Die Fähigkeit, das Wort „Nein“ auszusprechen, ist der erste Schritt zur Freiheit (Nicolas Chamfort)
Vergessen wir Hamburg nicht! Wir sollten uns daran erinnern, dass es in Hamburg die größten antikapitalistischen Proteste in der BRD seit Langem gab. Und trotzdem war es kein Fest der Demokratie, wie Scholz es bezeichnete, sondern ein Gipfel der Repression. Denn was in Hamburg passiert ist, war für die Herrschenden – zumindest für einen Moment – bedrohlich und zwar, weil wir ihre Ordnung, die Ordnung des neoliberalen Kapitalismus, in Frage stellten.
Der Gipfel der Repression
Vor und während des G20 Gipfels in Hamburg hat ein militarisierter Polizeiapparat alles versucht, um Widerstand gegen den Gipfel zu behindern und unmöglich zu machen. Das ist nicht gelungen. Umso wütender die Reaktion des Staates: Hausdurchsuchungen, monatelange Untersuchungshaft für die Teilnahme an einer Demonstration, absurde Strafen. Während immer mehr Lügen der Polizei zutage treten, geht die Repression ungebremst weiter. So zuletzt die öffentliche Denunziation, genannt Öffentlichkeitsfahndung, begeistert aufgenommen von vielen Medien. Mehr Hetze gegen Linke, mehr Repression.
Autoritäre Formierung
Im Klima des politischen Rechtsrucks ist diese Repression in Hamburg kein Einzelfall, sondern Teil einer breiteren politischen Entwicklung. Die Verschärfung der §§113 und 114 des Strafgesetzbuches („Widerstand oder tätlicher Angriff gegen Vollstreckungsbeamte“), Extremismusklauseln, die neueren Vorstöße zur Überwachung der digitalen Kommunikation, das Verbot von linksunten.indymedia.org oder die Repressionen gegen die kurdische Bewegung sind nur einige Beispiele dieser Entwicklung. Die globale autoritäre Formierung – auch dafür ist G20 in Hamburg ein Symbol – ist in den westlichen Metropolen angekommen. Wie konnte geglaubt werden, dass der seit 9/11 anhaltende nich endenden „Krieg gegen den Terrorismus” mit seinem weltweiten Foltersystem und Geheimgefängnissen, der Lizenz zu inzwischen massenhaften gezielten extralegalen Tötungen mittels Drohnenkrieg, nicht auf die hiesigen Gesellschaften durchschlägt und sich reaktionär neu zusammensetzt.
Die Repression gegen alle Formen des sozialen Widerstands und Ungehorsams nimmt zu. Und sie fügt sich ein in ein größeres Puzzle: die Einschränkung des Streikrechts, die weitere Aushöhlung des Rechts auf Asyl, die Sanktionen am Jobcenter sind Beispiele der autoritären Formierung, die seit einigen Jahren an Fahrt gewinnt (und dies nicht nur in Deutschland). Es geht also nicht nur um einige absurde Urteile und verschärfte Strafrechtsparagrafen. Es geht nicht nur um Repression gegen (radikale) Linke und kurdische Aktivist*innen. Es geht um eine Veränderung des gesamten politischen Klimas. In diesem Klima wird selbst soziales und politisches Gesellschaftsengagement, welches mal als Aushängeschild moderner Demokratien galt, unter Generalverdacht und Beobachtung gestellt. Selbstorganisation, Artikulation von Interessen, Menschliches Miteinander, das Sorgen um Andere wird von Seiten des Staates missbilligt. Alles muss unter Kontrolle sein, keine Abweichungen von der Norm. Denn überall wo Menschen sich aus den unteschiedlichsten Motiven selbst organisieren, ist potentielle Widerspenstigkeit da.
More of the same
Die Luft ist kälter geworden in den letzten Jahren, ganz klar. Getrieben von den eigenen Krisen und der extremen Rechten bröckelt die liberale Fassade des Kapitalismus. Gleichzeitig wissen wir als radikale Linke: Gewalt, Autoritarismus, Patriarchat und Rassismus sind nicht Dinge, die dieser Ordnung äußerlich sind. Sie sind integraler Bestandteil des Kapitalismus: einer Gesellschaftsordnung, in der Eigentumsrechte und freier Warenverkehr immer mehr zählen als Menschenleben. Bestandteil einer mörderischen Grundordnung, die in dem Moment, in dem sie angegriffen wird, ihre Absicherung mit den Mitteln der Repression betreibt. Deshalb wissen wir genau, dass aus unserer Hoffnung, unserer Rebellion ihre Repression wird! Das war schon immer so.
