Dokumentiert aus dem Neuen Deutschland vom 13.04.2013:
An diesem Wochenende gehen in über 80 Städten Menschen auf die Straßen, um mit bunten Aktionen für eine Vermögensteuer einzutreten. Organisator ist das Bündnis Umfairteilen. Ende Mai werden Tausende zur Blockade der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt am Main erwartet. Das Blockupy-Bündnis ruft zu Widerstand im Herzen des Europäischen Krisenregimes auf. Niels Seibert und Tom Strohschneider sprachen mit drei politisch Aktiven über Chancen und Perspektiven der Krisen- und Sozialproteste.
nd: Am heutigen Samstag ist Aktionstag der Kampagne Umfairteilen. Was zeichnet Euer Bündnis aus?
Gwendolyn Stilling: Das Bündnis Umfairteilen hat sich im vergangenen Mai gegründet. Ganz unterschiedliche Organisationen wie Attac, Gewerkschaften und Sozialverbände - darunter der Paritätische - haben sich erstmalig in einem breiten, zivilgesellschaftlichen Bündnis zusammengefunden und sich in sehr kurzer Zeit auf sehr konkrete inhaltliche Positionen verständigt. Ziel des Bündnisses ist eine stärkere Besteuerung von Reichtum, um Investitionen in das Gemeinwesen und notwendige soziale Reformen zu finanzieren, um Armut zu bekämpfen. So eine breite zivilgesellschaftliche Bewegung für soziale Gerechtigkeit gab es vorher noch nicht. Der Vielfalt der Akteure - über 24 bundesweite Organisationen, und zahllose Unterstützer - ist es geschuldet, dass dabei unterschiedliche Meinungen hineinspielen, zum Beispiel wofür konkret umverteilt werden soll. Trotz allem ist es gelungen, zum bundesweiten Aktionstag im September gemeinsame Aktivitäten auf den Weg zu bringen. Heute sind zum zweiten Mal an über 80 Orten Aktionen geplant.
Kampagne gegen Ceta
Wie verortet Ihr Euch auf dem Feld der Sozial- und Krisenproteste?
Ani Dießelmann: Für die Interventionistische Linke (IL) ist wichtig, in den Krisenprotesten auch eine grundlegende Kritik an den bestehenden Verhältnissen in den Fokus zu stellen. Es geht uns also um mehr als nur innerhalb dieses Systems etwas ein bisschen zu verbessern. Und das muss bei Blockupy sowohl inhaltlich als auch aktivistisch einen Ausdruck finden. Wir wollen sozusagen einen Schritt weiter gehen. Es reicht uns nicht aus, eine Demo zu machen und darauf hinzuweisen, dass irgendwas falsch ist. Wir starten Versuche, gemeinsam in einen Lernprozess zu kommen, zu überlegen, was möglich ist, ohne dass wir selber den Ausgang davon kennen.
Peter Grottian: Ich bin ja eher der Typ des leicht bemoosten Karpfen, der seit 30 Jahren in sozialen Bewegungen tätig ist. Einer meiner Schwerpunkte ist das Engagement gegen Rüstungsexporte im Bündnis »Aktion Aufschrei - Stoppt den Waffenhandel«, hier insbesondere in der Kampagne »Legt den Leo an die Kette!«. Das Aufschrei-Bündnis ist mit über 100 Gruppen und Organisationen das bisher breiteste in der Geschichte der Republik.
Diese Bewegungen gegen Rüstungsexporte und Militäreinsätze zeigen das Problem vieler sozialer Bewegungen. Die große Mehrheit der Bevölkerung ist gegen Rüstungsexporte. Und trotzdem haben wir ungeheure Probleme, Menschen bis zur Mitte der Gesellschaft zu mobilisieren. Dieses Unvermögen ist damit gepaart, dass wir zurecht meinen, unsere Aktivitäten bleiben wirkungslos, weil sie die Herrschenden nicht sonderlich ernst nehmen. Und das hängt damit zusammen, dass wir in den sozialen Bewegungen ein etwas schwieriges Verhältnis zu radikaleren Protestformen, zum Beispiel des zivilen Ungehorsams, haben.Zwar gibt es Vorzeigbares: Blockaden gegen Rechtsextremismus, Stuttgart 21, auch die Anti-AKW-Bewegung hat da einiges vorzuweisen. Aber wir haben auch viele Felder, wo im Grunde genommen nichts an Bewegungen passiert. Damit meine ich vor allem die soziale Frage.
