G8-Proteste: "Nennen Sie es Hooliganismus"

Demonstranten haben ein Recht sich zu wehren, sagt der Berliner Arzt und Linksaktivist Michael Kronawitter. Im Interview mit stern.de spricht er über gewalttätige Proteste beim G8-Gipfel und über die Lust am Steinewerfen.

Nach dem G-8-Gipfel geht die Diskussion um die autonome Szene und den so genannten schwarzen Block weiter. Doch wie urteilt die Szene selbst über die Ereignisse? Und was wollen die Autonomen eigentlich erreichen? stern.de sprach mit dem Szenekenner Michael Kronawitter aus Berlin.

Herr Kronawitter, nach der Auftaktdemonstration in Rostock haben Sie sich nicht von den Steinewerfern distanziert, sondern gesagt, es sei gut gewesen, dass man gesehen habe, dass in Deutschland "nicht alles Friede-Freude-Eierkuchen" sei. Heißt das, Militanz ist ein legitimes Mittel bei Demonstrationen?
Militanz verstanden als eine bewusst eingenommene kämpferische und kollektive Haltung gegen alle Formen von Ungerechtigkeit und Unfreiheit auf der ganzen Welt? Selbstverständlich! Bei Demonstrationen kann man das so pauschal nicht sagen. Es hängt vom Verhalten der Staatsgewalt, also der Polizei, ab, ob offensive militante Gegenwehr seitens der Demonstranten notwendig wird. Andererseits muss man sehen, dass der Staat selbst ständig Gewalt einsetzt, beispielsweise durch Kriegseinsätze, durch Abschiebungen. Diese Gewalt wird kaum hinterfragt.

Sie reden vom Gewaltmonopol des Staates, eine Normalität in Demokratien. Ist es Ihrer Meinung nach in Rostock missbraucht worden?
In Rostock gab es seitens der Polizei zielgerichtete Aktionen gegen Demonstranten, Beamte warfen sogar Steine gegen ungeschützte Demoteilnehmer.

Also hat der schwarze Block nur defensiv reagiert?

Das Selbstverständnis - zumindest das der autonomen Bewegung - ist außerordentlich vielfältig und deckt sich in gewisser Weise mit dem, was Heiner Geißler gesagt hat: Man hält nicht auch noch die andere Wange hin, wenn man geschlagen wird. Wie und mit welchen Mitteln bei einer Konfrontation mit der Polizei reagiert wird, entscheidet sich spontan.

Wie steht die Szene allgemein zur Gewalt?

Es gehört zu den Grundsätzen, dass der Einsatz von Gewalt nie menschenbedrohend sein darf. Der Tod eines Menschen wird nicht in Kauf genommen. Aber man lässt sich auch nichts gefallen - das ist Konsens. Konsens ist beispielweise auch, dass symbolische Aktionen durchgeführt werden.

Meinen Sie damit Sachbeschädigung?

Wenn die Filiale einer Großbank entglast wird, dann ist das ein Angriff auf ein Wirtschaftsystem, das seinerseits dafür verantwortlich ist, dass alle paar Sekunden ein Kind an Hunger stirbt. Das mag eine verkürzte Symbolik sein, aber sie wird allgemein verstanden. Daher auch der Spruch: "Scheiben klirren - ihr schreit. Menschen sterben - ihr schweigt". In Frankreich oder Italien wird es zum Beispiel nicht gleich zum Skandal erklärt, wenn Scheiben eingeworfen werden. Das scheint ein speziell deutsches Phänomen zu sein. Insgesamt ist das eine verlogene Debatte.

Im Prinzip kann sich bei Großdemonstrationen wie in Rostock jeder dem schwarzen Block anschließen. Wie gehen Sie damit um, wenn Hooligans dabei sind? Leute, die keine politischen Ideen haben, sondern einfach nur Lust, Steine zu werfen?

Wie kommen Sie darauf, dass Leute, die Lust haben Steine zu werfen, ausschließlich Hooligans sein sollen? Ist denn bei Ihnen schon jede Leidenschaft abhanden gekommen, einmal vor lauter Lust etwas bestimmtes - unter Beachtung der körperlichen Integrität von Unbeteiligten - so richtig zu verwüsten? Einen ganzen Abschiebeknast für Flüchtlinge so richtig zu demontieren, zu zerlegen und kaputt zu hacken kann ich mir als eine Aktion voller Leidenschaft und Lust gut vorstellen. Sie können diese Lust dann ruhig Hooliganismus nennen.

Man könnte auch einfach von Straftaten sprechen.

Auf jeden Fall finde ich es toll, und das spricht doch sehr für die autonome Bewegung und den schwarzen Block, dass sich an ihren Aktionen prinzipiell - wie Sie richtig feststellen - "jeder anschließen kann" - mit Ausnahme natürlich von Nazis und Polizeiprovokateuren. Das macht doch große Hoffnung.

