Das Berliner Volksbegehren für Gesunde Krankenhäuser

Erste Sammelaktion

Mehr von euch ist besser für alle: Volksbegehren für mehr Personal im Krankenhaus
Gegen die dramatischen Zustände in den Krankenhäusern hat sich in den letzten Jahren eine kämpferische Bewegung von Pfleger*innen formiert, die von linken Bündnissen unterstützt wird. In Bayern, Hamburg und auch in Berlin laufen aktuell Volksbegehren, um die Forderungen der Bewegung auf landespolitischer Ebene durchzusetzen.
Pflegenotstand! Das Thema ist nicht erst seit den GroKo-Verhandlungen in aller Munde; entweder man liest es in den Zeitungen oder kennt es aus eigener Betroffenheit. Seit Jahren herrscht eine gefährliche Unterbesetzung von Pfleger*innen in den Krankenhäusern. Die Folge: Das Pflegepersonal kämpft fortwährend mit Überarbeitung, viele erleiden einen Burn-Out oder wechseln den Beruf. Darunter leiden ebenso Patient*innen, wenn sie schlecht gepflegt werden. Denn die erhöhte Arbeitsbelastung führt einerseits zu einer vermehrten Übertragung und Verbreitung multiresistenter Keime, andererseits können notwendige pflegerische Maßnahmen – wie etwa aufklärerische Gespräche oder die Unterstützung beim Essen – nur noch ungenügend durchgeführt werden. Die wesentlichen Ursachen sind sowohl die fehlende Anerkennung von Care-Arbeit und die Ökonomisierung der Krankenhäuser durch das Fallpauschalensystem (siehe Kasten).

Streiks sind in pflegenden Berufen traditionell schwer zu organisieren, weil sich die Pflege von Menschen nicht ebenso leicht aussetzen lässt wie die Produktion von Sofas oder Autos. Die Sorge um die Anderen motiviert zu solchen Tätigkeiten weit mehr als die geringe finanzielle Anerkennung. Zugleich erschwert ein Berufsethos, das auf dieser Sorge basiert, das vorübergehende Aussetzen der Arbeit. Ein wichtiges Anliegen ist es, die auf Sorge und Pflege Angewiesenen nicht zu Leidtragenden zu machen. Doch mit der Devise, dass eben nicht der Streik, sondern der Normalbetrieb Patient*innen gefährdet, konnte für die Arbeitskämpfe mobilisiert werden. So ist aus dem einstigen Hemmschuh des pflegenden Berufsethos eine motivierende Kraft geworden.
Der Kampf um die pflegenden und sorgenden Tätigkeiten vereint nicht nur gemeinsame Perspektiven von Patient*innen und Pflegekräften, sondern hat einen grundlegenderen Charakter. Inspiriert von den erfolgreichen Charité-Streiks, durch die 2015 erstmalig eine klare Mindestbesetzung auf Stationen festgelegt wurde, und Gabriele Winkers gleichnamiger Streitschrift hat sich das Netzwerk Care Revolution gegründet, das eine Aufwertung aller sorgenden Tätigkeiten anstrebt. Diese Perspektive macht die Bewegung der Pflegekräfte in den Krankenhäusern zu einem feministischen Anliegen. Jeder Fortschritt in den Tarifauseinandersetzungen ist auch ein Zugewinn an Anerkennung für Tätigkeiten, die finanziell und gesellschaftlich abgewertet werden, weil sie weiblich konnotiert sind.
 