Und ich glaube, das zentrale Problem ist: Mit unseren bisherigen Aktionen schaffen wir es nicht, unsere Inhalte zu einem wirklich echten gesellschaftlichen Konflikt werden zu lassen. Wir bleiben immer unterhalb der Schwelle. Wir sind froh, wenn wir mal einen Tag was Tolles produziert haben und die Medien darauf anspringen. Aber einen nachhaltigen Druck zu einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung bringen wir im Moment nur in Ausnahmefällen zustande.
Was wäre ein echter gesellschaftlicher Konflikt?
Grottian: Wenn ich das an der Rüstungsfrage klar machen soll: Wir haben Heckler & Koch belagert, die große Waffenschmiede. Ich hatte den Eindruck, die Manager des Unternehmens schauen auf die Uhr und sagen: »Wir werden nicht die Polizei rufen, denn um 13 Uhr sind die ja fertig.« Das heißt, sie sitzen das aus. Es wäre schon anders, wenn Kampagnen nicht nur auf einen oder zwei Tage beschränkt sind und somit einen Konflikt auf Dauer produzieren. Wenn ein massenhafter Protest anhält und mit Formen des zivilen Ungehorsams kombiniert wird, dann passiert etwas, mit dem die Herrschenden schwer umgehen können, weil das für sie ungeordnet ist und die Folgen nicht absehbar sind. Man weiß nichts über die Dynamik, die daraus entstehen kann, und das macht die Herrschenden unsicher.
Dießelmann: Immer da, wo Menschen das Gefühl haben, sie können gewinnen, dort passiert auch wirklich was. Als Beispiel: die Blockaden der Naziaufmärsche oder die Verhinderung von Zwangsräumungen. Das sind ganz konkrete Kämpfe mit Erfolgsaussicht.
Blockupy ist nicht nur ein Tag. Blockupy ist eine mittelfristig angelegte Kampagne, die die EZB in den Fokus nimmt und mindestens bis zur Verhinderung der Eröffnung des EZB-Neubaus 2014 andauert. Und die Idee von Blockupy ist, diese konkreten Kämpfe aus unterschiedlichen Bewegungen und Städten nach Frankfurt zu holen und sie auch lokal zu stärken.
Grottian: Naja, geht das über das Punktuelle hinaus? Blockupy ruft zu einem Aktionstag und einer Demonstration am 31. Mai bzw. 1. Juni auf. Da gibt es schon das ganz dicke Problem, ob die Stadt, wie im vergangenen Jahr, die Proteste erneut verbieten wird. Und dann ist die spannende Frage für die Bewegungen: Was ist der Plan B?
Dießelmann: Nein, zunächst ist Plan A weiterhin aktuell. Würden sie uns die Bankenblockade erlauben, bräuchten wir die Bank nicht mehr zu blockieren. Es geht doch darum, das Verbot nicht zu akzeptieren. Das ist doch die anziehende Idee des zivilen Ungehorsams, sich nicht auf Fragen der Legalität einzulassen. Wenn es legal wäre, dann wäre es kein ziviler Ungehorsam mehr.
