Kein Schlussstrich!

Aktionen zum Ende des NSU-Prozesses

Das Ende des NSU-Prozesses steht unmittelbar bevor. Das Urteil, wie immer es ausfallen wird, darf aber nicht das Ende der Aufklärung sein. Was ist mit dem Nazinetzwerk, dass die logistische Unterstützung für den NSU geliefert hat? Welche Konsequenzen hat die Verstrickung des Inlandsgeheimdienstes "Verfassungsschutz" in den rechten Terror? Hört der institutionelle Rassismus bei Polizei und Justiz, der über Jahre die Opfer und Angehörigen des NSU wie Täter_innen behalt hat, jetzt auf?

Aus diesen Gründen sagen wir gemeinsam mit vielen Initiativen und Betroffenen: Kein Schlussstrich!

Kommt zu den vielen Kundgebungen bundesweit am Tag der Urteilsverkündnung und zu den Demos am Samstag danach!

Abend vor der Urteilsverkündung:

  • Köln: Kundgebung am Wallrafplatz ab 17 Uhr

Tag der Urteilsverkündung:

  • München: tba
  • Frankfurt: Hülya Platz, 18 Uhr
  • Leipzig: Hugendubel-Wiese,12:30 Uhr
  • Nürnberg: Zugtreffpunkt zur Demo nach München, HBF-Infopoint 14:30 Uhr
  • Köln: Im Hof der Villa Keupstraße Ecke Genovevastr., ab 13 Uhr
  • Kundgebung mit Programm
  • Berlin: Platz der Luftbrücke, 17 Uhr Kiel: Alfons Jonas Platz, 17 Uhr
  • Hamburg: Alma-Wartenberg-Platz, 18 Uhr
  • Bremen: Goetheplatz, 10 Uhr
  • Karlsruhe: Kirchplatz St.Stephan (Erbprinzen-/Herrenstrasse), 18 Uhr

Samstag nach der Urteilsverkündung

  • München: tba Freiburg: Platz der alten Synagoge, 16 Uhr
  • Hamburg: Hansaplatz, 14 Uhr Göttingen: Wilhelmsplatz, 12 Uhr

 

 

Kein Schlussstrich unter das Kapitel NSU!
Aufklären – Gedenken – Rassismus bekämpfen

 

Nach über fünf Jahren ist der Prozess zum sog. „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) in München zu Ende gegangen. Für die Opfer der dort verhandelten zehn Morde und drei Sprengstoffanschläge, für ihre Angehörigen und auch für uns bleiben auch nach mehr als 400 Verhandlungstagen mehr Fragen als Antworten.
Viele dieser Fragen betreffen die Rolle staatlicher Akteure: Wie tief war der Inlandsgeheimdienst („Verfassungsschutz“) eigentlich in die Machenschaften des NSU-Netzwerks involviert? Bestand der NSU wirklich nur aus drei Personen, die von ihrem engsten Umfeld unterstützt wurden? Wie kam es zur Auswahl der Opfer? Wieso wurden viele Akten aus dem Zusammenhang nach Auffliegen des NSU so eilig vernichtet? Weshalb hat die Nebenklage nie vollen Zugriff auf die Akten erhalten?
Solche und viele weitere Fragen sind weiterhin offen. Das Ende des Prozesses kann somit nicht das Ende der Aufklärung sein. Auch darum sagen wir: Kein Schlussstrich unter das Kapitel NSU!

Aufklärung
Wir wollen wissen, wer außer den im Prozess Angeklagten noch für die Mordserie, die Anschläge und den Terror verantwortlich ist. Die Beschränkung der Bundesanwaltschaft auf das Trio Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe und ihr nächstes Umfeld ignoriert den Netzwerkcharakter des „Nationalsozialistischen Untergrunds“. Der NSU war keine isolierte Zelle aus drei Personen, der NSU war auch mehr als die fünf Angeklagten, die vor dem Oberlandesgericht standen.
Die Nebenklage hat dies deutlich dargelegt. Ohne militante Nazi-Strukturen wie „Blood and Honour“, lokale Kameradschaften oder etwa den „Thüringer Heimatschutz“ um den V-Mann Tino Brandt hätte der NSU schwerlich existieren können. Derartige Strukturen gibt es nach wie vor, auch wenn sich ihre Namen ändern. Aufklärungsbemühungen zum Netzwerkcharakter des NSU wurden im Rahmen des Prozesses konsequent unterbunden: Die eng geführte Anklageschrift der Bundesanwaltschaft und die Weigerung, der Nebenklage komplette Akteneinsicht zu gewähren, haben eine Ausweitung der NSU-Ermittlungen auf andere neonazistische Netzwerke verhindert. Dies wäre aber nötig gewesen, um etwas mehr Licht in den Komplex NSU zu bringen.

