Intervention braucht Organisation

Ein Aufruf zur Organisierung der interventionistischen Strömung

Das undogmatische, linksradikale Spektrum pendelt zwischen Faszination und Misstrauen, wenn es um „Organisierung“ oder gar konkret um die Bildung von Organisationen geht. Bereits seit Mitte der 80er gibt es alle paar Jahre „Organisierungsdebatten“, die allerdings bislang zu keinen tragenden, dauerhaften Ergebnissen geführt haben. So wurde weiter Politik im vertrauten Rahmen der lokalen Szene gemacht, sich vorwiegend auf Arbeit in den Szenestadtteilen beschränkt oder sich mit der bundesweiten Vernetzung thematisch abgegrenzter „Teilbereiche“ oder von vornherein begrenzter Kampagnen begnügt.
Für das Misstrauen gegenüber Organisationen und Organisierungsaufrufen gibt es viele gute Gründe: Schließlich können auch beste Absichten in autoritärer Erstarrung, Lähmung von Kreativität und Eigenverantwortung sowie in dogmatischer Rechthaberei enden. Dafür gibt es unzählige Beispiele, in der Geschichte der kommunistischen ArbeiterInnenbewegung ebenso wie in der Neuen Linken nach 1968.
Einige ziehen hieraus den (auf seine Weise ebenfalls dogmatischen) Schluss, jede Form von Repräsentanz, Struktur und Organisation, die über bloße Vernetzung hinausgeht, abzulehnen. Aber vielen anderen stellt sich die Frage der Organisierung immer wieder aufs Neue. Schließlich kommt eine radikale Linke, die ihren Anspruch auf radikale Veränderung der kapitalistischen und herrschaftsförmigen Realität ernst nimmt, nicht an der Frage vorbei, wie sie denn zu gesellschaftlicher Relevanz kommen und reale Interventionsfähigkeit herstellen will.

Die Bedeutung der Organisierungsfrage

Jeder Organisierungsaufruf (und dieser Artikel ist ein solcher!) muss sich die Frage vorlegen lassen, warum ausgerechnet der Aspekt der Organisation vor anderen grundsätzlichen Aufgaben herausgehoben behandelt werden soll. Fehlt es der radikalen Linken nicht mindestens ebenso an einer aktualisierten Analyse der globalen Herrschaftsverhältnisse, an einer erneuerten Utopie einer klassenlosen, herrschaftsfreien Gesellschaft und an inhaltlichen Antworten auf Herausforderungen wie den globalen Kriegszustand, den ausufernden Sicherheits- und Überwachungsstaat, den Abbau von sozialen Rechten oder den Klimawandel? Warum also mit der Organisierung beginnen?
Diese Frage ist deshalb so schwer zu beantworten, weil sie auseinander dividiert, was nur gemeinsam gelöst werden kann. Denn natürlich setzen revolutionäre Perspektiven zunächst die Formulierung einer gesellschaftlichen Alternative zum Bestehenden voraus, also die – zumindest ansatzweise – Beantwortung der Frage: „Wie könnte es anders sein?“. Im Moment können wir diese Frage nur vage und in Form allgemeiner Prinzipien beantworten. Dies hat vor allem damit zu tun, dass die Konkretisierung und Ausformulierung von gesellschaftlichen Perspektiven nicht losgelöst ist von der realen gesellschaftlichen Bewegung, mithin von der Stärke der Linken und der Mobilisierungs- und Ausstrahlungskraft, die sie gesellschaftlich zu entfalten vermag. So besteht an aktualisierten und klugen Analysen des globalen Kapitalismus gegenwärtig gar kein Mangel; es fehlt vielmehr daran, dass sich diese Analysen mit einem dynamischen und perspektivisch durchsetzungsfähigen politischen Projekt verbinden.
Für diesen zweiten notwendigen Bestandteil revolutionärer Perspektiven sind wir als in der politischen Praxis tätige Linksradikale zuständig. Wenn schon nicht einen Weg, so müssen wir doch wenigstens eine Richtung zeigen können, wie eine Überwindung des globalen Kapitalismus, denn erreicht und vor allem durchgesetzt werden könnte. Mit anderen Worten geht es um die Frage: „Wie können wir siegen?“

