Solidarität, soziale Sicherheit und eine tatsächliche Realisierung von Entfaltungsmöglichkeiten eintritt und bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse offensiv angreift.

Kämpfe um soziale Reproduktion

Soziale Reproduktion meint alle die Tätigkeiten und Bereiche, die notwendig sind, um menschliches Leben und die menschliche Arbeitskraft als Grundlage kapitalistischer Produktion wiederherzustellen. Die Organisation der sozialen Reproduktion ist eng verflochten mit den hegemonialen Lebens- und Beziehungsweisen – und damit insbesondere mit den herrschenden Geschlechterverhältnissen. Uns alle betrifft das fundamental im Alltag: Es geht um Essen und Trinken, um Wohnen, um Krankheit und Genesung, um Pflege und Betreuung, um Kümmern, um Energie und Mobilität, um Bildung und Ausbildung. Es sind Fragen von Leben und Überleben.

Diese soziale Reproduktion ist unübersehbar in der Krise, seit neoliberale Politiken die Kapitalverwertung in immer mehr Bereichen des Lebens und der öffentlichen Infrastruktur vorantreiben. Soziale Einrichtungen, wie etwa Kitas, Krankenhäuser oder Altenheime, sind immer mehr von Ökonomisierung und Privatisierung betroffen. Das Fallpauschalensystem in Krankenhäusern ist ein bekanntes Beispiel. Es führt zu einer Verschlechterung der Versorgung und erhöht den Druck auf die Beschäftigten. Und diese sind zahlreich: Schon jetzt arbeitet fast ein Sechstel der Beschäftigten in Deutschland im Gesundheitswesen.

Die gesellschaftlich notwendige Sorgearbeit bleibt patriarchal organisiert. Allen feministischen Kämpfen der letzten Jahrzehnte mit ihren unbestreitbaren Erfolgen zum Trotz: Die unentlohnte Sorgearbeit im Alltag wird noch immer überwiegend von weiblich sozialisierten Personen erbracht – oft als Doppelbelastung zusätzlich zur Lohnarbeit. Wer es sich leisten kann, lagert die vielfachen Belastungen des Alltags aus an andere, oft prekarisierte Migrant*innen. Damit verschieben sich die Probleme jedoch nur zwischen den Klassen, denn die eigene Reproduktionsarbeit der Sorgearbeiter*innen in ihren Familien und in ihren Herkunftsländern verschwindet nicht.

Gegen diese Zustände regt sich Widerstand. So hat die Krankenhausbewegung der letzten Jahre wichtige Erneuerungsimpulse für gewerkschaftliche Arbeitskämpfe gesetzt. Der Kampf um die Arbeitsbedingungen und die Entlohnung der Pflegekräfte richtet sich gegen die kapitalistische Verwertung von Sorgearbeit und gegen die massiven Lücken in der Finanzierung von Gesundheitsversorgung und Pflege. Er ist zugleich ein feministischer Kampf. Die Beschäftigten haben sich organisiert, neue Formen der Selbstermächtigung entwickelt und Perspektiven der Vergesellschaftung eröffnet. Kämpfe in diesem Bereich haben stets das Potenzial, über die unmittelbaren Forderungen hinauszugehen. Das macht sie zu Bruchstellen, an denen nicht nur die Arbeitsbedingungen einer Branche, sondern die gesellschaftliche Organisation als Ganzes infrage gestellt werden kann.

In den 8.-März-Streiks werden diese neuen Kämpfe gegen die Ausbeutung von Sorgearbeit mit der allgemeinen feministischen Kritik an der heteronormativen Kleinfamilie, an der vergeschlechtlichten Arbeitsteilung und an patriarchaler und queerfeindlicher Gewalt verbunden. Der gemeinsame Nenner besteht darin, die männliche Herrschaft insgesamt, also die gesamte patriarchal-kapitalistische Gesellschaftsordnung, infrage zu stellen. Leider konnte der feministische Streik, der in Argentinien und Spanien Millionen bewegt und organisiert hat, in Deutschland bislang nur in Ansätzen umgesetzt werden.

Die Krise der sozialen Reproduktion zeigt sich auch in anderen Bereichen der sozialen Infrastruktur, etwa im steigenden Verwertungsdruck bei Wohnraum, Lebensmitteln, Wasser- und Energieversorgung. Wir alle spüren dies in Form explodierender Mieten, den gestiegenen Kosten für Energie oder Lebensmittel und der zunehmenden Verdrängung aus den Innenstädten. Dadurch wuchs die Beteiligung an mietenpolitischen Kämpfen, vor allem in Berlin und anderen Großstädten. Die Forderung nach öffentlichem Eigentum und basisdemokratischer Verwaltung von Wohnraum, also nach Enteignung und Vergesellschaftung, findet breite Unterstützung bis hin zur Mehrheitsfähigkeit. Diese konkrete antikapitalistische Perspektive der Vergesellschaftung wollen wir in Zukunft auch in die Auseinandersetzungen um Energie- und Wasserversorgung übertragen.

