Politische Erfahrung kann man nicht wie einen Fußball abgeben

Mit der Gründung der IL Berlin geht die Frage einher, wie sich große Ortsgruppen organisieren und Politik machen

Dokumentiert aus der August-Ausgabe 2015 der ak - analyse & kritik:

Im Mai 2015 hat sich die Interventionistische Linke (IL) Berlin gegründet. Zwei große Gruppe (Avanti Berlin, Für eine linke Strömung, kurz FelS) gingen in ihr auf, ebenso ein Teil der zuvor aufgelösten Antifaschistischen Linken Berlin (ALB). Mit der IL Berlin assoziiert ist auch die Berliner Ortsgruppe von Libertad!. An dieser Gründung wäre wenig Aufregendes - schließlich gibt es inzwischen in über 20 Städten IL-Gruppen -, wenn damit nicht die größte Ortsgruppe der radikalen Linken im deutschsprachigen Raum entstanden wäre. Allein schon aus diesem Grund ergeben sich viele Fragen, die all jene angehen, die darauf setzen, dass ihre Organisationen größer werden, ohne zu einer hierarchischen oder verbürokratisierten Gruppe oder gar Partei zu werden.

Interview: Ingo Stützle

Während in einigen Texten und Interviews erklärt wurde, warum der Schritt zur IL Berlin politisch und strategisch wichtig ist, gab es bisher kaum eine Auseinandersetzung darüber, was ein solcher Schritt organisationspolitisch bedeutet. Über einige Fragen sprach ak mit vier Genossinnen von der IL Berlin.

Könnt ihr euch kurz vorstellen?

Anja: Ich war lange in der ALB und kenne bereits einige Organisierungsversuche, von der Antifaschistischen Aktion/Bundesweite Organisation, der AA/BO, die es zwischen 1992 und 2001 gab, bis zu ACT!, einem Aktionsnetzwerk mehrerer Berliner Gruppen, das 2004 gegründet wurde, aber schon bald einschlief. Jetzt bin in der IL-AG, die sich mit dem NSU-VS-Komplex beschäftigt.

Julia: Ich bin Anfang 2013 zur IL gekommen und war zuvor in SDS-Zusammenhängen, dem Studierendenverband der Linkspartei, und arbeite jetzt in der IL-AG Gesundheit, vor allem zu den Auseinandersetzungen in der Charité.

Tine: Ich bin vor drei Jahren zu FelS gegangen.

Julia: Ach ja, ich auch zu FelS.

Tine: Ich bin in der Krisen-AG aktiv, also quasi von Beginn an in der IL, weil die AG ein Gemeinschaftsprojekt ist. Ich habe davor bei attac Politik gemacht - und fand es dort mitunter sehr anstrengend. Ich war dort im Koordinierungskreis. attac hat 25.000 zahlende Mitglieder, und nur ein überschaubarerer Kreis verfügt über große Ressourcen, kann Lieblingsprojekte durchsetzen. Ich bin dann zu FelS mit der Perspektive, dass es die IL gibt, also einen größeren Kontext, in dem sich Linksradikale organisieren.

Ich engagiere mich zudem in einer Poliklinik-Gruppe, die von der IL unabhängig ist, aber sich mit ihr vernetzt. Die Gruppe versucht, ein Sozial- und Gesundheitszentrum im Kiez aufzubauen. Das Projekt wäre ein gutes Beispiel für ein offenes Praxisfeld der IL, wie ich und andere es bezeichnen.

Anna: Was aber noch keine offizielle Bezeichnung ist!

Ich bin seit etwa vier Jahren in Berlin und war davor in der Marburger IL-Gruppe d.i.s.s.i.d.e.n.t. In Berlin habe ich mich zunächst bei Avanti organisiert. Die letzten Jahre habe ich mich vor allem in die Krisen-AG eingebracht - möglichst mit europäischer Perspektive.

Anja: Mir ist noch eingefallen, dass ich ja schon sehr lange bei der IL bzw. dem Beratungstreffen bin, also schon vor Heiligendamm 2007. Für mich ist »das Neue« also gar nicht so neu. Für mich ist die IL, ob mit oder ohne diesen Namen, schon lange mein politischer Zusammenhang.