Zwischen global und lokal: Das Terrain der politischen Kämpfe

Die Verbindung zur Organisationsfrage ergibt sich schon aus der Betrachtung der Terrains der politischen Kämpfe, die – ob es uns passt oder nicht – erst einmal vom Gegner abgesteckt werden. So muss der Widerstand gegen Entwicklungen oder Entscheidungen, die auf Bundes- oder EU-Ebene verantwortet und geplant werden, nicht ausschließlich, aber auch auf dieser Ebene organisiert werden. Interventionsfähigkeit ist allein lokal oder regional gar nicht herstellbar, sondern es braucht die Herausbildung von Akteuren, die zunächst auf bundesweiter Ebene – perspektivisch aber auch auf europäischer und schließlich globaler Ebene – in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen eingreifen können. Das ergibt sich auch daraus, dass eine linksradikale Intervention nicht losgelöst von anderen gesellschaftlichen Akteuren (z.B. der moderaten Linken) gedacht werden kann, sondern sich auf diese beziehen, zu ihnen positionieren und auch immer wieder mit ihnen (kritisch) kooperieren muss, also z.B. mit den Gewerkschaften, der Linkspartei oder mit Attac. Um in diesem Umfeld dauerhafte Handlungsfähigkeit zu gewinnen und als eine wirksame Kraft wahrgenommen zu werden, ist eine eigene Organisierung daher unverzichtbar.
Dazu steht die gleichzeitige Notwendigkeit lokaler und konkreter sozialer Verankerung nicht im Gegensatz. Ebenso wie die Schaffung losgelöster organisatorischer Wasserköpfe nur wenig Sinn macht, ist es umgekehrt eine Voraussetzung für echte Verankerung, dass die in den Alltagskämpfen präsenten Linksradikalen als Teil einer größeren, auch auf anderen Ebenen handlungsfähigen Struktur wahrgenommen werden.
An zwei gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der letzten Jahre kann dies plastisch nachvollzogen werden:

Fehlende Interventionsfähigkeit: Die radikale Linke und die Montagsdemos

Da sind zum einen die Montagsdemonstrationen gegen die Einführung Hartz IV im Jahr 2004: Sie sind ein gutes Bespiel dafür, wie schnell und spontan sich die Dynamik von Bewegungen entfalten kann und worin der eigenständige und unersetzbare Wert von Bewegungsprozessen besteht, die von organisierten Akteuren nicht vorausgeplant oder im technischen Sinne hergestellt werden können. Im weiteren Verlauf zeigte sich jedoch, wie wenig vorbereitet die radikale Linke war, in solchen spontanen Massenprotesten eine vorantreibende, orientierende und radikalisierende Rolle zu übernehmen. Lediglich die MLPD hat organisiert und massiv Einfluss auf die Bewegung genommen, dabei aber für eine fatale Orientierung gesorgt, indem zum einen Parolen mit nationalistischem Unterton („Wir sind das Volk“) verbreitet wurden und zum anderen ein einfallsloses „Immer weiter“ propagiert wurde, das letztlich zum Totlaufen der Bewegung beigetragen hat. Der undogmatische Flügel der radikalen Linken hatte dem wenig entgegenzusetzen. Zwar waren Gruppen und Personen aus unserem Spektrum in vielen Orten aktiv an der Bewegung beteiligt. Anderswo allerdings standen sie abseits oder beschränkten sich darauf, mit mehr oder weniger Erfolg, den Unterwanderungsversuche von Neonazis bei den Montagsdemos zu begegnen. Insgesamt aber konnte, nicht zuletzt wegen einer fehlenden bundesweiten Organisierung, kein nennenswerter Einfluss geltend gemacht werden, der bei der Debatte um die inhaltliche und strategische Ausrichtung der Montagsdemonstrationen so dringend gebraucht worden wäre.

Vorwegnahme der notwendigen Organisiertheit: Heiligendamm 2007

Positiv hingegen sind die Erfahrungen bei der Mobilisierung gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm. Dass sich die radikale Linke hier so deutlich und vernehmbar zu Wort melden konnte und dass alle Befürchtungen, NGOs oder Parteien würden die Proteste dominieren und domestizieren, letztlich nicht wahr geworden sind, hat auch mit dem Grad an Organisiertheit zu tun, der von den linksradikalen Akteuren entwickelt worden ist. Ohne eigene Handlungsfähigkeit auf bundesweiter (und europäischer) Ebene wäre der radikalen Linken nur die schlechte Wahl geblieben zwischen dem einflusslosen Hinterhertrotten bei von anderen gestalteten Demonstrationen und Aktionen oder der selbst gewählten Isolierung in separaten linksradikalen Veranstaltungen. Es ist anders gekommen, nicht zuletzt weil in den beiden wichtigsten linksradikalen Zusammenhängen, also bei dissent! und in der Interventionistischen Linken, mehr Organisiertheit und Repräsentanz praktiziert wurde, als eigentlich ideologisch und vom Stand des internen Prozesses her gedeckt war. Dieser Spagat war bei dissent! besonders deutlich, wo ja eigentlich jede Form von Repräsentanz kritisch gesehen wurde und es schon deshalb keine Delegierten mit dem Mandat geben konnte, für alle Vereinbarungen zu treffen. Real gibt es über Personen und über AGs aber sehr wohl eine – immer prekäre, aber doch kontinuierliche – Teilnahme an den spektrenübergreifenden Koordinationsstrukturen. Die IL hatte dieses Repräsentanzproblem zwar nicht im gleichen Maße, aber auch bei ihr basiert der Einfluss und das Agieren auf der bundesweiten Ebene darauf, dass wie eine Organisation gehandelt wurde, obwohl es real allenfalls ein Netzwerk mit Organisierungsperspektive gab und gibt. Bei allen Problemen, die so ein Vorgriff auf Strukturen, die erst noch gemeinsam entwickelt, ausprobiert und austariert werden müssen, mit sich bringt: Organisiertheit war eine der Erfolgsbedingungen für die Anti-G8-Kampagne.