Grottian: So kann man mit dem Demonstrationsrecht nicht umgehen. Es geht um Demonstrationen und zivilen Ungehorsam. Es kann uns nicht egal sein, ob die Stadt Frankfurt in einer Gefahrenprognose so tut, als ob durch Demonstrationen und Protestcamps die Stadt dem Untergang geweiht ist. Das Demonstrationsrecht zurückdrehen, hinter den Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, das geht auf keinen Fall. Das heißt, eine unbequeme Demonstration und eine Umzingelung des Bankenviertels müssen für eine Stadt aushaltbar sein. Insofern bestehe ich darauf, das Demonstrationsrecht nicht einzuschränken, um auch die Möglichkeit zu haben, einen vielfältigen Protest zu organisieren, der viele bis in die politische Mitte anspricht. Wir wissen ja aus den sozialen Bewegungen, dass es viele Menschen gibt, die eine Demonstration mitmachen, aber dann bei Aktionen des zivilen Ungehorsams sehr vorsichtig werden.
Stilling: Du hast recht, mit Vielfalt erreicht man mehr. Bei aller persönlichen Sympathie, die man für zivilen Ungehorsam, für Blockaden und Aktionen haben kann: Diese schrecken jedoch viele Leute auch ab, die nicht aus der Szene kommen, die nicht dazu bereit sind, ihre Interessen in dieser Form zu vertreten.Wir vom Paritätischen Gesamtverband kommen aus einer ganz anderen Ecke. Wir werden und können zu Blockupy nicht aufrufen. Und wir werden auch nicht unsere Krankenhäuser und unsere Kitas dazu bewegen können, mitzumachen. Aber in unserem Bündnis Umfairteilen, da können wir was bewegen und bringen im Prinzip auch genau die Menschen mit, von denen Ihr sprecht und die Ihr erreichen wollt. Unser Verband ist ein Dachverband von 10 000 Organisationen, von der Elterninitiative über den Pflegedienst bis zur Selbsthilfegruppe aus dem Gesundheitsbereich. Sie stehen jetzt hinter dieser Kampagne. Wir haben es geschafft, einen innerverbandlichen Diskussionsprozess anzustoßen und eine Position zu entwickeln und zu verabschieden, die sich für eine gerechte Steuerpolitik ausspricht.
Grottian: Die Frage ist, ob man ein bisschen mehr tun könnte. Das Bündnis Umfairteilen ist ja in seiner Breite beeindruckend. Aber die Breite führt dazu, dass man wechselseitig sehr viel Rücksicht nehmen muss auf die jeweiligen Forderungen und die jeweilige Radikalität. Dennoch sollte der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband doch mal eine interne Diskussion darüber führen, inwiefern er entlang seiner Forderungen mal ein bis zwei Tage seine Arbeit niederlegt. Das hätte eine sehr große Aufmerksamkeit zur Folge und würde das Recht nur mäßig verletzen. Aber man würde damit ausdrücken, dass die Mitarbeiter des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes die soziale Frage nicht nur in Forderungen an den Staat aufrufen, sondern auch mit eigenem Protest glaubwürdig dynamisieren.
Kann der Paritätische das tun, was die Gewerkschaft nicht macht: streiken?
Stilling: Wir sind keine Gewerkschaft, die mit flächendeckenden Streiks drohen kann. Wir sind kein Wirtschaftsunternehmen, das mit Massenentlassungen oder Abwanderung drohen kann. Wir haben aber unsere Öffentlichkeitsarbeit, worüber wir unseren Forderungen Druck verleihen können. Unsere Struktur ist absolut auf Dezentralität aufgebaut. In der Hauptgeschäftsstelle des Paritätischen Gesamtverbandes haben wir 80 Mitarbeiter. Unsere Mitglieder sind eigenständige Organisationen. Da gehört der Kinderschutzbund dazu, die Volkssolidarität und viele mehr, mit denen wir Stellungnahmen abstimmen. In Facharbeitskreisen werden Positionen vorbereitet, die dann verabschiedet werden können. Wir können für eine Idee werben, aber nichts von oben beschließen oder anweisen.
Dießelmann: Das ist bei uns auch so: In der IL wird niemandem vorgeschrieben, an Aktionen des zivilen Ungehorsams teilzunehmen, wenn er oder sie sich das nicht traut. Aber bei Umfairteilen fehlt mir die Einsicht in die Notwendigkeit zu Grenzüberschreitungen. Zu fordern, dass man in diesem System ein bisschen besser verteilen kann, finde ich inhaltlich äußerst schwach, und selbst wenn es umgesetzt würde, macht das die Welt doch nicht gerechter.