Julia: Ich bin von Anfang an auf die IL-Gesamttreffen gefahren, weil die IL der Rahmen ist - oder sein sollte -, der versucht, die strategischen Punkte für gesellschaftliche Veränderung zu identifizieren. Das ist sicher eine andere Perspektive als etwa die, nur von einer AG-Praxis in einer Gruppe her zu denken. Auch wenn diese Perspektive für die strategische und gesellschaftliche Einschätzung eine zentrale Voraussetzung ist. Weil ich mit dieser Perspektive zu FelS gegangen und gleich in eine IL-AG eingestiegen bin, habe ich wohl auch vergessen zu sagen, in welcher Gruppe ich war.

Anna: Ich finde interessant, dass du es vergessen hast. Das ist ja eine unserer Herausforderungen: unsere Identitäten aufzulösen. Wir haben eine lange Debatte hinter uns, aber jetzt geht es darum, die Fusion konkret umzusetzen, an einer kollektiven Sozialität und Politik zu arbeiten. Mit 150 Leuten sind Vollversammlungen eben schwer und Entscheidungsprozesse auch.

Ist es für euch wichtig, wie sich die Gruppe selbst organisiert? Ist das Teil der Politik? Man will keine Partei sein, aber eben auch keine autonome Kleingruppe mehr...

Anja: Inzwischen haben wir ein paar Vereinbarungen getroffen. Natürlich müssen wir immer wieder Debatten führen, die Arbeitsweise anpassen. Ich war z.B. hinsichtlich der Etablierung eines IL-Rats in Berlin zunächst skeptisch. Mir war unklar, ob er vorpreschen wird, wie dort repräsentiert wird.

Nach außen sollten die IL-Strukturen und -Prozesse in jedem Fall transparent sein. Gerade für Leute, die an die IL andocken wollen. Hier finde ich eine Öffnung wichtig. Die IL sollte eine Anlaufstelle für diejenigen werden, die in Berlin eine politische Heimat suchen. Dabei sollten wir nicht erwarten, dass alle gleichviel Arbeit und Energie einbringen, aber den organisierten Rahmen wichtig finden. Wenn etwa eine Gruppe regelmäßig Theorieveranstaltungen macht und alleine so vor sich hin arbeitet, fände ich es schön, wenn dann eine Kooperation möglich wäre.

Tine: Als langfristige Perspektive finde ich das auch gut. Hier passt die Idee meiner Poliklinik-Gruppe, ein Kiez-Gesundheitszentrum aufzubauen, wo es eine Form lokaler sozialer Basisarbeit gibt, aber eben eine Anbindung an politische Strukturen gewünscht ist, damit man handlungsfähig ist. Etwa wenn man für eine drohende Zwangsräumung Hilfe braucht.

Die noch spürbaren Pole innerhalb der IL Berlin werden schon dadurch kleiner, dass neue Leute dazustoßen. Zum Teil sind Muster aber auch auf Einzelpersonen zurückzuführen, die über Jahre eine bestimmte Rolle in den Gruppen hatten - die brechen jetzt eben auf. Die theoretisch benennbaren Widersprüche lösen sich eben doch erst in einer gemeinsamen Arbeitsweise auf.

Julia: Ich weiß nicht, ob es gut ist, die Diskussion entlang Struktur versus Praxis zu führen. In einer derart großen Gruppe können wir Kinderbetreuung oder Übersetzung auf VVs stemmen. Das ist wichtig, denn es gibt strukturelle Gründe, warum Menschen nicht politisch aktiv werden können. Aber diese sind in vielen Fällen auch nicht nur durch die Gruppe selbst zu bearbeiten, sondern natürlich auch nur durch eine Verschiebung von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen. Und darüber hinaus gibt es natürlich noch kulturelle oder identitäre Hindernisse, die durch unsere Gruppenstruktur nicht aufgehoben werden, sondern sich erst mit einer anderen Form der Praxis auflösen. Deshalb finde ich die offenen Praxisfelder oder »ausfransenden Ränder« der Gruppenarbeit wichtig. Es geht darum, durch eine andere Praxis attraktiv zu werden für Menschen mit den vielfältigen Widersprüchen, in denen sie sich bewegen. Eben weil unsere Politik einen praktischen Vorschlag entwickelt, wie diese Widersprüche zu bearbeiten sind. Im Bereich der Gesundheitspolitik können wir derzeit einen wichtigen Punkt machen: Wir bringen eine feministische Perspektive ein und die Frage, wie man den Konflikt an der Charité gesellschaftspolitisch verallgemeinern kann. Aber ich glaube, dass die IL keine attraktive Gruppe für diejenigen ist, die in diesem Feld derzeit aktiv sind. Daran müssen wir langfristig eben auch arbeiten. Das ist eine Voraussetzung dafür, dass wir eine gesellschaftlich verankerte radikale Linke sein können.