Zerfall und Niedergang der Linken nach 1989

Der Zusammenbruch des Real Existierenden Sozialismus, der 1989 offenbar wurde, markierte den Beginn der tief greifenden Krise der radikalen Linken und der Linken überhaupt, von der so gut wie alle Gruppierungen und Strömungen erfasst wurden, gleich wie nah oder fern sie dem Staatssozialismus sowjetischer Prägung gestanden haben. Die Nachwehen von 1989 haben lange Jahre angedauert und die Zusammensetzung der Linken ebenso nachhaltig verändert wie ihre Ausgangsbedingungen:
Der alte „Reformismus“ (im Sinne eines politischen Konzeptes, den Kapitalismus innerhalb der Spielregeln der bürgerlichen Demokratie schrittweise überwinden zu können) spielt heute in der politischen Praxis keine Rolle mehr. Bei SPD und Grünen ist er von der neoliberalen Offensive hinweggespült worden. Auch bei der Linkspartei wird er in dieser Form nicht wieder auferstehen können. Vielmehr steht auch sie vor der Wahl, sich von der neoliberalen Offensive vereinnahmen zu lassen oder aber zu einer Partei zu werden, die aktiv die Kommunikation und die Kooperation mit der außerparlamentarischen Linken in allen ihren Facetten sucht und ihre Politik unter Bezugnahme auf diese Pluralität linker und linksradikaler Bewegung gestaltet. Welche Risiken und Fallstricke auf dem weiteren Weg der Linkspartei drohen, ist all jenen bewusst, die den deprimierenden Weg der Grünen vom „parlamentarischen Arm der Bewegung“ zur Öko-FDP mitverfolgt haben – ohne die spezifischen Unterschiede beider Parteiprojekte leugnen zu wollen.
Die Organisationen mit einer traditionell-marxistischen Ausrichtung sind schon lange zusammengeschrumpft, überaltert und ohne jede Perspektive für einen dynamischen Neuanfang. Mit einer gewissen Zeitverzögerung gilt dies nun ebenfalls für die zeitweilig erfolgreichen trotzkistischen Varianten. Die einstmals große autonome Szene hat sich in einem nicht weniger rapiden Zerfallsprozess vielerorts geradezu atomisiert. Überall sind Gruppen und Strukturen im großen Umfang zerfallen. Auch die „Antideutschen“, Ausdruck und Katalysator des Zerfallsprozesses eines Teils der radikalen Linken, sind kaum mehr wahrnehmbar und haben ihre Attraktivität weitgehend eingebüßt.
Gleichzeitig sind die gesellschaftlichen Widersprüche deutlich weiter entwickelt als die Linke. Der globalisierte Kapitalismus unter den Vorzeichen seiner neoliberalen Leitideologie verschärft fortwährend die sozialen Gegensätze. Auch wenn die Verhältnisse im globalen Maßstab nicht gleichgesetzt werden können, so spiegelt sich die globale Ungleichheit immer stärker auch im Innern der Gesellschaften der reichen Industrieländer wider.
Der Wechsel vom „konservativen Wohlfahrtsstaat“, der bei aller Ungleichheit und Ausbeutung doch ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Teilhabe für viele garantierte, zum neoliberalen Wettbewerbsstaat, der die Risiken des Lebens in einer kapitalistischen Gesellschaft zusehends privatisiert, hinterließ deutliche Spuren im Massenbewusstsein. Ein bemerkenswert klarsichtiges Verständnis der gesellschaftlichen Verteilungs- und Machtverhältnisse sowie der eigenen Chancen innerhalb dieser Verhältnisse ist relativ oft anzutreffen. Allerdings zumeist gepaart mit einer resignativen Grundhaltung, die große Einfallstore für autoritäre und rassistische „Lösungen“ aufweist. Dennoch existiert in und unter dieser Resignation und Perspektivlosigkeit ein Potenzial, das relativ spontan in politische Aktivität, Empörung und Rebellion umschlagen kann, wie in Deutschland z.B. bei den Montagsdemonstrationen geschehen. Auch in der gegenwärtigen (kleinen) Streikwelle oder in der trotz Dauerpropaganda fortdauernden Ablehnung von deutschen Militäreinsätzen im Ausland zeigen sich die viel beschworenen „Risse in der neoliberalen Hegemonie“ ganz praktisch.

