Es braucht eine Linke der Situation statt eine Linke der Themenbereiche. Was ist linksradikale Politik heute?

Eröffnungsrede der Strategiekonferenz der [iL*], Freitag 8. April 2016

- es gilt das gesprochene Wort (hier zur Audio-Datei)- 15 Jahre  ist es her, dass sich die Ersten von uns regelmäßig angefangen haben zu treffen, die dann zur iL wurden, und dann zu dem, was wir jetzt sind. Zeit Resümee zu ziehen.

Wir laden nicht zufällig zu einer Strategiekonferenz ein und auch nicht zufällig zu einer gemeinsamen Diskussion mit unseren Freund_innen, Kritiker_innen, Genoss_innen von hier wie dort.

Die iL steht für eine offene radikal-linke Strömung. Und das ist ernst gemeint. In diesem Sinne diskutieren wir die Fragen, die uns bewegen nicht allein, nicht hinter verschlossenen Türen, wegen Sicherheitsbedenken oder der Sicherheit, das niemand unsere Zweifel und Fehler mitbekommt.
Wir wollen und wünschen uns mit all denjenigen zu diskutieren, unsere Fragen zu wälzen, hin und her zu denken, die mit uns auf der Straße waren und sind, die mit uns eingetreten sind in einen gemeinsamen Prozess, auch wenn wir darin bisweilen sehr unterschiedliche Sachen tun oder Ausdrucksformen wählen.
In diesem Sinne fühlt euch alle willkommen.

Es ist nicht die erste Konferenz die wir so gestalten, sondern die vierte und sie sind konstitutives Moment unserer Haltung, unsere Politik so zu entwickeln: gemeinsam in einem offenen Prozess.
Das ist ein Versprechen, an das wir uns manchmal selbst erinnern müssen.

Seit dem konstituierenden Prozess der iL in Heiligendamm ist viel passiert. Wir haben viele Dinge getan, uns eingemischt, wir haben gewonnen und sind gescheitert.
Wir konnten dabei auf die Erfahrungen und Traditionen, den Wissensschatz und die Einsichten eines wirklich generationsübergreifenden Projektes zurück greifen. Das ist viel wert. Auch wenn zu wenig davon real in der iL aufgehoben ist.
Wir sind in all dem breiter und enger zu gleich geworden. Es sind viele gekommen, zahlreiche geblieben und Einige gegangen.

Nichstdestotrotz sind wir expandiert und bekommen wachsende Bedeutung zugeschrieben. Das heißt auch Verantwortung zu tragen und auch wirklich zu übernehmen, ihr gerecht zu werden. Plötzlich ist es irgendwie von Bedeutung, was wir tun. Mehr als früher, mehr als wir es jemals gewöhnt waren in unseren lokalen Strukturen.
Das darf uns  zu recht freuen, und darf uns gleichzeitig nicht über die gebliebene tatsächliche gesellschaftliche Marginalität hinwegblenden.
Trotzdem gilt die iL als Erfolgsgeschichte.

Und dennoch: Auf eine bestimmte Art und Weise ist das was wir tun und wie wir es tun an ein Ende gelangt. Nicht, weil die Dinge an sich nicht richtig wären, sondern, weil die Dinge, die wir uns wünschen, die wir uns vornehmen, von denen wir wollen, dass sie passieren, von denen wir glauben, das die Zeit für sie reif ist, eine andere Form der Organisierung nötig machen und einen Sprung erfordern, den wir noch nicht gewagt haben.

Diese Einsicht war ein Teil der Motivation für den Zwischenstandsprozess, der zum Ziel hatte, die lokalen Identitäten der Gruppen zur überwinden, zu einem neuen Projekt, einem gemeinsamen Projekt zu werden, mehr als die Summe seiner Teile.
Einen Teil dieses Weges haben wir geschafft.
Und trotzdem haben wir in der Form auf das Bekannte zurück gegriffen, haben uns klassische Strukturen gegeben, und fast anarchronistisch anmutende Organisierungsmodelle gewählt.
Es ist Zeit die routinierte Vereinsorganisationsform des 20. Jahrhunderts zu überwinden und herauszufinden, wie eine tatsächliche politische Organisierung aussehen könnte und muss, damit sie uns und unsere Ideen nicht nur trägt, sondern damit sie uns auch zu denen macht, die wir sein wollen, das sie ein Raum ist, in dem wir uns zur Rebellion erziehen.
Das liegt noch nicht vor.

