Jenseits von NATO und Taliban

Redebeitrag und Veranstaltungsankündigung
Afghanistan zwischen NATO und Taliban
Afghanistan zwischen NATO und Taliban

Rede zur Situation in Afghanistan vom 21.08.2021 in Marburg

Liebe Freundinnen und Freunde,
"Menschen klammern sich an Flugzeuge, und Ihre größte Sorge ist es, dass 2015 sich nicht wiederholt?" Diese Frage stellte der Tagesschausprecher Ingo Zamperoni dem Kanzlerkandidaten der CDU, Armin Laschet.

Wir haben alle die schrecklichen Bilder der letzten Tage und Wochen vor Augen - Die Fluchtbewegung von tausenden von Menschen nach Kabul oder in die angrenzenden Länder. Egal ob kleine Kinder oder alte Männer, junge Frauen oder Kleinbauern. Mal mit verzweifeltem, mal mit hoffnungslosem, mal leerem Blick ins Nichts. Wir alle haben sie gesehen, die Bilder aus Kabul: Die verstopften Straßen auf dem Weg zum Flughafen. Die Kämpfe um einen der zu wenigen Plätze im rettenden Flugzeug. Wir haben die Bilder gesehen von Menschen, die vom Himmel fallen, weil sie sich in ihrer Verzweiflung an startende Maschinen gehangen haben.

Gleichzeitig hören wir den Ansprechpartner der Ortskräfte, der sagt, dass für 80% der Betroffenen keine Hoffnung mehr besteht. Wir hören wie Laschet in der Tagesschau stammelt, das mit 2015 habe er nicht so gemeint. Wir hören wie Heiko Maas gefragt wird, ob er sich schämt. Wir sehen wie niemand verantwortlich sein will für das, was heute passiert oder das, was in den letzten 20 Jahren passiert ist. Und wir wissen beim Anblick der Bilder von Afghanistan: Das ist eine Lüge.

Wir wissen, dass SPD und Grüne Deutschlands Sicherheit am Hindukush verteiden wollten, als sie 2001 den Einmarsch der Bundeswehr gemeinsam mit der NATO beschlossen. Die ersten beiden Kriegseinsätze einer deutschen Armee nach dem Zweiten Weltkrieg, Kosovo und Afghanistan - beschlossen von einer Regierung aus SPD und Grünen. Wir vergessen nicht.

Wir wissen, dass alle Regierungen danach, ob CDU und FDP oder die Große Koalition aus CDU und SPD diesen Krieg und seine Besatzung mitgetragen haben. Mein Onkel war viermal als Soldat in Afghanistan. Um Brunnen und Mädchenschulen zu bauen? Wohl eher um Patroullien zu fahren, Leuten Angst zu machen und gleichzeitig darauf acht zu geben, nicht zu sterben wie 54 andere seiner Kameraden. Wir vergessen nicht.

Wir wissen, dass alle Parteien von CDU und FDP über Grüne und SPD die Abschiebepolitik nach Afghanistan mitgetragen haben. Bis zum bitteren Schluss. Bis zur letzten Patrone wie Horst Seehofer einst treffend sagte. Selbst jetzt geht es von der AFD bis zu den Grünen nur um die immer unrealistischer werdende Evakuierung deutscher Ortskräfte. Alle anderen Menschen sind schwarz, rot, gelb, grün, blau egal. Ganz zu schweigen von den Afghan*innen in den griechischen Lagern an den EU-Außengrenzen. Es gibt keine Worte für das Leid, den Tod und das Unrecht, das ihr, die Herrschenden in diesem Land, Afghanistan und seinen Menschen zufügt. Dass einige heute hier sprechen, wo sie doch nur schweigen sollten, raubt uns die Stimme. Wir vergessen nicht.

Was zu tun ist? Wir wissen es nicht. Die Menschen in oder aus Afghanistan, die uns über Jahrzehnte gesagt haben, dass der Einsatz falsch ist und Afghanistan nicht sicher - Wir haben versucht, ihren Stimmen Gehör zu verschaffen. Aber wir waren zu leise, zu wenige und die Herrschenden zu sehr getrieben vom neuen deutschen Großmachtstreben. AfD, CDU, FDP, SPD und Grüne. Wir wissen wen wir bei der Bundestagswahl nicht wählen. Wir haben keine Illussion, dass Wahlen alleine etwas ändern. Aber wir müssen es ihnen nicht leichter machen als es für sie ist. Damit sich wirklich etwas ändert, dafür müssen müssen wir uns organisieren und aktiv werden. Und wir müssen die Welt verstehen, um sie zu verändern.