Die Chance für einen Neuanfang der radikalen Linken ist da!

In den nächsten Jahren sind weitere spontane soziale Auseinandersetzungen und Bewegungen zu erwarten. Es ist die Verantwortung einer radikalen Linken, auf diese Auseinandersetzungen vorbereitet zu sein und in den bestehenden oder neuen Bewegungen für eine emanzipatorische Orientierung zu werben, dort für eine – den Bedingungen angemessene – Radikalisierung in den Aktionen einzutreten und mit Vorschlägen für eine inhaltliche und strukturelle Festigung aufzuwarten. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, braucht es nicht nur eine inhaltliche Auseinandersetzung, wie radikale antikapitalistische Standpunkte mit der Alltagsempörung und der Lebenswirklichkeit von weiten Teilen der Bevölkerung verbunden werden können. Es braucht ebenso ein Ausmaß an Organisiertheit, das ein planvolles und koordiniertes Eingreifen in spontane Auseinandersetzungen erst möglich macht.
Dem – wahrscheinlich und hoffentlich weitgehend abgeschlossenen – Zerfallsprozess der Linken, wohnt gleichzeitig die Chance für einen Neuanfang inne. Das gilt auf dem Gebiet der Utopie ebenso wie für Organisationskonzepte oder für eine neue Kultur der Zusammenarbeit verschiedener linker Strömungen jenseits der alten Spaltungslinien. Die triste und repressive Realität des Staatssozialismus à la DDR versperrt nicht mehr länger den Blick darauf, was kommunistische Perspektiven für das 21. Jahrhundert sein können. Das Modell der leninistischen Kaderpartei, gleich ob es kopiert oder verdammt wurde, ist nicht mehr der dominierende Bezugspunkt aller Organisierungsdebatten. Und der verbissene Kampf der linken Wahrheiten um die richtigen Analysen und die richtigen historischen Vorbilder, macht mehr und mehr der Erkenntnis Platz, dass eine Veränderung der gesellschaftlichen Realität nicht durch den Sieg der einen, richtigen Linie oder Partei, sondern nur gemeinsam gelingen wird.
Dieser Neuanfang bedeutet kein Vergessen oder Ignorieren der Leistungen, der Erfahrungen und der Irrwege der SozialistInnen, AnarchistInnen und KommunistInnen der letzten gut 150 Jahre. Ihre Geschichte – und zwar inklusive aller ihrer dissidenten Strömungen – ist unsere Geschichte. Es gilt, hieraus die Erfahrungen und Lehren aufzunehmen, aus ihnen aber etwas Neues zu formulieren. Dabei bleibt der Kern unserer Utopie derselbe: Ein Gesellschaftsentwurf, der auf Gleichheit und Gerechtigkeit basiert und der deswegen das Privateigentum an Produktionsmitteln überwinden muss, um gemeinsame, tatsächlich gesellschaftliche Formen des Lebens und Produzierens zu schaffen. Aber diese Utopie muss verbunden werden mit den seitdem hinzu gewonnenen Erkenntnissen:

  • Mit dem Blick auf die Unterdrückungsverhältnisse, die zwar mit der kapitalistischen Verfasstheit der Welt verbunden sind, sich nicht aber umstandslos auf sie zurückführen lassen – also mit der praktischen Kritik an Patriarchat, Rassismus, Heteronormativität usw.
  • Mit der Erkenntnis, dass bei Strafe der weiteren Verwüstung und Vergiftung der Welt auch die gesellschaftlichen Naturverhältnisse grundsätzlich kritisiert und revolutionär umgestaltet werden müssen.
  • Mit der Einsicht schließlich, dass globale Perspektiven und basisdemokratische, lokale Verankerung zusammengedacht werden müssen. Dafür sind die alten Konzepte des „demokratischen Zentralismus“ und des „proletarischen Internationalismus“ nicht mehr passend, da eine neue Gesellschaft im bornierten nationalstaatlichen Rahmen gar nicht mehr denkbar ist, also über ihn hinausgehen muss. Gleichzeitig sollten lokale und regionale Eigenheiten – und die dazugehörigen Widersprüche und Differenzen, die ja als Vielfalt auch Stärke bedeuten – nicht eingestampft werden.

Was, wo und wie organisieren?