Grottian: Mein Punkt ist eher: Es gibt kaum eine Debatte über den Stellenwert des zivilen Ungehorsams innerhalb der jeweiligen Strategie. Das gilt für Attac, für Wohlfahrtsverbände, für Gewerkschaften, für Kirchen - aber auch für die LINKE.
Stilling: Aber genau das ist im vergangenen Jahr passiert. Unsere hauptamtlichen Mitarbeiter waren hier in Berlin mit auf der Straße. Auch unsere Kreisgruppen haben in den unterschiedlichen Orten demonstriert. Umfairteilen hat also ganz viel in Gang gesetzt, gerade auch nach innen. Und die Lernprozesse laufen noch. Vor Ort sitzen die Attacis zusammen mit den Paritätischen Vertretern, mit den Naturfreunden, mit der AWO und kirchlichen Verbänden, mit Gewerkschaftern und überlegen sich Formen, um ihren Forderungen Ausdruck zu verleihen. Das ist dann mal eine Menschenkette, mal ist es eine Demonstration, mal eine Informationsveranstaltung. Vieles machen wir zum ersten Mal. Das ist bei uns gerade ein sehr spannender Prozess.
Die Schuldenbremse hat praktisch alles zugespitzt. Deswegen denke ich: Ein gesellschaftlicher Konflikt entsteht doch jetzt gerade. Unsere Mitglieder haben gemerkt, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht. Den Menschen, mit denen wir tagtäglich zu tun haben, geht es schlechter und gleichzeitig werden vor Ort Mittel gekürzt. Unsere Rahmenbedingungen für unsere soziale Arbeit werden immer enger. Und das hat bei uns im Verband die Diskussion in Gang gesetzt.
Wer fällt beim Paritätischen letztlich die Entscheidungen, sich beispielsweise an einer Kampagne zu beteiligen?
Stilling: Bei uns kann der Verbandsrat, ein Gremium mit Vertretern unserer Mitgliedsorganisation, inhaltliche Positionen fassen. In dem Verbandsrat sitzen übrigens auch Vertreter aller Parteien. Da diskutiert ein ehemaliger FDP-Minister mit einer CDU-Frau und dem Linksabgeordneten aus Thüringen. Und alle haben vor der Sitzung ihr Parteibuch abgegeben und gesagt, die Situation ist ernst und deswegen müssen wir praktisch etwas tun. Und ab diesem Zeitpunkt haben wir als Dachverband ein Mandat gehabt, auch praktisch loszulegen.
Dießelmann: Wenn Ihr 10 000 Vereine habt, dann kommt ja im Verhältnis dazu fast niemand zu Euren Aktionen. Ich würde die These wagen, dass niemand kommt, weil niemand daran glaubt, dass eine gerechte Steuerpolitik wirklich was verändert. Es fehlt die Kontroverse zu etwas Bestehendem.
Stilling: Massen mobilisieren, das ist nicht unsere Priorität. Das ist auch nicht das, was wir praktisch beitragen können. Es war im Bündnis von Anfang an klar, dass wir nicht die sind, die plötzlich 100 000 Menschen auf die Straße bringen.
Grottian: Das schaffen wir ja auch nicht.
Stilling: Wenn wir unsere Rundschreiben rausschicken, dann landen die auch bei Trägervereinen, die können die Inhalte weiter multiplizieren. Und das hängt dann vor Ort davon ab, wo unser Verbandsmagazin landet und wie es verbreitet wird. Was ich an Rückmeldungen erhalte oder vor Ort selbst erlebe, ist, dass Diskussionen in Gang kommen, dass unsere Arbeit viel bewegt, dass neue Kooperationen entstanden sind, aus denen etwas wachsen kann. Wir sind natürlich noch nicht so weit wie die Anti-Atombewegung oder andere.