Die Etablierung des Bündnisses für mehr Personal im Krankenhaus
Es muss aus linker Perspektive das Ziel sein, die Kämpfe über die Grenzen der Tarifauseinandersetzung hinaus zu führen. Eben dies ist ein zentrales Anliegen des Bündnis „Berlinerinnen und Berliner für mehr Personal im Krankenhaus“, an dem wir uns beteiligen.
Das Bündnis bildete sich im Zuge der erfolgreichen Charité-Streiks, mit der die Bewegung erstmals bundesweite Aufmerksamkeit erhielt. Dort organisiert sich der Kern der heutigen Berliner Bewegung: aktive Beschäftigte und Azubis aus verschiedenen Häusern sowie Medizin-Studierende, Ver.di-Mitarbeitende sowie Aktivist*innen verschiedener linker Gruppen. Sie wollen zeigen, dass der tarifliche auch ein gesellschaftlicher Konflikt ist, der scheinbar partikulare ein allgemeiner Kampf – denn wir sind alle potentielle Patient*innen. Deswegen unterstützt das Bündnis einerseits die Kämpfe der Beschäftigten, indem es die Aktiven vernetzt und bei Streiks hilft. Andererseits entwickelt es auch eine eigene Praxis, indem es versucht, mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen auf die Missstände an den Kliniken aufmerksam zu machen.
Denn für die Beschäftigten ist die Situation schon lange untragbar geworden. Auch die Ursachen werden von den Meisten klar in der Ökonomisierung und der Ausrichtung an der Profitlogik erkannt. Es herrscht eine allgemeine Empörung und Wut. Damit diese zu kollektiven Aktionen gegen die herrschenden Zustände führt, braucht es Handlungsoptionen. Wir als Interventionistische Linke Berlin versuchen, diese im Bündnis mit Pfleger*innen, Ärzt*innen und Patient*innen zu entwickeln. Dabei können wir sowohl Politisierungsprozesse unterstützen als auch selbst wertvolle Erfahrung in der Basisarbeit sammeln und dazulernen. Ein wichtiger Punkt: Ähnlich wie in der Berliner Mieter*innenbewegung existiert mit den Krankenhäusern ein zentraler und reeller Alltagsort der Organisierung.
Die Attraktivität der Bewegung liegt darin, dass es tatsächliche und für alle spürbare Verbesserungen zu erkämpfen gibt. Zusammen mit den Beschäftigten streiten wir für tarifliche und gesetzliche Veränderungen. Doch das machen wir nicht aus den Parlamenten oder der Regierung heraus, sondern von der Straße und aus den Krankenhäusern. Unser mittelfristiges Ziel besteht darin, über eine bessere Personalausstattung hinaus das Fallpauschalensystem der DRG zu kippen. Statt nach neoliberaler Kosteneffizienz und Rendite muss das Gesundheitssystem an den Bedürfnissen von Beschäftigten und Patient*innen ausgerichtet werden.
 