Der „Verfassungsschutz“: Wohl mehr als nur ein Zaunkönig
Ob dies mit der Involviertheit des Inlandsgeheimdienstes (VS) zu tun hat, kann nur gemutmaßt werden. Klar ist, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz und seine Landesämter u.a. aus Thüringen, Bayern und Hessen in die Mordserie verstrickt waren. Über ihren V-Mann Tino Brandt stattete etwa das Thüringer Landesamt die Neonazi-Szene Anfang der 1990er Jahre großzügig mit Ressourcen aus. Zwischen 100.000 und 200.000 DM flossen in die Kassen der Thüringer Neonazis. Zudem wurden Neonazi-Quellen in Diensten des „Verfassungsschutzes“ vor polizeilichen Maßnahmen wie bevorstehenden Hausdurchsuchungen und Telefonüberwachung gewarnt.
Bereits vor dem Abtauchen des Trios 1998 besaßen die Ämter eigentlich ausreichend Quellen in der Thüringer Neonaziszene, in der sich Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe radikalisierten. Die Behörden wussten um ihre Einstellungen und ihr Gefährlichkeit: Böhnhardt wurde drei Mal rechtskräftig verurteilt, Mundlos hatte sich bei der Bundeswehr als Neonazi geoutet. Beide waren den Ermittlungsbehörden im Zusammenhang mit Bombenattrappen und judenfeindlichen Aktionen aufgefallen. Klar ist auch, dass der VS auch in den folgenden Jahren genug Informationen hatte, um 1 und 1 zusammenzählen zu können und darauf zu kommen, dass die unbekannten Täter der Mordserie und die “untergetauchten Thüringischen Skinheads” etwas miteinander zu tun haben dürften. Auch zeigen hastig geschredderte Akten, V-Männer als Arbeitgeber für die Untergetauchten und die Anwesenheit des V-Mann-Führers Temme, also einen direkten Mitarbeiter des VS, am Tatort eines NSU-Mordes in Kassel, dass hier nicht seriös von ‚Pannen‘ und Unwissenheit des Inlandsgeheimdienstes gesprochen werden kann.
Welche Rolle der Inlandsgeheimdienst im Fall NSU genau spielte, wird vorerst weiter im Dunklen bleiben. Sicher anzunehmen ist nur: Der VS war sehr gut über die Naziszene informiert und über seine V-Personen in diese involviert. Auch im direkten Umfeld des NSU tummelten sich zahlreiche V-Personen.
Ziel des VS war es offenbar vor allem, die Gefährlichkeit der extrem rechten Gruppierungen für den Staat einzuschätzen. Diesem Interesse wurden scheinbar alles andere, inklusive Straftaten gegen “Ausländer”, Linke und weitere untergeordnet. Da die vom VS unterwanderten Organisationen nach behördlicher Einschätzung dem Staat nicht gefährlich werden konnten, war es für staatliche Stellen auch folgerichtig, über Zahlungen an V-Leute Geld in diese Strukturen zu stecken. Diese wurden damit gegenüber anderen Organisationen gestärkt und erhielten weiteren Zulauf. V-Leute in Führungspositionen solcher Organisationen zu haben, verbessert nach solch einer Lesart die Beobachtungsmöglichkeiten eines Geheimdienstes.
Diese teuer erkauften V-Leute wurden um jeden Preis durch die Behörden geschützt. Entsprechende Auskunftsersuchen der Nebenklage wurden konsequent abgewiesen. Es darf hierbei auch durchaus vermutet werden, dass öffentlich verfügbare Belege zur Beteiligung von V-Personen in den NSU-Komplex und andere Neonazi-Netzwerke dem Inlandsgeheimdienst nachdrücklich geschadet hätten. Die Vernichtung zahlreicher Akten aus diesem Zusammenhang scheint dies nur noch zu bestätigen.
Der NSU-Skandal hat überdeutlich gemacht, dass insbesondere das V-Leute-System des Inlandsgeheimdienstes neonazistische Strukturen in Deutschland systematisch begünstigt, geschützt und gestärkt hat. Der „Verfassungsschutz“ ist in Sachen „Rechtsterrorismus“ nicht Teil der Lösung, sondern erheblicher Teil des Problems. Der „Verfassungsschutz“ war und ist über das V-Leute-System tief in die Entwicklung der Neonaziszene und den NSU verstrickt. Die politische Schlussfolgerung muss daher lauten, den „Verfassungsschutz“ abzuschaffen. 