Dießelmann: Ich glaube, dass im internationalen Maßstab ein Großteil der Bevölkerung viel weiter ist, als viele hier denken. Es gibt eine deutlich geäußerte grundlegende Kapitalismuskritik. Ob die Steuer ein bisschen höher ist oder ein bisschen niedriger, das verändert weder die Krisen- noch die politische Situation. Und es verändert auf keinen Fall Machtverhältnisse. Und darum geht es doch. Solange es in diesen kleinen Kämpfen bleibt, wachsen die Politikverdrossenheit und die Demotivation, sich überhaupt zu äußern. Die Lösung haben wir auch nicht, sonst wären wir bei Blockupy viel mehr und schon bei ganz anderen Aktionen. Aber wir kommen nicht daran vorbei, konkret einen Widerspruch mit den Verhältnissen aufzumachen, der unversöhnlich ist und eine neue Perspektive aufmacht.
Stilling: Bei uns im Bündnis gibt es spannende Diskussionen um Perspektiven. Angefangen bei der Frage, wie nennen wir uns? Wie soll unser Slogan lauten? Und da prallen ganz unterschiedliche Kulturen aufeinander. Attac und Campact haben gesagt: Wenn wir mobilisieren, dann geht das nur gegen irgendwas, sonst kommen die Leute nicht auf die Straße. Als in meinem Arbeitskreis die ersten Plakatentwürfe kamen, hieß es: »Um Himmelswillen! Wir wollen doch keinen Klassenkampf, wir wollen uns doch für etwas einsetzen.« Wir haben eine wirklich andere Herangehensweise, und trotz aller Konflikte ist das Bündnis nicht auseinandergebrochen.
Dießelmann: Das ist doch ein Scheinkampf. Dafür oder dagegen ist doch egal. Wenn man für etwas Neues ist, ist man immer gegen etwas Altes. Und wenn man gegen etwas Altes ist, dann muss man eine Utopie aufmachen.
Grottian: Es stellt sich natürlich die Frage, ob man damit einen Verband wie diesen mit einem Radikalitätsanspruch nicht überfordert. Man muss schon sehen, in welchem Rahmen der Paritätische Wohlfahrtsverband arbeitet. Und der ist in vieler Hinsicht von den Herrschenden schlicht und einfach abhängig. Aber der Bewegungsspielraum könnte etwas ausgeweitet werden.
Anti-AKW-Bewegung, Stuttgart 21, Dresden nazifrei sind bewegungspolitische Erfolgsmodelle. Warum gelingt dieser Erfolg bei sozialen Konfliktlinien nicht?
Grottian: Betroffenheit im Niedriglohnsektor oder durch Erwerbslosigkeit - das sind ca. 13 Millionen Menschen - führt weder in Deutschland noch in mitteleuropäischen Gesellschaften zur politischen Selbstorganisation. Auch wenn eine Million Hartz-IV-Empfängerinnnen und -Empfänger nochmals zusätzlich abgestraft werden oder demnächst ärztliche Gesundheitstestate überprüft werden, führt das nicht zu irgendeinem Protest. Schlimmer: Fast die ganze Republik schweigt. Blockupy und Umfairteilen sagen zurecht, sie thematisieren die soziale Frage, aber die Mobilisierung von sozialem Protest gegen Hartz IV ist nicht ihr Metier.
Dießelmann: Ich will der Frage und auch der Antwort in einem Punkt widersprechen. Es gibt durchaus exemplarische Momente, in denen in Europa vorhandenes Mobilisierungspotenzial gegen die Krisenpolitik genutzt wurde. Zum Beispiel gibt es aus Griechenland die Erfahrung, dass die Grundsteuer trotz Demonstrationen eingeführt, dann aber auf Eis gelegt wurde, nachdem sie massenhaft nicht bezahlt wurde. Das war eine starke Erfahrung für ganz normale Leute, die sich mit ihren Nachbarn auf das Nichtzahlen verständigten. Plötzlich verändert sich real etwas. So einen Moment muss man erzeugen, wenn man soziale Proteste haben will. Uns fehlen Ansätze, wie wir in konkrete Abläufe eingreifen und einen Konflikt offenbar machen können.