FCK DRG! Das Volksbegehren in Berlin
Im Kampf gegen die DRG scheint eine sozialistische Perspektive auf, die sich aus der unmittelbaren Betroffenheit der Beschäftigten und Patient*innen ergibt. Antikapitalismus ist also eher ein Fluchtpunkt, der aus der Dynamik der Kämpfe entstehen kann und sollte. Nicht zuletzt liegt in der Krankenhausbewegung eine Chance für die radikale Linke, reifer zu werden und aus einer linksradikalen Szenepolitik heraus und mit neuen Menschen in Kontakt zu kommen.
Aus diesen Überlegungen heraus haben wir am 1. Februar 2018 als Berliner Bündnis das Volksbegehren „Gesunde Krankenhäuser“ gestartet. Damit wollen wir die betrieblichen Kämpfe in eine landespolitische Kampagne übersetzen und damit vergesellschaften. In mehreren Monaten intensiver Arbeit hat das Bündnis ein Gesetz entwickelt: Es legt Mindestpersonalzahlen für Pflegekräfte und andere Berufsgruppen im Krankenhaus fest und ergänzt die Hygiene-Vorschriften für Reinigungsfachkräfte. Zudem legt es eine Mindestquote von Investitionen fest, die durch das Land Berlin übernommen werden müssen. Es stellt Transparenz über die Einhaltung von Qualitätsanforderungen und Personalvorgaben her und formuliert Konsequenzen, wenn diese Ziele nicht erreicht werden. Insgesamt wird damit das Land Berlin zur Verantwortung gezwungen und auch langfristig der bestehende Fachkräftemangel bekämpft, indem der Beruf wieder attraktiver wird. Somit kann das Volksbegehren synergistisch wirken, indem es gesetzliche Daumenschrauben anlegt, Arbeitsbedingungen verbessert, die Qualität der Patient*innenversorgung erhöht, kapitalistische Strukturen abschwächt und Menschen Selbstwirksamkeit erfahren lässt. Das Gesetz soll letztendlich durch einen Volksentscheid von der Berliner Bevölkerung bejaht werden, wobei durch unser Volksbegehren der Weg zum -entscheid geebnet wird.
Damit knüpfen wir an einen Zyklus linker Volksbegehren in Berlin an. Von Themen wie Wasser, über Energie und Freiräume bis hin zu Mieten konnten verschiedene Initiativen jeweils eine Massenunterstützung organisieren und einige realpolitische Erfolge erringen. Bei den letzten Volksbegehren sind regelrechte Sammelbewegungen auf der Straße, in den Nachbarschaften und in Freund*innenkreisen entstanden. In den letzten Jahren mussten wir zwar lernen, dass Volksentscheide Grenzen haben und jeweils strategisch eingesetzt werden müssen. Aber sie geben eine realistische Perspektive, massenhaft ein fortschrittliches Anliegen von unten gegen die Herrschenden durchzusetzen und dadurch realpolitische Missstände, wie z.B. die Rationalisierung von Pflege im Krankenhaus, zu Fall zu bringen.
In der gegenwärtigen politischen Konstellation in Berlin haben wir die Aufgabe und die Gelegenheit, die rot-rot-grüne Regierung mit einem populären Projekt von links unter Druck zu setzen. Im Abgeordnetenhaus gibt es nur eine rechte Opposition, und die AFD versucht neuerdings auch, in Mieter*inneninitiativen Fuß zu fassen. Umso mehr brauchen wir eine außerparlamentarische Bewegung, die eine linke Alternative sichtbar macht und die Regierung entweder zu einer progressiven Politik zwingt oder sie entlarvt.
Dieses Potential hat der Kampf um die Krankenhäuser. Die ersten Monate der Kampagne machen Mut, dass unsere Idee aufgehen kann. Bei der bis Frühsommer 2018 laufenden Aktion wurden bis zur Abgabe insgesamt genau 48.499 Unterschriften gesammelt. Dabei haben wir sehr positive Resonanz aus allen gesellschaftlichen Schichten erhalten, zudem sprechen sich Akteure wie die Berliner Ärztekammer oder der Marburger Bund Berlin-Brandenburg für das Projekt aus. Die Gesundheitssenatorin Dilek Kolat (SPD) sah sich letztendlich genötigt, im Bundesrat eine Initiative für feste Personalschlüssel für die Pflege zu starten.
 