Eine häufige Konsequenz aus den verständlichen Abgrenzungsbedürfnissen gegenüber einem parteiförmigen Organisationsaufbau ist es, die Frage der politischen Organisierung auf die Ebene der Bewegung zu verlagern. Eine getrennte Strukturebene, die zwar neben, zwischen und in den sozialen Bewegungen agiert, aber selbst eben nicht Bewegung, sondern Organisation ist, gibt es in diesem Konzept nicht. Der auf den ersten Blick plausible Gedanke, so die Probleme von Erstarrung, Bürokratisierung und Entkoppelung von der Basis zu vermeiden, verkennt jedoch zweierlei: Erstens, dass sich verbindliche, auf Kontinuität ausgerichtete Strukturen in einer Bewegung kaum herstellen lassen, da ja immer das Gesamte der Bewegung gedacht und repräsentiert werden muss. Dadurch lassen sich entsprechende Strukturen entweder nur als reine Koordination ohne orientierenden und radikalisierenden Anspruch aufbauen oder aber nur als informelle Strukturen, die sich dann demokratischer Kontrolle und Transparenz weitgehend entziehen, was sowohl dem Bewegungscharakter als auch der Intention widerspricht. Und zweitens dass Bewegungen, um erfolgreich sein zu können, auf die Ressourcen und die Erfahrungen von Organisationen angewiesen sind, die nämlich Kontinuität, strategische Überlegungen und praktisches Know-how in spontane Bewegungsprozesse einbringen können. Dies funktioniert allerdings nur dann, wenn diese Organisationen auf Versuche verzichten, die Bewegung insgesamt zu vereinnahmen, und ihr Verhältnis zu anderen Organisationen nicht von misstrauischer oder gar feindseliger Konkurrenz geprägt ist.
Dabei geht es um mehr als „nur“ faire und offene Zusammenarbeit oder den Verzicht auf schmutzige Tricks und taktische Spielchen. Es geht um das, was die Interventionistische Linke „strategische Bündnisorientierung“ genannt hat: Die Abgrenzung von einem rein taktischen Verständnis von Bündnispolitik, das die Zusammenarbeit mit anderen Strömungen und Akteuren nur für konkrete, kurzfristige Projekte eingehen will, und sich eigentlich stets danach sehnt, dass die eigene Strömung oder Gruppierung so stark wird, dass sie keine Koalitionen mehr benötigt. Im Unterschied dazu geht eine strategische Bündnisorientierung davon aus, dass Bündnisse und Koalitionen mit Akteuren sowohl der radikalen wie der moderaten Linken nicht nur die notwendige Voraussetzung für die Schaffung gesellschaftlicher Gegenmacht sind, sondern dass es dafür - mehr noch – die bewusste Bejahung dieser Bündnisorientierung braucht.
Im Unterschied zu dem traditionellen Bild geht es also um einen anderen Typ von revolutionärer Organisation, der sich des eigenständigen Werts und der unersetzbaren Kraft und Dynamik von Bewegungen bewusst ist – und sich daher nicht nur in Worten, sondern real von der Vorstellung verabschiedet hat, dass es darum ginge die revolutionäre Organisation aufzubauen, anstatt eine unter mehreren anderen. Solche Organisationen, als Orte der strategischen Bestimmung, des Festhaltens von Erfahrungen und der planvollen Intervention sind allerdings unverzichtbar für den Aufbau einer mehr als punktuellen Gegenmacht.
Ein politischer Zusammenhang kann diese Funktion allerdings nur dann erfüllen, wenn er tatsächlich Organisation, nicht aber Netzwerk ist, d.h. wenn wir den Schritt gemacht haben von der bloßen Kommunikation und Koordination unabhängiger politischer Prozesse hin zu der Organisierung eines kollektiven Prozesses. Strukturell gehört zu einer Organisation die Arbeitsteilung zwischen verschiedenen thematisch, örtlich oder funktionell bestimmten Ebenen, die nicht nebeneinander existieren, sondern sich bewusst als Teile einer Einheit verstehen und auch über die Kommunikations- und Entscheidungsmechanismen verfügen, um kollektiv handlungsfähig zu sein. Dabei kann es aus unserer Sicht heute nicht mehr wie bei den traditionellen kommunistischen Parteien um Strukturen gehen, die auf Zentralismus und Gefolgschaft aufbauen, sondern wir sehen Autonomie, Vertrauen und das bewusste Herstellen von Gemeinsamkeit als die zentralen Prinzipien unserer Organisation an.