Kämpfe in der Klimakrise

Die Klimakrise ist nicht mehr abstrakt, nicht mehr auf den Globalen Süden beschränkt, sondern auch hierzulande direkt spürbar. In den Hitzesommern wird der Zugang zu kühlem Wohnraum gerade für alte Menschen zu einer existenziellen Frage. Dürreperioden lassen Energie und Wasser knapp werden. Extremwetter und Fluten fordern auch in Europa immer mehr Opfer. Die Gefahr von Pandemien und neuen Krankheitserregern nimmt zu. Inzwischen steht die Klimakrise im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Das betrifft die beginnenden Verteilungskämpfe der Klimaanpassung, aber mehr noch den Kampf für den notwendigen radikalen Umbau von Ökonomie und Infrastruktur. Dieser wird ein zentrales Kampffeld der nächsten Jahre und Jahrzehnte sein.

Die Gesellschaft, ja selbst die Individuen sind gespalten. Ein großer Teil der Gesellschaft befürwortet grundsätzlich eine konsequente Bekämpfung der Klimakrise, wie unter anderem die Massendemonstrationen von Fridays for Future unter Beweis gestellt haben. Unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen gerät diese Position aber in Konkurrenz zu sozialen Interessen und stellt die Fortsetzung der etablierten Lebensweise infrage. Wer trägt die Kosten für die Dämmung von Gebäuden oder den Ersatz von Gas- und Ölheizungen durch Wärmepumpen oder Fernwärme? Können Busse und Bahnen unsere Mobilität sicherstellen, wenn das private Auto verschwinden muss? Kann der Gewinn an Zeit und Lebensqualität den Verlust an Konsumgütern aufwiegen? Diese Fragen stellen sich noch verschärft für die Beschäftigten in den fossilen Industrien, also z.B. in der Automobilproduktion und der Zuliefererindustrie. Viele ihrer Arbeitsplätze werden in einem ökologischen Strukturwandel unvermeidlich wegfallen. Gerade weil diese Jobs bisher überdurchschnittlich gut bezahlt und sicher waren, haben die Abstiegsängste der hier Beschäftigten eine reale Basis.

Eine gesellschaftliche Massenbewegung gegen die kapitalistische Klimazerstörung ist dennoch möglich. Dafür braucht es eine klassenkämpferische Zuspitzung, die die Verursacher*innen und Hauptverantwortlichen für die Klimakrise angreift. Anstatt die notwendige ökologische Konversion und Arbeitsplatzverluste im industriellen Sektor zu verweigern, müssen wir fordern und durchsetzen, dass die Kosten dafür vom fossilen Kapital und den Reichen getragen werden.

Es gibt nicht nur die Ängste vor Abstieg und Veränderung, sondern genauso ein Begehren nach einer anderen Lebensweise. Viele wünschen sich Straßen und Städte, die nicht von Autos verstopft und ihren Abgasen vergiftet werden. Sie wollen ihre Arbeitszeit verkürzen, um selbstbestimmte Sorgearbeit leisten zu können, um Gemeinschaftlichkeit zu erleben und ihr Leben zu entschleunigen. Daraus kann eine alternative Idee vom guten Leben entwickelt werden. Eine solche radikale sozial-ökologische Transformation knüpft an den längerfristigen Interessen der Mehrheit der Menschen an. Aber dieser gesellschaftliche Gegenentwurf ist kein Wohlfühlprogramm: Angesichts der Klimakrise erfordert seine Durchsetzung die antagonistische Zuspitzung des Kampfes gegen das fossile Kapital und seine politischen Verbündeten. Eine lebenswerte Zukunft wird uns nicht geschenkt werden.

Migration, Grenzregime und (Anti-)Rassismus

Der globale Kapitalismus und seine imperiale Weltordnung beruhen seit Jahrhunderten auf der Ausplünderung und Unterwerfung der Menschen im Globalen Süden. Ihre Lebensgrundlagen wurden dabei systematisch untergraben und zerstört. Die permanenten Krisen der Gegenwart – allen voran die Klimakrise, aber auch die Zunahme geopolitischer Konflikte und Kriege – verschärfen diese Situation nochmals. Millionen sind auf der Flucht, globale und regionale Migrationsbewegungen nehmen zu. Doch die Menschen, die auf oft lebensgefährlichen Wegen Grenzen überwinden, sind nicht nur Opfer: Indem sie um ihre Teilhabe am globalen gesellschaftlichen Reichtum und um ihr Recht auf ein sicheres Leben kämpfen, stellen die Bewegungen der Migration die bestehende Ordnung praktisch infrage.