Am kommenden Donnerstag, den 26. August, organisieren wir deswegen ein Gespräch auf dem Platz vor der Lutherischen Pfarrkirche zum Thema. Um 18 Uhr werden die Marburger Politikwissenschaftler Dr. Matin Baraki, der in Kabul geboren ist, und Dr. Axel Gehring historische Entwicklungen und aktuelle Perspektiven Afhanistans aufzeigen. Sie müssen jenseits von NATO und Taliban liegen, so viel ist klar - Auch wenn wir diese Perspektive aktuell nicht sehen.

Was wir sehen sind das Versagen und die Verbrechen des westlichen Imperialismus der NATO - mal wieder. Wir sehen die Verbrechen und die reaktionäre, menschenfeindliche Ideologie der Taliban.

Wir sehen die Aktivist*innen, die Feministinnen, die LGBTIQ-Menschen die für ein solidarisches Afghanistan immer noch auf die Straße gehen. Trotz alledem und alledem.

Wir sehen die Freiheitskämpferin Selay Ghaffar von der Afghanischen Solidaritätspartei, die sich aktiv auf die Revolution in Rojava bezieht. Rojava, jene multi-ethnische und kurdische Region in Nordsyrien, deren bewaffnete Frauenselbstverteidigungseinheiten den sogenannten IS besiegt haben und heute die völkerrechtswidrigen Angriffe der Türkei abwehren. Erst diese Woche hat die Türkei ein Krankenhaus im ezidischen Sengal-Gebiet bombardiert. Eziden. Das sind ausgerechnet jene Menschen, die fast einem Genozid des IS zum Opfer gefallen wären, wenn die kurdischen Volksverteidigungseinheiten Rojavas sie nicht befreit hätten. Türkei, jene Türkei, die sich heute anschickt, den Flughafen in Kabul zukünftig zu betreiben. Als Brückenkopf der NATO und ziemlich beste Freunde der Islamisten - ob sie nun Taliban oder IS heißen.

NATO, Taliban, Bundeswehr, Unterdrückung, Abschiebung, Folter, Mord. Afghanistan. Das alles scheint weit weg. Und doch geht es uns so nah, dass wir alle hier sind. Für viele, die heute hier sind, war es nie weit weg. Weil sie Familie dort haben. Freund*innen, Geliebte, Kinder, Väter, Mütter. Wir können euren Schmerz, eure Wut, eure Trauer nicht nachempfinden. Wir schämen uns für die Bundesrepublik Deutschland und seine Politik. Wir sind solidarisch mit euch. Nicht nur durch unsere Kundgebung heute, sondern in unserem gemeinsamen Kampf:

Gegen den Krieg! Das heißt gegen Rüstungsexporte, Auslandseinsätze und gegen deutschen Imperialismus!
Gegen die Reaktion! Das heißt nieder mit den Taliban und nieder mit dem religiösen Fundamentalismus!

Gegen den Rassismus! Das heißt gegen Abschiebung, gegen das Konstrukt von sicheren Herkunftsstaaten, gegen die Lager. Für ein neues 2015, für einen Sommer der Solidarität! Leave noone behind! Luftbrücke jetzt!
Gegen Ausbeutung und Unterdrückung! Für echte Demokratie, für Frauenselbstbefreiung und Ökologie! Ob in Afghanistan, in Rojava oder in Deutschland. Jenseits von NATO und Taliban, jenseits von Kapitalismus und Nationalstaat.

Gegen den Tod und für das Leben!
Nieder mit den Taliban - Es lebe das freie Afghanistan!
Hoch die internationale Solidarität!

Veranstaltungsankündigung:

Afghanistan zwischen NATO und Taliban – Gespräch mit Dr. Matin Baraki und Dr. Axel Gehring

Donnerstag, 26.08.2021
18:00 Uhr
Lutherischer Kirchhof, Marburg
(https://www.facebook.com/events/365775365139961)

Kabul ist gefallen. Innerhalb kürzester Zeit hat die Taliban die Kontrolle in Afghanistan übernommen. Die Politiker*innen reden von Überraschung, ob des schnellen Zusammenbruchs der Republik. Die Zeitungen schreiben vom Scheitern des Westens nach über 20 Jahren militärischen Einsatzes der NATO im Land. Wir alle sehen die Bilder vom Kabuler Flughafen nun täglich. Von immer verzweifelteren Menschen beim Versuch einer der viel zu wenigen Plätze in den rettenden Flugzeugen zu ergattern. Wir haben die Bilder gesehen, wie sich Menschen in ihrer Verzweiflung an startende Maschinen klammern und ihre Kinder an US-Militär Soldat*innen abgeben um sie zu retten.

Wie konnte es soweit kommen? Die Marburger Politikwissenschaftler Dr. Matin Baraki und Dr. Axel Gehring werden in einem Gespräch auf die historische Entwicklung und aktuelle Perspektiven eingehen.

Eine Veranstaltung der Interventionistischen Linken Marburg mit freundlicher Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung Hessen

#LeaveNooneBehind #LuftbrückeJetzt