Anna: Für mich sind die Fragen der Organisierung radikaldemokratische Fragen, und deshalb ist es in jedem Fall ein »Politikum«. Wir wollen ja kein Puzzle aus den verschiedenen Gruppen, sondern etwas gemeinsames Neues entwickeln. Deshalb bin ich auch sehr gespannt, wie wir das alles diskutieren und umsetzen. Die Praxisfelder sind zwar wichtig, aber wenn wir nicht einfach ein Netzwerk sein wollen, ist etwa die Frage sehr wichtig, wer wird wie aufgenommen, wer ist Mitglied? Auch das ist eine politische Frage und auch Teil der Praxis. Wie also arbeiten wir an einer politischen Reproduktionsweise, wie befähigen wir uns, politisch zu arbeiten? Zudem müssen wir gemeinsame Positionen erarbeiten. Ich finde es gut, wenn über konkrete Projekte viele Leute zu uns kommen; ich fände es aber problematisch, wenn schwarmgleich viele Menschen zu uns stoßen und wir sie nicht einbinden können. Oder schlimmer: wir als IL Berlin keine gemeinsamen Positionen mehr entwickeln können. Dieses Spannungsfeld ist mir in den letzten Jahren im Süden Europas in ähnlicher Form begegnet. In vielen Ländern stand in den Bewegungen der Horizontalismus im Zentrum der Organisierung - bei der gleichzeitigen Fähigkeit, handlungsfähig zu sein. Damit sind weitere Fragen verbunden: Wer repräsentiert uns? Wer spricht für uns? Wie wollen wir Entscheidungen treffen?

Tine: Ich finde auch zentral, dass es möglich ist, einerseits die praktische Arbeit zu haben und gleichzeitig Räume zu organisieren, in denen wir strategisch diskutieren. Es soll ja nicht beliebig werden, sondern wir wollen eine verbindliche Politik, mit einer gemeinsamen Strategiebestimmung. Dafür bedarf es eines politischen Ortes. Da experimentieren wir derzeit anhand des VV-Modells.

Julia: Es sind ja zwei Ebenen. Die Demokratie nach innen und die nach außen. Klar brauchen wir nach innen verbindliche Strukturen, in denen wir uns organisieren und strategische Debatten führen. Die Idee der »ausfransenden Ränder« besteht für mich jedoch nicht darin, dass bereits existierende Gruppen bei uns andocken. Zentral ist für mich, dass wir in bestimmten thematischen Feldern aktiv sind - gemeinsam mit anderen Menschen. Wir wissen ja, dass Bewegungswellen kommen und gehen, und nach einem »Up« organisieren sich eben nicht alle in irgendwelchen Gruppen. Für mich ist die Frage: Schafft man es, in den Auseinandersetzungen Voraussetzung für Verankerungen in dem Sinne zu schaffen, dass ein Vertrauen bei den Leuten entsteht? Können wir sinnvolle Angebote machen? Intern können wir ja Erfahrungen auswerten, speichern und weitergeben. Mit dem herzustellenden Vertrauen soll uns keine autoritäre Rolle zufallen, sondern eine legitime Sprechposition, um zu einem späteren Zeitpunkt auch Leute mitnehmen zu können, und gemeinsame Auseinandersetzungen zu führen. Was eben nicht bedeutet, dass sich alle in der IL organisieren müssen. Es bedarf aber einer Verankerung in dem Sinne, dass sie etwas mit der IL verbinden, ein Vertrauen haben, dass die IL ein Raum ist, in dem derartige Fragen gemeinsam diskutiert werden, der demokratisch damit umgeht und eben nicht taktisch. Das heißt, dass wir Vorschläge entwickeln, die wir aber gemeinsam in den Auseinandersetzungen mit allen zur Diskussion stellen, um eine wirklich gemeinsame Perspektive zu erarbeiten.