Mit wem organisieren: „Unsere Strömung“

So wie wir uns jetzt und in Zukunft nur eine plurale, aus vielen Strömungen, Bewegungen und Organisationen bestehende, nicht vereinheitlichte Linke vorstellen können, sind wir umgekehrt davon überzeugt, dass diejenigen Gruppen und Akteure, die ein gemeinsames Verständnis an entscheidenden Punkten teilen, die Verantwortung haben, ihre Zersplitterung zu überwinden und sich zu organisieren. Wir sehen Avanti als Teil einer bestimmten, politischen Strömung innerhalb der radikalen Linken, die einen ernsthaften revolutionären bzw. antagonistischen Anspruch in Theorie und Praxis mit der Bereitschaft zu einer verbindlichen Organisierung verbindet, die basisdemokratisch (also nicht zentralistisch) aufgebaut ist. Diese Strömung steht für eine offensive, weder legalistische noch militanz-fixierte politische Praxis, mit dem Anspruch selbstbewusst in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen einzugreifen, um diese zu radikalisieren und Gegenmacht aufzubauen. Sie bemüht sich um ein undogmatisches Herangehen und einen fairen, offenen Umgang nach innen wie nach außen.
Heute bietet die Interventionistische Linke die reale Chance, einer der aktiven Kerne der Organisierung „unserer Strömung“ und damit gleichzeitig einer erstarkenden, sich neu formierenden radikalen Linken zu werden. In diesem bundesweiten Netzwerk kommen aktive und mobilisierungsfähige Gruppen aus dem post-autonomen Spektrum zusammen mit Zeitungsprojekten und AktivistInnen, die als Einzelne bei der IL sind, aber darüber hinaus in anderen Zusammenhängen aktiv sind. Diese Gruppen und Projekte stellen heute eine politische Strömung dar, die in gewissem Umfang in der Lage ist, gesellschaftliche Diskussionen und Dynamik zu entwickeln. Wenn sich die IL – und das ist eine unter mehreren reale Optionen ihrer Zukunft –zu einer bundesweiten revolutionären Organisation weiterentwickelt, dann könnte sie dauerhaft viel mehr sein, als nur die Summe ihrer Einzelprojekte.
Mit der aktiven Rolle in der Anti-G8-Mobilisierung hat die Interventionistische Linke erahnen lassen, was eine solche gemeinsame Organisierung bedeuten könnte und eine wichtige Hürde, an der ähnliche Ansätze vor ihr oft gescheitert sind bereits genommen: Es ist ihr gelungen, eine gemeinsame Praxis zu entwickeln und hierin Handlungsfähigkeit praktisch unter Beweis zu stellen. Wie nicht anders zu erwarten, sind bei diesem Praxistest aber auch Widersprüche offenbar geworden, z.B. bei der Bewertung der Auseinandersetzungen bei der Großdemonstration in Rostock am 2.6.2007. Bei diesen Widersprüchen geht es in der IL nicht um die „Gewaltfrage“, also um einen prinzipiellen Standpunkt für oder gegen militante Aktionsformen oder gar darum, die Berechtigung von Gegenwehr gegen Polizeiübergriffe in Frage zu stellen. Das gemeinsame IL-Auswertungspapier „Wenn der Staub sich legt“ enthält verschiedene Positionen gleichzeitig. Durch diese Pluralität ist in einigen Passagen mehr Szeneorientierung (und damit Selbstbezug) enthalten, als mit einem interventionistischen Politikverständnis (das die Selbstbezüglichkeit ja gerade überwinden will) vereinbar ist.
Dieser Widerspruch wird jedoch nicht hauptsächlich im Rückblick auf vergangene Aktionen zu bewältigen sein, sondern vor allem in zukünftigen Kampagnen und Mobilisierungen. Hierin werden und müssen sich gemeinsamer Standpunkte weiter entwickeln – parallel zu einem Prozess der Herausbildung interventionsfähiger Strukturen, die ein zielgerichtetes Handeln, ein kollektives Lernen, die Integration auch von außer-szenischen MitstreiterInnen und die Entwicklung eines solidarischen Zusammenhalts ermöglichen.
Auch für die Entwicklung eines gemeinsamen Selbstverständnisses der IL bleibt noch viel zu tun. Es geht um die Reformulierung linksradikaler Positionen, so dass sie Antworten auf die gesellschaftlichen Bedingungen von heute und morgen geben. An dieser Stelle muss sich die IL auch Rechenschaft darüber ablegen, ob sie als Ganzes ein sowohl revolutionäres/ antagonistisches Projekt sein will und ob sie sich zu dem Ziel einer gemeinsamen Organisierung bekennen will.