Grottian: Ja, aber wie wird der wirkliche Konflikt offenbar? Was ist die positive Vorstellung von dem, was Ende Mai erreicht werden kann in Frankfurt außer einem Ein-bis-Zwei-Tage-Ereignis?
Dießelmann: Ich finde schon dieses Tagesereignis sehr relevant. Es ist notwendig, um überhaupt eine gemeinsame Stimmung zu erzeugen und das Entstandene aufrechtzuerhalten. Abgesehen davon sind das ja keine Leute, die aus ihren Gräbern für einen Tag auferstehen, sondern sie kämpfen an ihren Wohnorten das ganze Jahr über. Und die Idee von Blockupy und anderen Sozialprotesten ist, das zu verbinden, die stillen Proteste an den Arbeitsämtern, die Bildungsstreiks, die ganzen fragmentierten Bewegungen einzufangen und zu einem Großen zusammenzubringen.
Erst über das gemeinsame Ausprobieren und Erleben von neuen Aktionsformen entsteht überhaupt die Erkenntnis, dass es klappen kann. Jeder, der schon einmal durch eine Polizeikette gelaufen ist, weiß, dass es funktioniert. Alle, die Heiligendamm miterlebt haben, haben das Gefühl, etwas Großes bewegen zu können. Dafür reichen auch ein, zwei Tage, um das Gefühl mit nach Hause zu nehmen.
Grottian: Ich habe den Eindruck, die Herrschenden beeindruckt das nicht. Die Proteste werden wahrgenommen, sind aber nicht die Zündschnur für einen gesellschaftlichen Konflikt, der eine neue Qualität von Auseinandersetzungen bringen könnte. Nach Frankfurt werden voraussichtlich nicht mehr als 20 000 Menschen kommen. Blockupy wird einfach weggesteckt, wenn es nicht konfrontativer wird. Eine zusätzliche Dynamik könnte entstehen, wenn die Proteste in die Reichtumszonen um Frankfurt, also in Kronberg, Bad Homburg und Königstein getragen werden. Wenn man den Verantwortlichen auf die Zehen oder sogar vors Schienbein tritt, würde das wahrscheinlich erheblich Eindruck machen: Persönliche, politische und professionelle Verantwortlichkeit würden sichtbar im Protest gebündelt.
Stilling: Wir sind uns eigentlich einig: Wir müssen politisch Druck machen. Wir müssen aus der miserablen Lage ein politisches Problem machen, das die Verantwortlichen wirklich dazu zwingt, zu handeln.
Dießelmann: Nee, da sind wir uns nicht einig. Mir geht es nicht darum, den Verantwortlichen zu sagen, was sie besser machen könnten. Ich finde, die haben gar keine Legitimation dazu, das zu tun. Mir geht es darum, es komplett neu und selbst zu machen.
Stilling: Dann hast Du recht, da sind wir uns nicht einig.
Glaubt Ihr, die Menschen werden zu Euch strömen, nur weil die Protestformen radikaler werden?
Grottian: Ich setze auf eine größere Toleranz und Dynamik von unterschiedlichen Radikalitäten, wie das zum Beispiel in Gorleben oder bei Stuttgart 21 praktiziert worden ist. Aber dem muss eine Diskussion der unterschiedlichen Radikalitäten vorausgehen. Demokratie und ziviler Ungehorsam gehören zusammen. Ziviler Ungehorsam ist nicht Schmuddelkind, sondern Leuchtturm der Demokratie. Da hätte der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband noch Lernpotenziale.
Stilling: Ich denke auch, unterschiedliche Protestformen sind kein Widerspruch. Und bei uns im Verband – wir diskutieren nicht über zivilen Ungehorsam – regen wir uns nicht darüber auf, was andere Akteure wie organisieren, sondern wir bringen uns in diese eine Kampagne ein, die nun eben auf Demonstrationen, auf bunte Aktionen, auf politischen Druck, auf Öffentlichkeitsarbeit setzt, um etwas zu bewegen. Das finde ich eine gute Sache. Und was drumherum passiert, das soll ja auch mit passieren. Und dann werden wir sehen, wie es weiter geht. Wir stehen da am Anfang von etwas Neuem.