Und wir wissen auch: sozialer Fortschritt fällt nicht vom Himmel, er wird erkämpft, von Links. Immer. Deswegen lassen wir uns nicht einschüchtern, wir werden uns nicht verstecken. Gerade jetzt heißt es, die Solidarität zu organisieren, offen und offensiv. Gegen Polizeigewalt und autoritäre Formierung, gegen die Komplizenschaft mit Erdogan und die Festung Europa. Gegen die alltägliche und die grundlegende Gewalt des Kapitalismus.
Und trotzdem wäre ein einfaches: „War doch schon immer so, also Immer weiter so“ unsererseits naiv. Die Fassade, die überhaupt nur auf Grund unserer historischen Kämpfe existiert, die Fassade, die zumindestens einige Freiheits- und Bürgerrechte garantiert, die selbst uns als Linken Möglichkeitsspielräume eröffnet hat wird immer grauer. Für Viele von uns und euch ist das im wahrsten Sinne des Wortes ein Existenzunterschied. Das macht die Qualität der aktuellen Entwicklungen aus. Das sollten wir zur Kenntnis nehmen.
Aufruf zu Aktionen und Ungehorsam
Wenn es jetzt darum geht, die zunehmende Repression gegen die Freiheit auf die Tagesordnung zu setzen, dann müssen wir das auf den unterschiedlichsten Ebenen tun: in der unmittelbaren Solidarität mit denen, die ganz direkt von Repression betroffen sind, in vielfältigen Aktionen, in denen Repression angegriffen wird, in Veranstaltungen, in Texten, in denen wir Gegenöffentlichkeit herstellen und eine breite Debatte anstoßen, um Grundrechte zu verteidigen bzw. zu erkämpfen.
Jede erfolgreiche Blockade von neofaschistischen Demonstrationen, jede Überwindung einer Polizeikette für Klimagerechtigkeit, jedes Aufmucken gegen Rassismus in der Öffentlichkeit, jedes Verlieren der Angst angesichts angedrohter polizeilicher Ermittlungen, das Gradestehen am Arbeitsplatz für Solidarität, das Einstehen für Feminismus, jedes durchgesetze Kirchenasyl, jede antifaschistische Konferenz und besiegter Miethai: All diese Handlungen sollten für uns kein individueller Ungehorsamsakt sein, sondern der politische Widerstand gegen die autoritäre Formierung unserer Gesellschaften und ein Akt für die Erringung unserer kollektiven Freiheit in Solidarität.
Deshalb: Vergessen wir Hamburg nicht! Und vergessen wir all die Orte nicht, die wie Hamburg deutlich machen: Wir sind mit dieser Grundordnung nicht einverstanden, wir sind antikapitalistisch, weil dieser neoliberale Kapitalismus für eine autoritäre Formierung der Gesellschaft steht. Seine Freiheitsversprechen gingen immer nur so weit wie es ihm nützlich war. Wir haben viel zu erkämpfen und viel zu gewinnen. Wir wissen, dass ein Leben jenseits der organisierten Traurigkeit des Kapitalismus möglich ist und weder die AfD, die Groko, die Grünen oder das „Reichsministerium für Heimat“ das letzte Wort in diesem Kampf haben werden.
Beteiligt euch an den lokalen und regionalen Aktionstagen der Solidarität gegen staatliche Repression. Lasst uns dieses Jahr zu einem Festival des Ungehorsams machen. Mit aufrechtem Gang, klarem Blick und einem Lachen für ihre Visagen.
- am 15. März, dem internationalen Aktionstag gegen Polizeibrutalität und rassistische Kontrolle,
- am 17. März, dem europäischen Aktionstag gegen dreckige Flüchtlingsdeals der EU,
- am 18. März, dem bundesdeutschen Aktionstag der Solidarität mit den politischen Gefangenen,
- am 21. März, dem kurdischen Neujahrsfest in Solidarität gegen den Krieg der Türkei gegen Afrin,
- am 20. September, gegen den EU-Sondergipfel zur Inneren Sicherheit in Wien,
- am 29. September, bei der Antirassistischen Parade von We‘ll Come United in Hamburg,
- und alles was noch kommen mag.
Wenn du immer alle Regeln befolgst, verpasst du den ganzen Spaß (Katharine Hepburn)
interventionistische Linke 06.03.2018
Siehe auch den Beitrag zur Geschichte des 18. März - und des Aktionstages auf blog.interventionistische-linke.org "Klassenkampf & Sonnenschein – Im Handgemenge der Ereignisse".