Denn auch wenn wir uns in Veröffentlichungen gern mit dem Aufstand verschwistern, tut sich, wenn wir ehrlich sind, auch eine Starre auf, wenn er stattfindet. Ein Schwindel vor und in der Geschwindigkeit. Eine Angst der Ratlosigkeit, wie sich dazu ins Verhältnis zu setzen, wie den offenen Raum füllen, wie einen fehlenden programmtischen Entwurf überspringen – Angst, dass es nicht funktionieren könnte, aus uns selbst heraus das Neue zu gebären. Damit einher geht ein latenter Wunsch nach Reduzierung der Ereignisdichte.
Wir werden dazu erzogen, Grenzerfahrungen auszuweichen.
Wir aber müssen sie produzieren und uns in ihnen verhalten.

Denn es wird nicht weniger passieren und wir können froh darüber sein.

Was begonnen hat, ist Ausdruck eines Gährungsprozesses, eines Aufbegehrens nach dem Ende der Traurigkeit, nach einem Leben mit Hoffnung und in Würde. Seien es die Kämpfe der Vorstädte gegen die Ausgrenzung, der Kurd_innen für eine Zukunft, der Geflüchteten auf Gleichheit.

Noch vor 5 Jahren haben wir von den kleinen Rissen gesprochen die es zu vertiefen gilt, mittlerweile haben sich Gräben aufgetan.
Aber wann beginnen unsere Nächte, in denen die Feuer glimmen?  Oder haben sie schon begonnen während wir schlafen?

Wir müssen uns dazu befähigen, der Zeit nicht hinterher zu laufen oder nur zu versuchen das Tempo zu halten.
In gewisser Weise repräsentiert dies die größte Herausforderung und unsere ungelöste Organisierungsfrage, die wir vor zwei Jahren angefangen haben zu diskutieren.

Was wir uns an diesem Wochenende vorgenommen haben, ist nicht weniger, als die grundlegenden Herausforderungen, die die Welt gerade für uns bereit hält, zu diskutieren.
Wir wollen über die Fragen diskutieren, die diese Kämpfe und Niederlagen, die Unterwerfungen, die Rebellionen, unsere Ab- und Anwesenheiten, die Chancen und die verpassten Gelegenheiten nicht nur an die Herrschenden, sondern vorallem auch an uns stellen.
Wir wollen darüber reden, welche Kämpfe am Horizont aufscheinen und wie wir in ihnen kämpfen können und wollen.
Wir wollen und müssen darüber reden, wie wir unsere Seite der Barrikade aufbauen.
Und wie wir uns darin verändern müssen, um zu einer politischen Organisierung zu werden.

Die Herausforderungen liegen auf dem Tisch:

Es gibt den sichtbar gewordenen chauvinistischen Block, der sich aus der Angst der Deklassierten speißt, der grassierende Rechtspopulismus in Freital, Dortmund oder Blankenese. Das Lager der Verängstigten, der Abschottung und des nationalen Protektionismus, die nicht zuletzt in der AfD ein Gesicht bekommen haben. Keine Überraschung, aber ein Problem.

Es gibt die neoliberalistische Durchdeklinierung der Mitte, von Athen bis ins örtliche Krankenhaus, die Diszipilierung auf den Ämtern, Austerität als Normalzustand und das unter Kontrolle halten der sozialen Frage durch Konkurrenz, Vereinzelung und Alternativlosigkeit.

Es sind dieselben, die Europa gegen den national-chauvinistischen Block verteidigen und gleichzeitig im Namen der „europäischen Werte“ die Neustrukturierung der Herrschaft des Grenzregimes exzerzieren. Auch: vor unser aller Augen die Eliminierung jeglicher Dissidenz gegen den Platzwart der Europäischen Union.
Was macht es mit einer Gesellschaft, wenn sie sich hinter Zäunen versteckt? Und was macht es mit uns, einer radikalen Linken in der Metropole, wenn wir einem Krieg zu Absicherung weißer Privilegien zuschauen?

Gleichzeitig toben Kämpfe um die Restrukturierung der Klassenverhältnisse und um die Formen des Gemeinsamen, um die Vorstellungen von Integration und soziale Infrastruktur, die Zurichtung der Körper und die Ausbeutung der Ressourcen. Der wichtigste Klassenkampf unsere Zeit ist der Kampf der Flüchtlinge um Gleichheit.

Die Fragen und Herausforderungen, egal ob sie im Kiez oder am Arbeitsplatz, im Parlament oder auf den Plätzen, im Ereignis oder dem Alltag stattfinden, sind letztlich europäische Fragen an uns.
Wir können nur gewinnen, einen Unterschied machen, wenn wir diesen transnationalen Horizont der Frage in all unseren Auseinandersetzungen aufscheinen lassen.
Nicht zu letzt deswegen freuen wir uns sehr über die rege Teilnahme unserer europäischen Genoss_innen und hoffen in der Auseinandersetzung mit ihnen auch für uns und gemeinsam darin einen Schritt weiter zu kommen, den euro-mediteranen Raum des Widerstand herzustellen.