Der Druck nimmt zu
Auch über die Landesgrenzen hinaus ist die Organisierung motivierend: Wenige Wochen nach Berlin startete das „Hamburger Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus“ ein sehr ähnliches Volksbegehren in der Hansestadt, Ende Juli folgte eine weitere Volksbegehrens-Inititative im Freistaat Bayern. Des Weiteren beschränken sich die Streiks in Krankenhäusern längst nicht mehr auf Berlin. Arbeitskämpfe fanden und finden etwa in Düsseldorf, Essen, Augsburg oder im Saarland statt. Die Folge war, dass sich der akute Pflegenotstand zu einem der zentralen Wahlkampfthemen auf Bundes- und auf Landesebene entwickelt hat.
Aus den kämpferischen Häusern fließt der Bewegung ihre Kraft zu und die aktivsten Beschäftigten geben ihr ein Gesicht, Legitimation und Ausstrahlung. Die Aktiven aus den verschiedenen Städten vernetzen sich untereinander, inspirieren und beraten sich gegenseitig und entwickeln überregionale Aktivitäten. Unterstützung finden sie bei Akteur*innen, die auf einer bundesweiten Ebene agieren können; neben uns als IL sind dies etwa vorrangig Kräfte aus Ver.di und der LINKEN, das Bündnis „Krankenhaus statt Fabrik“ oder der Verein Demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VDÄÄ).
Die Bewegung konnte bereits an mehreren Punkten ihre Forderungen in die Staatsapparate einschreiben. Als Reaktion auf die Streikbewegung im Saarland startete die damalige Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) eine Initiative, den Pflegenotstand auf Bundesebene anzugehen. Daraufhin wurde von der letzten Bundesregierung ein Gesetz für Personaluntergrenzen in sogenannten „pflegesensitiven“ Bereichen erlassen, das aufgrund des anhaltenden Drucks aber schon in diesem Jahr auf alle Stationen und Bereiche ausgeweitet wurde. Und nicht nur die Forderung nach einer Personalbedarfsplanung hat sich durch die anhaltenden Kämpfe durchgesetzt, sondern auch die damit verbundene Kritik an der Finanzierung der Krankenhäuser. So sollen ab 2019 die Pflegepersonalkosten aus den DRGs herausgelöst werden und jede zusätzliche Stelle voll von den Krankenkassen finanziert werden. Dieser Gesetzentwurf hat ausgerechnet Jens Spahn von der FAZ und dem Handelsblatt den Vorwurf des Planwirtschaftlers eingebracht.
Es ist weiterhin Skepsis angebracht, ob tatsächlich substanzielle Verbesserungen für die Beschäftigten kommen werden oder ob es sich bei diesen Initiativen von Oben nicht um eine Beruhigungspille für die Öffentlichkeit und die Gewerkschaften handelt. Trotzdem ermutigt die momentane Konfliktdynamik. Durch den Gesetzentwurf von Spahn werden die DRGs nicht nur ideell deligitimiert, sondern würden auch auch ca. 1/3 ihrer materiellen Grundlage verlieren. Und es geht weiter. Andere Berufsgruppen im Krankenhaus fordern bereits die Herausnahme aller Personalkosten aus den DRGs und vom 19.-21. Oktober lädt das Bündnis Krankenhaus statt Fabrik mit der Frage „Was kommt nach den Fallpauschalen?“ zu einem Kongress gegen die Ökonomisierung der Gesundheitsversorgung ein, der der Startpunkt für eine bundesweite Kampagne werden soll. Wir als Interventionistische Linke und Teil des Berliner Bündnisses für mehr Personal im Krankenhaus tragen auch mit dem kommenden Volksentscheid dazu bei, die DRG zu kippen. Wetten, dass die Bewegung noch nicht ihren Höhepunkt erreicht hat?

Kasten: Das 2003 eingeführte Fallpauschaulensystem DRG (Diagnosis Related Groups) ist der Kern der seit den 1990er Jahren fortschreitende Ökonomisierung der Krankenhäuser. Die Kliniken werden nicht mehr nach Bedarf bezahlt, sondern sie erhalten für jede Behandlung eine feste Pauschale. Dadurch lassen sich Gewinne machen, indem die Kliniken mit ihren realen Ausgaben unter den Pauschalen bleiben. Daher versuchen sie zu möglichst niedrigen Kosten zu behandeln. Das gilt auch für öffentliche Einrichtungen, die angehalten werden, schwarze Zahlen zu schreiben. Am wirksamsten lassen sich die Kosten über den Abbau von Personal und kürzere Liegezeiten senken. Der momentane Personalmangel und die sprichwörtlichen „blutigen Entlassungen“ sind eine Folge davon. Aber auch Überversorgung ist ein Problem der DRGs. Da die Krankenhäuser nach Fällen abrechnen, werden möglichst viele, auch fragwürdige, aber dafür besonders profitable Operationen durchgeführt. Darunter leiden vor allem ältere Patient*innen.
Der Beginn: Streiks an der Berliner Charité