Die eskalierende, oft tödliche Gewalt an den Grenzen Europas soll diese falsche Ordnung und die ungleiche Verteilung des Reichtums verteidigen. Aber die kapitalistische Wirtschaft der Länder des Nordens ist auf immer neue Arbeitskräfte angewiesen. Im Ergebnis entsteht ein komplexes und widersprüchliches System von Abschottung, Entrechtung, Kontrolle und Ausbeutung, das maßgeblich entlang rassistischer Kategorien organisiert ist. Gleichzeitig ist Migration die „Mutter aller Gesellschaften“ und die Einwanderungsgesellschaft auch in Deutschland eine Realität, die nicht mehr geleugnet werden kann. Daraus sind hierzulande mindestens zwei Konfliktfelder entstanden, auf denen Risse und Bruchlinien der Herrschaft sichtbar werden.
Erstens führt der Ausbau der Festung Europa – von Frontex bis hin zum Abschiebeknast vor der eigenen Haustür – dazu, dass sich das politische Spektrum neu sortiert. Links­liberale und vermeintlich progressive Parteien und Akteur*innen übernehmen immer mehr rechte Positionen und setzen sie praktisch um. Gerade hier klafft zwischen der humanistischen Rhetorik und der Realität der Entmenschlichung an den Grenzen ein riesiger Widerspruch. Diese Politik baut auf einem Angstbündnis mit großen Teilen der Mehrheitsbevölkerung auf. Viele Menschen glauben irrtümlich, die Abwehr von Migration könne drohende Einschränkungen des eigenen Lebensstandards abmildern – und nehmen für diese Illusion der eigenen Sicherheit und des eigenen Wohlstands die Gewalt gegen die „Anderen“ und ihren Tod billigend in Kauf. Oft scheinen die Verteidiger*innen der universellen Gültigkeit von Menschenrechten und des Rechts auf globale Bewegungsfreiheit demgegenüber in der Minderheit zu sein. Doch diese Aufteilung ist weder eindeutig noch stabil. Es gibt Chancen für neue Allianzen und neue Kämpfe. Wir wollen sie offensiv führen – gemeinsam mit allen, die sich von der Doppelmoral „westlicher“, „europäischer“ oder „grüner“ Werte entfremdet haben, die sich lokal gegen Abschiebung und Entrechtung einsetzen oder die sich als betroffene Geflüchtete selbst organisiert haben. Sie alle sind bereit für den Konflikt mit der Festung Europa.

Zweitens ist es der gesellschaftliche Rassismus selbst, der immer neue Widersprüche, Konflikt­felder und Kämpfe entstehen lässt. Ob institutioneller Rassismus auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, rassistische Polizeigewalt, rechte Hetze in den Medien, Übergriffe und Anschläge oder der ganz alltägliche Rassismus: Zuschreibungen, Diskriminierungen, Ausschluss, Bedrohung und Gewalt bleiben für viele Menschen hierzulande Alltag. Daran hat auch die öffentliche Bestürzung nach den tödlichen Angriffen von Hanau nichts geändert. Die weiße Dominanzgesellschaft und ihre Parteien machen die Einwander*innen, die Bewohner*innen der migrantisch geprägten Viertel der Großstädte und/oder die Muslim*innen für alle gesellschaftliche Probleme verantwortlich.

Gleichzeitig würde die gesellschaftliche Produktion und Reproduktion hierzulande ohne die Arbeit migrantisierter Arbeiter*innen zusammenbrechen. Sei es in der Pflege, Landwirtschaft, Logistik oder der aufstrebenden Plattform-Ökonomie: Gerade in diesen Bereichen mit hoher Arbeitsbelastung und prekären Beschäftigungsverhältnissen ist der Anteil migrantisierter Arbeiter*innen besonders hoch. Es ist kein Zufall, dass gerade in diesen Bereichen der Wirtschaft neue Streik- und Protestformen entstanden sind und sich ein zunehmendes kollektives politisches Selbstbewusstsein von Beschäftigten entwickelt hat. In diesen Auseinandersetzungen überschneiden sich Klassenkämpfe und antirassistische Kämpfe. Hier, genauso wie in den Kämpfen gegen alltäglichen Rassismus und rassistische Gewalt, sehen wir eine weitere Bruchlinie, die es zu vertiefen gilt, indem wir selbstbewusst und kompromisslos gegen Rassismus, Ausbeutung und für eine solidarische Migrationsgesellschaft kämpfen.