Tine: Hier liegt auch der Schlüssel für eine kontinuierliche Arbeit - Beispiel Blockupy. Wir haben es über Jahren geschafft, zum Thema Krise zu arbeiten, obwohl es zwischendurch out war. Blockupy wurde als Kampagne geringgeschätzt. In der jetzigen Situation sind wir nun gut aufgestellt. Wir sind transnational gut vernetzt, einige von uns sind derzeit in Athen. Wir haben es geschafft, über die Zeit einen Akteur zu etablieren. Wir konnten ein paar Punkte machen, etwa die EZB als Krisenakteur zu setzen. Nicht in der gewünschten Breite, aber eben doch in einer kritischen Öffentlichkeit.

Ist die IL Berlin mehr als die Summe der AGs? Was ist das Gemeinsame? Wo wird es hergestellt?

Anja: Das Spannungsfeld zwischen Gesamtgruppe und AGs, Basisdemokratie und Hierarchie wird es immer geben. Auf der einen Seite hatten wir schon das Beispiel attac, mit vielen zahlenden Mitgliedern und ein paar Quasi-Hauptamtlichen. Auf der anderen Seite gibt es die Gruppen, die radikal auf Horizontalität und Basisdemokratie setzen. Naomi Klein geht in ihrem Buch »Klima vs Kapitalismus« zu Beginn kurz auf Occupy-Wall-Street ein und meint, dass die dort gelebte Basisdemokratie ja ganz schön war, dass man aber auch mal etwas organisieren müsse. Diese Kritik fand ich schon bemerkenswert. Es gibt demnach also auch die Erfahrung, dass scheinbare radikale Basisdemokratie nur tatsächliche Hierarchien verkleistert.

Es können ja auch nicht alle alles jederzeit machen. Ebenso können auch nicht alle immer alles wissen - was eigentlich die Voraussetzung dafür wäre, dass man gemeinsam Entscheidungen treffen kann. Der IL-Rat kann hier vermitteln und ist deshalb so zusammengesetzt, dass die AGs repräsentiert werden. Trotzdem ist auch hier die Rückkopplung schwierig, allein deshalb, weil die Ratsmitglieder ja ihre AGs verlassen. Die Idee ist nun, dass die Ratsmitglieder unregelmäßig in den AGs berichten wie es im Rat ist, die Meinung zu bestimmten Themen einholen. Das ist eine gute Idee, finde ich.

Es wird auch immer Aktivisten und Aktivistinnen geben, die viel machen und vorpreschen - hier finde ich die Tradition des Vertrauensvorschusses in der IL sehr gut. Aber klar gilt auch, dass man bereit und willens sein muss, sich wieder Legitimität abzuholen. Dann kann es natürlich immer wieder knirschen. Es knirscht auch an verschiedenen internen Diskussionsorten und zwischen einzelnen Leuten. Aber es ist okay, und es müssen eben alle lernen, dass man sich in einer derartig großen Gruppe anders verhält als in einer Kleingruppe. Ständige Platzhirschkämpfe kann man sich nicht leisten.

Anna: Spiegelbildlich findet sich die Debatte auf der europäischen Ebene wieder. Vor eineinhalb Jahren wurde in vielen europäischen Ländern der sogenannte konstituierende Prozess diskutiert, das heißt, dass wir unbedingt horizontalere Formen der Organisierungsformen bräuchten - und gleichzeitig gab es Unmut über viel Unklarheit und das Bedürfnis nach Handlungsfähigkeit. Die beste Möglichkeit, einer drohenden Beliebigkeit zu entgehen, ist, das Gemeinsame zu diskutieren und auch zum Ausdruck zu bringen.