Die Betroffenen erst nehmen
Vor dem Oberlandesgericht München hat ein Opfer des Sprengstoffanschlags in der Kölner Keupstraße ausgesagt, dass er sich seinerzeit nicht traute zur Polizei zu gehen, aus Angst, wie ein Täter behandelt zu werden. Eine begründete Angst, wie sich zeigte. Bis heute bleibt bei den Hinterbliebenen eine tiefe Erschütterung darüber, wie die Behörden bei ihren Ermittlungen vorgegangen sind. Die Opfer der neonazistischen Mordserie wurden im Zuge der Ermittlungen zu Tätern. Die Verwicklung in Rauschgiftgeschäfte oder andere mafiöse Strukturen waren in den Augen der Behörden offensichtlich die einzig für sie denkbaren Motive der Morde.
Die Leben von Enver Şimşek, Süleyman Taşköprü oder Mehmet Kubaşik und die ihrer Angehörigen wurden gleich doppelt zerstört: Als Opfer des Naziterrors und als Opfer eines Ermittlungsapparates und einer Öffentlichkeit, die einen rassistischen Hintergrund der Taten sogleich ausschlossen. Schlimmer noch: Die rassistischen Ressentiments bei Polizei und Sicherheitsbehörden führten die Ermittlungen ins Nirgendwo. Rassistische Klischees führten dazu, dass sich die fantastischen Erzählungen von mafiösen und kriminellen Verstrickungen der Betroffenen verbreiteten. Das Unwort der „Dönermorde“ steht beispielhaft für solche Zuschreibungen. Institutioneller Rassismus hat somit erheblich dazu beigetragen, die neonazistische Mordserie nicht als solche zu erkennen – trotz entsprechender Vermutungen durch betroffene Migrant*innen. In der Konsequenz konnte auch deshalb der NSU weiter morden.

Es ist somit auch kein Wunder, dass Angehörige vor Gericht aussagten, dass sie die Aussagen der Polizei im NSU Prozess erschüttert haben. Zu hören, welchen Hinweisen die Ermittler damals nicht nachgegangen sind „Und das gerade in Dortmund, einer Hochburg von Neonazis in Deutschland“, sagt Elif Kubaşik, deren Mann in Dortmund ermordet wurde. Dabei sei für sie und ihre Familie Aufklärung von großer Bedeutung gewesen: Warum er? Warum ein Mord in Dortmund? Gab es Helfer in Dortmund? Viele dieser Fragen sind auch für die meisten anderen NSU-Morde nach wie vor unbeantwortet.

Über Rassismus reden
Diesen begründeten Zweifeln muss nachgegangen werden. Aus ihnen müssen politische Konsequenzen gezogen werden. Neben der Abschaffung des Verfassungsschutzes gehört dazu vor allem, institutionellen und gesellschaftlichen Rassismus als Problem zu benennen und zu bekämpfen.
In den Jahren seit Auffliegen des NSU sind wir mit einem aggressiver werdenden Rassismus und Nationalismus konfrontiert: Angriffen auf Geflüchtete finden täglich statt, mit Pegida und dann dem  Bundestagseinzug der AfD gewinnen rassistische und nationalistische Positionen gesellschaftlich an Stärke. Niedrige Aufklärungsquoten bei rechter Gewalt, mangelnder Verfolgungswille der Behörden und die wiederholte Behauptung, es handele sich bei rechten Gewalttätern um „unpolitische Einzeltäter“ zeigen leider, dass das Auffliegen des NSU nicht zu einem notwendigen Umdenken in den Ermittlungsbehörden geführt hat.

Gegen die gesellschaftliche Rechtsentwicklung – für eine solidarische Alternative!
Wir dürfen vor dem Hintergrund des um sich greifenden Nationalismus und Rassismus nicht in eine Schockstarre verfallen, sondern müssen offensiv für solidarische Konzepte des Zusammenlebens eintreten. Für eine Gesellschaft ohne Nationalismus und Rassismus. Für eine Gesellschaft, in der nicht der wirtschaftliche Erfolg, nicht die sexuelle Identität, nicht die Religion, nicht die Herkunft oder der Nachname über den Wert eines Menschen entscheiden. Für eine Gesellschaft, die nicht auf Hierarchie, Ausbeutung und Ausgrenzung gründet, sondern eine ist, in der wir solidarisch und gleich miteinander leben können.

Im Kontext der Urteile zum NSU-Prozess haben wir verschiedene Straßen in unterschiedlichen Städten nach den Opfern der NSU-Mordserie umbenannt. Die meisten dieser umbenannten Straßen waren zuvor nach Personen mit NS-Bezug benannt. Die Umbenennung der Straßen ist nicht nur ein notwendiges Gedenken. Ein Gedenken, das den Angehörigen durch den Rassismus der Ermittlungsbehörden sowie die Vorurteile und der Ignoranz in der Öffentlichkeit verweigert wurde. Die Straßenumbenennung ist auch ein Aufruf, die Strukturen des rechten Terrors in Deutschland und seine Verstrickungen mit deutschen Sicherheitsbehörden endlich aufzuklären und Rassismus als gesellschaftliches Problem ernst zu nehmen.

Beteiligt Euch an den Kundgebungen und Demonstrationen zum Ende des NSU-Prozesses!

  • Den Inlandsgeheimdienst („Verfassungsschutz“) abschaffen!
  • Gemeinsam gegen Faschismus und Rassismus!
  • Kein Schlussstrich unter das Kapitel NSU!