Dießelmann: Es gibt ja auch nicht *den* zivilen Ungehorsam. Wo fängt er an, wo hört er auf? Es kann ganz viel ausprobiert werden. Wir werden aber nicht allein wegen radikaleren Protestformen mehr. Ob eine Kampagne gut wird, lässt sich nicht daran ablesen, welche Protestformen denkbar sind, sondern vor allem auch, was inhaltlich gesagt wird. Und ich glaube, die Leute sind nicht so blöd und bewerten sehr wohl Proteste danach, wo sie das Gefühl haben, da wird ein Thema aufgerufen, da wird eine Position vertreten, die ich selbst richtig finde. Ich halte es auch für notwendig, dass in den Sozialprotesten eine globale Perspektive existiert. Ich kann Proteste nicht ernst nehmen, wenn sie sich auf das Sichern unseres deutschen oder europäischen Wohlstand beziehen.
Stilling: Proteste sind umso erfolgreicher, desto konkreter es für die Menschen greifbar wird. Du hast eben als Beispiel die Zwangsräumungen erwähnt, wo es den Nachbarn direkt betrifft und plötzlich stehen alle da. Sicher, in unserer Plattform hätten wir globale Aspekte und vieles andere noch mehr mit hineinnehmen können. Aber für die Menschen ist es greifbar, was bei ihnen vor Ort in den Kommunen passiert, was sie an Ungleichheit allein hier im Straßenbild sehen. Das ist erst mal das Naheliegendere und ein erster Schritt, um viele Menschen vor Ort anzusprechen und abzuholen.
Blicken wir in die Zukunft. Umfairteilen und Blockupy haben sich ein zeitliches Ziel gesetzt: die Bundestagswahl bzw. die Eröffnung des Neubaus der EZB. Was sind die Perspektiven für die Zeit danach?
Stilling: Bei der Bundestagswahl werden erst mal die Karten neu gemischt und dann werden wir schauen, was in der Regierungserklärung steht. Und dann werden wir sehen, wie es weitergeht. Klar ist, dass wir als Verband an dem Thema dran bleiben, wir werden ja nicht nach der Bundestagswahl sagen, jetzt ist uns soziale Gerechtigkeit egal.
Grottian: Aber nach der Wahl ist hier nicht Ruhe im Busch. Merkel wird diese Wahlen mit dem Slogan »In schlechten Zeiten in guten Händen« gewinnen. Bei einem schwarz-grünen Bündnis, was ich für wahrscheinlich halte, kann man sich ja jetzt schon den Koalitionsvertrag ausmalen. Die Gründe für zuspitzende Proteste werden deshalb zunehmen.
Dießelmann: Bei vergangenen Wahlen gab es ja auch keine Veränderungen. Woher kommt also diese Hoffnung, frage ich mich.
Stilling: Es geht um Kampagnenplanung. Und eine Kampagne hat einen Endpunkt. Und in einem Bündnis, in dem verschiedene Partner zusammen agieren, muss man sich immer neu abstimmen. Und deswegen werden wir auch im September wieder zusammensitzen und schauen, was dann gemeinsam machbar ist.
Dießelmann: Für die IL spielt es keine große Rolle, wer nach der Wahl das Sagen hat. Das, was Krisenpolitik ausmacht, geht ja weit darüber hinaus. Genau deshalb zielt unsere Idee auf eine zunächst mal europaweite Vernetzung. Hier verbinden sich ganz verschiedene Bewegungen auch über Ländergrenzen hinweg. Wir können aus Bewegungen anderer Ländern lernen. Und das ist eine Perspektive, die geht weit über 2014 hinaus. Und unsere Ziele nach grundlegender Veränderung der Strukturen, in denen wir leben, bleiben ja bestehen - unabhängig davon, welche Parteien regieren.