Was ich aus den Bewegungen und Kämpfen aus Südeuropa mitgenommen habe, ist, dass es gemeinsame Orte braucht, einen physischen Ort. Direkte Demokratie wird dann real, wenn man Orte auch selbst verwaltet. Hier entstehen Organisierungswissen und Austausch. Es ist ein ganz eigener Lernprozess. Wer putzt den Laden? Wer macht Tresenschichten? Wer geht auf die Kiezversammlungen? Ich glaube, nur mit derartigen Auseinandersetzungen kommen wir auch in den theoretischen Debatten weiter.

Zum Rat: Ein Genosse im Rat hat gesagt, dass er seine Arbeit gut macht, wenn sie streitbar ist. Einerseits hat der Rat eine Aufgabe bekommen, also eine koordinierende Funktion. Gleichzeitig braucht es eben eine aktive, politisch-strategische Rolle. Ich bin froh, dass die IL Berlin sich für diese doppelte Aufgabenstellung ausgesprochen hat. Die Entscheidungen trifft natürlich die VV, aber wir wollen ja auch kurzfristig zu brennenden Themen handlungsfähig sein, etwa Ohlauer Straße, O-Platz oder Griechenland - und hierfür suchen wir konkret nach undogmatischen Formen.

Eine weitere Frage ist, was wir mit Leuten machen, die keine Zeit mehr haben, die uns eng verbunden sind, sich aber aus den unterschiedlichsten Gründen nicht mehr einbringen können.

Julia: Ich glaube schon, dass es die Gefahr gibt, dass die IL Berlin nach dem Motto »leben und leben lassen« funktioniert. Deshalb hatten wir auch die Idee, dass der IL-Rat stärker als etwa der FelS-Rat versucht, strategische Debatten vorzubereiten. Die IL Berlin soll ja kein einziger ausfransender Rand sein. In den AGs gibt es eben tatsächlich unterschiedliche Einschätzungen und Erfahrungen, wie man gesellschaftliche Veränderungen bewirken kann - und die muss man auch miteinander ins Gespräch bringen. Wir sollten stärker strategische Debatten in dem Sinne führen, dass nicht nur die Gemeinsamkeiten, sondern auch die unterschiedlichen Vorstellungen sichtbar werden. Der Rat kann hier Debatten vorbereiten. Zudem sollte es zwischen den AGs nicht nur einen Wissensaustausch geben, sondern die Praxis sollte verstärkt mit der Frage diskutiert werden, warum die AGs das, was sie machen, so machen, wie sie es machen. Was ist ihre Vorstellung davon, wie man Kräfteverhältnisse verschiebt? Teilen wir die Einschätzung? Wie kann man solche Debatten führen, damit sie Gemeinsamkeiten für uns schaffen? Es bedarf also einer Bewegung von zwei Seiten, von den AGs her und vom Rat, der eben auch die Zeit hat, die Debatten vorzubereiten und Angebote zu machen.

Zum Thema Platzhirsche: Ich habe keine Probleme damit, Vorschläge zu diskutieren. Aber wir sollten aufpassen, dass nicht diejenigen die Platzhirsche sind, die gesellschaftlich privilegiert sind, also Männer, die sich trauen Diskussion zu führen und sich eh einbringen, Leute, die viel Zeit und Erfahrung haben etc. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht gesellschaftliche Ungleichheiten reproduzieren.

Es ist ja eine Sache, wenn die Gesamtgruppe in die AG-Arbeit »reinredet«. Es ist aber eine andere Sache, wenn etwa der Rat in einer zugespitzten Situation vorprescht und eine Position entwickelt. Gibt es vielleicht auch unterschiedliche Toleranzschwellen?

Anja: Wir hatten das bei den ersten BERGIDA-Aufläufen in Berlin. FelS unterschrieb einen Aufruf als FelS - und wir haben uns gewundert, warum wir das nicht als IL Berlin gemacht haben. Die Genossen meinten dann, dass noch keine richtige Rückversicherung stattfand, was meiner Meinung hätte gar nicht sein müssen. Das war eine obervorsichtige Phase. Inzwischen können wir uns gegenseitig mehr mitdenken. Das ist eine tolle Entwicklung! Ich hatte am Anfang die Befürchtung, dass das zu lange dauert.