Die Entwicklung der IL ist offen

In der Einladung zur Zweiten Offenen Arbeitskonferenz, die vom 25.-27.4.2008 in Marburg stattfand, wurde die These vertreten, dass es die undogmatische, linksradikale Strömung, die nach neuen Wegen sucht, um gesamtgesellschaftlich interventionsfähig zu werden, in nahezu allen Orten der BRD gibt: „In post-autonomen Gruppen, in der antifaschistischen und antirassistischen Bewegung, in antimilitaristischen Initiativen, es gehören Leute dazu, die in Gewerkschaften oder Erwerbslosen-Inis aktiv sind, die publizistisch oder wissenschaftlich tätig sind - und auch ganz viele junge GenossInnen, die auf der Suche nach einer kollektiven Form für ihre rebellischen Wünsche nach einer ganz anderen Welt sind.“ Diese Einschätzung teilen wir ausdrücklich. Allerdings war die Konferenz in Marburg noch nicht der erhoffte Durchbruch zu einer breiten Öffnung und neuer Dynamik im IL-Prozess: Es sind neue Interessierte gekommen, große Teile der Strömung konnten aber noch nicht erreicht werden.
Die Marburger Arbeitskonferenz bestätigte unsere Einschätzung des ambivalenten Zustandes der IL. Was genau „Organisierung der Strömung“ meint, ist weiterhin nicht geklärt, teils weil es widersprüchliche Vorstellungen gibt, teils weil nicht wenige Beteiligte gar keine genauen Vorstellungen vom weiteren Weg der IL haben. Insgesamt schwankt die Debatte zwischen den Polen einer Strömungsorganisation oder einem Strömungsnetzwerk. Ein Netzwerk bräuchte gar keine festen Strukturen über die jetzigen bundesweiten Treffen hinaus und könnte die lokale Verankerung weitgehend den Mitgliedsgruppen überlassen. Im Netzwerkmodell sind nur wenige, grundsätzliche Klärungen in ideologischen und strategischen Fragen erforderlich, da im Vordergrund die erhoffte Breite und Pluralität von Positionen, Traditionen und Arbeitsformen steht, die innerhalb der IL verwirklicht werden soll. Das wäre sicher ein gangbarer Weg, der aber das Potential der IL bei weitem nicht entfalten würde und für uns nicht die Notwendigkeit aufheben würde, einen parallelen Organisationsprozess zur IL zu betreiben.
In der gleichen Logik liegen auch alle Vorschläge, dass die IL im Wesentlichen aus den in ihr aktiven Personen bestehen soll und die Gruppen nur assoziiert sein sollen, weil auch dabei einem ambitionierten Projekt der Organisierung, das einen aktiven Zusammenhang zwischen den bundesweiten Strukturen und ihrer lokalen Verankerung herstellen würde, ausgewichen wird.
Das von uns favorisierte Modell einer Strömungsorganisation müsste dem (anerkannt notwendigen!) inneren Pluralismus des Organisierungsprozesses durch Klärungen bestimmte Grenzen setzen, um einen Rückfall einen eher beliebigen Bündnischarakter zu verhindern. Das Ziel wäre hier nicht die Unabhängigkeit der IL von den Mitgliedsgruppen, sondern im Gegenteil deren bewusste Integration in einen gemeinsamen kollektiven Prozess.
Dabei geht es Avanti nicht um eine Verlängerung seiner eigenen Struktur und Prinzipien in die IL. Uns ist sehr wohl bewusst, dass auch wir uns in einem gemeinsamen Prozess verändern würden und verändern müssten. Hierfür sind wir allein deswegen schon offen, weil wir neben dem rein quantitativen Plus an Gruppen und AktivistInnen auch die Bereiche sehen, in denen die IL qualitative Vorzüge gegenüber unserer eigenen Organisation hat. So findet sich bei Avanti ein bestimmter Typ des Aktivismus, der auf wöchentlichen Treffen der Ortsgruppen, einem hohen Anteil praktisch-organisatorischer Aufgaben (wie Demo- und Aktionsvorbereitungen, Veranstaltungsorganisation oder Absprache über die Teilnahme an lokalen Bündnissen) und einem relativ starken persönlichen Einsatz beruht. Das beschränkt auch den Kreis der Avanti-MitstreiterInnen von vorn herein auf diejenigen, für die dieses Modell geeignet und/oder attraktiv ist. Demgegenüber finden sich in der IL die unterschiedlichsten Formen des Aktivismus: Es gibt jene, die vor allem theoretisch oder publizistisch aktiv sind. Oder jene, die eher als Einzelne in größeren, nicht linksradikalen Strukturen wie z.B. Attac oder den Gewerkschaften aktiv sind. Entsprechend finden wir in der IL auch eine breite Streuung der politischen Generationen, die von GenossInnen, die in den 70ern politisch sozialisiert worden sind, bis hin zu jenen reicht, die erst in diesem Jahrzehnt hinzugekommen sind. Und schließlich sehen wir in der IL auch ein Potential an theoretischer Arbeit und Debatte, das wir in Avanti noch nicht haben und wohl in kürzerer Zeit auch nicht werden erreichen können.