Und trotzdem bleibt, die Aufgabe als Linke im Zentrum der Herrschaft, in der Metropole eine besondere. Die sich hier noch auftuende Lücke können wir nicht durch die Aktivitäten anderer, sei es der französischen Jugend, der kurdischen Genoss_innen oder der griechischen Solidaritätsnetzwerke auffüllen.

Dabei es ist zu wenig, den Raum für die Kämpfe im Süden offen zu halten, wie wir das mit Blockupy versucht haben. Die Welt ist in Deutschland angekommen, die Kämpfe finden hier statt und müssen auch hier von uns geführt werden.

Wir müssen die Begriffe Solidarität, Repräsentation und Rebellion neu definieren, mit Leben füllen und für uns neu formieren.

Die neuen Gesellschaftlichkeiten und Selbstverständlichkeiten, die zwischen so vielen entstanden sind, ist praktische Selbstermächtigung. Ja, lasst uns diese alltägliche Solidarität aufgreifen, ernst nehmen, weiter führen, davon Teil sein.
Sie haben das Potential, eine radikal demokratische Vorstellung von Gesellschaftlichkeit zu konstituieren. Und auch wenn wir uns das bereits vorgenommen haben, ist hier noch Erhebliches zu tun, anzuerkennen, zu lernen.
Wir müssen nicht Solidarität politisch machen, Solidarität unter den aktuellen Verhältnissen, ist das Politischste überhaupt.

Die Linke ist nicht mehr das Sprachrohr einer Stimmung. Vielleicht war sie auch nie,  was auch nicht schlimm ist. Denn es geht nicht um Repräsentation, sondern um Rebellion; darum etwas in Bewegung zu setzen - aber wird die Bewegung zu Rebellion? Wenn wir das wollen, dann müssen wir das auch tun. Wir müssen Teil sein, ungehorsames, aufrührerisches Moment, und zu gleich den Prozess organisieren, der als verallgemeinerbare Praxis herausfordert. Das bedeutet auch, Prozesse anzustoßen, deren Resultate wir nicht absehen können, deren soziale und politische Unkontrollierbarkeit wir gerade anstreben müssen.

Nicht in den USA und nicht in Rojava wird es sich entscheiden, ob ein wie auch immer geartetes kommunistisches Projekt, eine glaubhafte Zukunft hat. Aber an den Zuspitzungen, den gebrochenen Versprechen, den damit verbunden Hoffnungen und der erklärten Tradition der Aufklärung und des Humanismus in Europa,  der praktischen oder verweigerten Globalisierung des niedersächsischen Hinterlandes - oder ob sich die europäische Linke und darin insbesondere die deutsche Linke einhegen lässt.

Es braucht eine Linke der Situation statt eine Linke der Themenbereiche.

Es geht hier und jetzt um eine allgemeine Antwort, ein linkes Projekt,  eine reale solidarische Praxis und ein vorwärtsweisendes Narrartiv, das in der Lage ist sich sowohl lokal als auch transnational auszubuchstabieren: Die eine wahrnehmbare Sprache eines dritten gesellschaftlichen Blockes jenseits von Nationalismus und Krisenneoliberalismus entwickelt.

Wir können nicht warten, bis das irgendwer mal anfängt
Wir können nicht nur einen Teil dazu beitragen
Wir müssen das jetzt machen
Wer sonst.
Dafür müssen wir uns entscheiden. Das ist der Sprung.

Kurz, wenn es die iL nicht gäbe, müssten wir sie heute gründen. Es gibt nichts dringenderes als das.
Es reicht nicht aus, wie weit wir bisher gekommen sind.
Die bloße Verlängerung der Gegenwart führt in keine Zukunft, sondern in die Stagnation.

In diesem Sinne ist diese Konferenz nicht gedacht als Ort der Selbstvergewisserung, als Ort der Bequemlichkeit, als Ort des Konsum, als Ort der Verlängerung des status quo.
Sie ist gedacht als Ort des Streits, der Entwicklung, der Inspiration und der Neuerfindung der iL.  Das ist der Raum der Auseinandersetzung darüber was wir sind und was wir sein könnten und, wie wir einen Schritt auf dem Weg dahin machen.

Dies ist ein Aufruf dazu sich einzumischen, mitzumischen, vorzutragen und zuzuhören, nicht in bestehenden Konflikten zu verharren, sondern den Blick zu öffnen und einander wirklich zuzuhören, voneinander zu lernen, gemeinsam etwas Neues zu wollen.

Packen wir es an.
Denn was ist ist, was nicht ist, ist möglich.