Es ist ja auch nicht leicht, z.B. planen wir in der AG für das kommende Jahr eine ganztägige Veranstaltung zum NSU. Ein grobes Konzept steht, aber wir wussten gar nicht genau, wann wir das wo einbringen? Als was machen wir das eigentlich? Wir haben ja kein Interesse, das nur als kleine AG zu machen, sondern als IL Berlin, aber: Was sagt die IL zum NSU? Auf den VVs in Berlin sind ja 1.000 andere wichtige Themen. Wann also ist wo der Raum für eine Diskussion, die uns weiterbringt?

Wie geht ihr mit euren eigenen Erfahrungen um? Wie werden sie konserviert, ohne zum Mythos zu erstarren?

Anna: Es gibt ein paar Ideen dazu. Wir versuchen beispielsweise, alle zwei Jahre ein IL-Camp zu machen. Nicht nur, um Zeit miteinander zu verbringen und das Sozialleben zu pflegen, sondern auch, um Diskussionen zu führen, Wissen weiterzugeben. Und ja, wir sind oft sehr geschichtsvergessen. Viele, die neu dazugekommen sind, wissen nicht, was 2008 diskutiert wurde, was warum prägend war.

Ein weiterer Aspekt, der mir wichtig ist, ist, dass sich Universität und Ausbildung verändert haben. Nicht nur inhaltlich. Intellektuelle Reflexion war früher stärker mit der Politik verwoben. Es gab für subversives Wissen, für Vermittlung und Produktion eben noch viel, viel mehr Räume und mehr Zeit. Das macht sich derzeit auch bemerkbar. Wir haben jüngere Studierende in der Gruppe, die eine Fabrik Universität durchlaufen, wie selbst ich sie nicht kannte. Die Veränderung der Hochschule wirkt auch auf uns zurück, betrifft unsere kollektive Intelligenz, und wir müssen einen verantwortlichen Umgang damit finden.

Julia: Zum anderen brauchen wir einen gemeinsamen Ort, um die gemeinsame Strategiedebatte zu führen und wo zugleich die Erfahrungen eingebracht und vergemeinschaftet werden können. Es wäre ein Ort, wo man sich Wissen kollektiv aneignet. Ich glaube, Wissen generiert man nicht nur durch Theoriebüffeln, sondern eben auch dadurch, dass die gemeinsame politische Praxis gemeinsam aufgearbeitet wird, reflektiert wird. Ich muss nicht selbst bei der Blockade des Braunkohleabbaus mitmachen, um daraus etwas zu ziehen, wenn die Aktion kollektiv aufbereitet, gemeinsam diskutiert wird. Wenn das gelingt, dann werden wir auch sehr viel Erfahrung und theoretisches Wissen kollektivieren.

Anja: Ich stimme da zu. Gerade bei strategischen Diskussionen fällt mir immer wieder auf, dass ich über den einen oder anderen Punkt ausführlicher sprechen können will, z.B.: Was soll denn der Widerspruch sein zwischen einer Kampagne und Basisarbeit? Der Gegensatz bleibt unproduktiv im Raum, weil man nicht mal strategisch darüber spricht. Das sind Diskussionen, bei denen man die unterschiedlichen Traditionen der drei Gruppen noch merkt, die aber gar nicht mehr so richtig unterfüttert sind.

Am besten klappt Vermittlung von Wissen und Erfahrung, wenn man über einen gewissen Zeitraum etwas gemeinsam macht. Ich kann mich aber auch an eine Veranstaltung erinnern, ich war ganz frisch politisch aktiv, auf der Geronimo sein erstes Buch zu den Autonomen vorstellte. Damals erzählte er, dass es total wichtig sei, Erfahrungen weiterzugeben. Und ich kann mich sehr gut daran erinnern, dass ich ganz spontan dachte: Deine Erfahrungen will ich gar nicht! Ich will meine eigenen machen!