Doppelstrategie: Zwei Wege, ein Ziel

Durch den IL-Prozess stellt sich für Avanti auch die Frage nach der Rolle und der Zukunft unserer eigenen Organisation. In der IL liegt – wie geschildert – die große Chance für einen Durchbruch zu einem handlungsfähigen, organisierten Akteur der radikalen Linken auf Bundesebene direkt neben der Gefahr, dass die Entschlusskraft für einen solchen Durchbruch nicht ausreicht oder dass die Gemeinsamkeiten im Verständnis von Intervention und Organisierung letztlich doch nicht tragfähig sind. Es mag also sein, dass unsere Anforderungen an eine revolutionäre Organisation innerhalb der IL nicht erreichbar sind oder die Mehrheit der dort Aktiven ganz andere Vorstellungen hat. Der Entwicklungsprozess der IL hat also kein feststehendes Ergebnis. Und auch, wenn wir bestimmte Vorstellungen formulieren und in die IL einbringen, so wollen wir dieses Ergebnis doch nicht erzwingen oder diktieren. Die Offenheit, die den IL-Prozess bislang geprägt hat, ist eine seiner Stärken und soll deshalb von uns nicht angetastet werden. Das bedeutet für uns aber auch, dass wir nicht abschließend bestimmen können, in welchem Verhältnis der IL-Prozess zu unseren eigenen Organisationsbestrebungen steht.
Daraus ergibt sich für uns die Notwendigkeit einer Doppelstrategie. Während für uns klar ist, dass die Interventionistische Linke gegenwärtig der Prozess ist, an dem wir teilhaben und auf den wir uns einlassen müssen, wenn wir uns ernsthaft der Herausforderung stellen wollen, eine (bundesweite) revolutionäre Organisation zu gründen, können wir gleichzeitig den eigenständigen Auf- und Ausbau der Avanti-Strukturen für den IL-Prozess nicht zurückstellen. Zumal wir eben auch – im Unterschied zu den meisten der IL – in den 19 Jahren unseren Bestehens eine kontinuierliche Praxis überregionaler Organisierung herausgebildet haben. Für uns wird daher mittelfristig eine Parallelität der Projekte Avanti und IL bestehen bleiben müssen, um unser strategisches Ziel – dauerhaft und zunächst bundesweit politisch interventionsfähig zu werden – zu erreichen.
Mit der Aufnahme von solid.org in Bremen ist die siebte Avanti-Ortsgruppe entstanden und aktuell gibt es Pläne für eine Erweiterung des geografischen Radius von Avanti nach Berlin, wo bereits mehrere andere IL-Gruppen existieren. An diesem Berlin-Projekt werden auch die Widersprüche offenbar, die unsere Doppelstrategie mit sich bringt. Wir können durchaus nachvollziehen, warum manche an unserem Vorgehen kritisieren, dass wir uns dadurch nicht vollständig auf das gemeinsame Projekt IL einlassen oder Entwicklungsmöglichkeiten in der IL ungenutzt lassen. Da wir aber grundsätzlich nicht unseren eigenen Auf- und Ausbau auf Kosten anderer Strukturen vollziehen, halten wir die hieraus resultierenden praktischen Probleme für gering. Zurzeit teilen wir nach unserer Einschätzung mit den anderen Berliner Gruppen (noch) nicht die gleiche Perspektive von revolutionärer Organisierung, aber für die Entwicklung einer späteren, gemeinsamen Perspektive ist dadurch nichts verloren – es ergeben sich im Gegenteil auch in Berlin Gelegenheiten zur praktischen Zusammenarbeit vor Ort. Avanti ist dabei, über Norddeutschland hinaus zu wachsen. Daraus ergeben sich neue Herausforderungen bei der Entwicklung unserer Strukturen, die die Partizipation der einzelnen GenossInnen, die Autonomie der lokalen Gruppen und die Handlungsfähigkeit als Organisation insgesamt gewährleisten sollen. Wir sind also gerade im Begriff, wichtige neue Erfahrungen mit einer überregionalen Organisierung zu sammeln, die sich nicht mehr auf einen relativ engen geografischen Bereich beschränkt. Damit entstehen gerade auch die Voraussetzungen dafür, dass beispielsweise Gruppen im Süden der BRD hinzukommen können.
Für uns ist die Frage des kontinuierlichen Aufbaus einer bundesweiten revolutionären Organisation weniger eine theoretische oder langfristige, sondern vor allem eine praktische Aufgabe, die ganz aktuell auf der Tagesordnung steht. Dieser Artikel soll daher auch eine Ermunterung für alle sein, die sich von unseren Vorstellungen und Konzepten angesprochen fühlen und mehr aus Gründen der räumlichen, denn der inhaltlichen Distanz bislang gezögert haben, mit uns jetzt in die konkrete Diskussion über Organisierung einzutreten.

Avanti – Projekt undogmatische Linke, Juni 2008