Das habe ich noch immer im Kopf, weshalb ich mich mit dem Punkt schwertue. Erfahrungsweitergabe ohne gesellschaftlichen Kontext ist schwer. Wie kann und soll man Erfahrungen von Anfang der 1990er Jahre rüberbringen? Klar gibt es daran Interesse, das hat auch zugenommen, und man kann ja auch erzählen, aber wie kann der Kontext mitvermittelt werden? In der IL gab es intern schon ab und an Podiumsgespräche zwischen Leuten aus verschiedenen Strukturen und Generationen, da kam viel rüber. Politische Erfahrung kann man nicht abgeben wie einen Fußball.

Es gibt neben der IL Berlin ja noch die Gesamtstruktur. Die IL in Berlin ist aber sicher die größte Gruppe - und ein Experimentierfeld oder Vorbild für den Bund?

Anja: Ich denke eher, dass Berlin in der Entwicklung hintendran ist - in anderen Städten haben sich ja IL-Gruppen gleich als IL gegründet. Ich würde sagen, dass wir in Berlin aufpassen müssen, die Gesamtstruktur nicht zu überlasten oder zu dominieren, also z.B. nicht mit zu vielen Leuten auf den Gesamttreffen aufzulaufen. Es ist immer ein Problem, wie sich Gruppen aus kleineren Städten behaupten können.

Anna: Ich denke schon, dass Berlin da etwas Modell steht. Nicht nur weil die Gespräche zur IL Berlin seit 2007 einen hohen Stellenwert für die IL insgesamt hatten, sondern weil die Probleme - Identitäten ablegen, radikale Demokratie in Großgruppen etc. - uns auf der Gesamtebene durchaus wieder begegnen.

Julia: Ich glaube auch, dass die Fragen, mit denen wir in Berlin konfrontiert sind, auf Gesamtebene zumindest ähnlich sind - nur ist der Spannungsbogen noch größer, etwa zwischen den unterschiedlichen Positionen. Aber auch hier müssen wir ja noch voneinander lernen, die anderen Kontexte kennenlernen. Die IL Wien hat etwa ein sehr gutes Papier geschrieben, wie deren Politik in Wien funktioniert. Es geht ja nicht darum, in allen Städten die gleichen Antworten zu finden, sondern darum, wie man gemeinsam, überregional und eben unter völlig unterschiedlichen Bedingungen gemeinsam Politik machen kann.

In der IL Berlin

sind über 200 Aktive in neun Arbeitsgruppen (AG) organisiert. Mitglied wird man nach einem Aufnahmegespräch, in dem über die Beweggründe gesprochen wird, in der IL mitarbeiten zu wollen, und die Politik der IL sowie die Arbeitsweise der Gruppe vorgestellt werden. Entscheidungen, die die Gesamt-IL, die Ortsgruppe oder zentrale Vorhaben der AGs betreffen, werden auf den monatlichen Vollversammlungen (VV) getroffen. Neben Mehrheitsentscheidungen gibt es sogenannte Stimmungsbilder, um Mehrheitsentscheidungen vorzubereiten. Neben den AGs wurden versuchsweise als weitere meinungsbildende Instanz kleinere VV-Bezugsgruppen gebildet, die die Diskussion auf den VVs erleichtern sollen. Abstimmen darf, wer auf der VV ist - allerdings muss eine Mindestanzahl der Aktiven anwesend sein, damit Beschlüsse verbindlich getroffen werden können. In unregelmäßigen Abständen finden auf Berliner wie auf Gesamt-IL-Ebene Wochenenden oder mehrtägige Camps statt. Neben den thematischen AGs gibt es noch den Rat der IL Berlin. Er bereitet die VVs vor und hat die Gruppe als Ganzes im Blick - nach innen wie nach außen. Der Rat setzt sich gegenwärtig aus Delegierten der einzelnen AGs zusammen, die Mitglieder sind auf der VV gewählt und sollen die Gruppe in ihrer Struktur (inhaltliche Schwerpunkte, Geschlechterverhältnisse etc.) repräsentieren. Bezahlte Stellen kennt die IL nicht, aber bestimmte Aufgaben und sogenannte Reproduktionsarbeiten (Website etc.), die zusätzlich zur AG-Arbeit anfallen, werden in sogenannten Kommissionen wahrgenommen.