In Rostock hat sich der so genannte schwarze Block international zusammengesetzt - wie haben die Leute aus den verschiedenen Ländern zusammen gefunden?

Das meiste hat sich spontan in den Camps ergeben. Durch Gespräche und Reflexionen wird trotz vieler Unterschiede klar, wer zusammen hält. Autonome agieren vorwiegend in kleinen Gruppen und gefährden niemanden, der das nicht will. Keiner wird zu irgendwas gezwungen.

Abgesehen von der Auftakt-Demo in Rostock ist es bei den späteren Aktionen relativ friedlich geblieben. Lag dem eine gemeinsame Entscheidung zu Grunde?

Sie verstehen unter "friedlichen Aktionen" vermutlich das, was darunter in den etablierten Institutionen und vor allem von der Polizei verstanden wird: unwirksame Aktionen. Da möchte ich widersprechen. Über 10.000 Leuten wanderten in die gesicherte Rote Zone an den Zaun um Heiligendamm, obwohl sie vom Boden und aus der Luft gesichert wurde. Die Polizei wurde in geeigneter Form wahlweise umgangen oder wo notwendig auch überrannt. Knüppel und Steine waren dafür wirklich nicht nötig.

Gleichwohl: Nach Rostock gab es enorme Spannungen zwischen militanten Gruppen und friedfertigen Demonstranten. Wie sind die Autonomen damit umgegangen?

Es gab zwar eine große Diskussion über die Unterscheidung von bösen militanten und guten friedlichen Demonstranten, die nach Rostock plötzlich gemacht wurde. Aber es gab keine Strategieänderung. Die Blockade der Zufahrtsstraßen nach Heiligendamm war beispielsweise eine Form des zivilen Ungehorsams, die von Autonomen praktiziert wird. Diese Entschlossenheit zu blockieren, war militant. Es ist ja überhaupt nicht so, dass die Autonomen etwas gegen pazifistische Demonstranten hätten. Aber man muss auch sehen, dass durch die gewisse Militanz seitens der Autonomen das Interesse an der Bewegung erhöht wird.

Entschuldigung: Sie begreifen Gewalt auch als Marketingmaßnahme?

Das Wort "Marketing" ist ja eher ein Begriff aus Ihrem Metier. Aber: Die Antiglobalisierungsbewegung wäre nicht da, wo sie heute ist, wenn es nicht die Hinterfragung des Gewaltmonopols durch militante Aktionen gäbe.

Nach den Vorfällen während des G-8-Gipfels hat Innenstaatssekretär August Hanning nun angekündigt, die autonome Szene künftig intensiver zu bewachen - mit V-Leuten, Abhörung und Observation. Was hat das Ihrer Meinung nach für Konsequenzen?

Die Versammlungsfreiheit ist in den vergangenen Jahren ohnehin schon immer stärker eingeschränkt worden, die Aufrüstung der Polizeibeamten und die Durchleuchtung der ganzen Bevölkerung hat zugenommen. Die Legitimation läuft über die Terrorhysterie trotz Abwesenheit irgendeiner bewaffneten Opposition oder ähnlichem hier. Ich denke, dass damit letztlich auch gegen Armutsproteste vorgegangen werden soll, die werden nämlich zunehmen. Wer heute als Linker aktiv ist, muss ohnehin schon mit Totalüberwachung rechnen. Wenn sich das noch steigert, könnte es letztlich sein, dass Leute in klandestine Strukturen überwechseln, aber das ist nur meine persönliche Einschätzung.

August Hanning sagt auch, die autonome Szene habe monatelang gezielt darauf hingearbeitet, Gewalttaten zu verüben.

Die autonome Bewegung hat sich nicht anders auf den G-8-Gipfel vorbereitet, als andere Gruppen auch. Dass es offensive Momente geben könnte, war abzusehen, dass sich viele auf Demonstrationen nach Möglichkeit vermummen, war auch von vornherein klar. Jede Demonstration ist mittlerweile ein überwachter Raum. Wenn man sich dieser Staatskontrolle entziehen will, bleibt einem gar nichts anderes übrig, als sich zu vermummen. Dass darüber hinaus etwas geplant worden sei, ist ein konstruierter Vorwurf, der letztlich dazu dient, die Kontrolle aufzurüsten. Autonome Gruppierungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht hierarchisch organisiert sind, es gibt keine Anführer und auch keine Schlachtpläne.

Sie sind Arzt und arbeiten als solcher auch bei Demonstrationen. Trotzdem sprechen sich nicht gegen militante Aktionen aus. Ist das nicht ein Widerspruch?

Zunächst mal: Ich bin für eine gewaltfreie Gesellschaft, aber von der sind wir leider weit entfernt. Gerade deshalb ist Gewalt als Mittel sehr kritisch zu sehen. Bei den Autonomen gibt es eine große Sensibilität für dieses Problem, und den stetigen Versuch, verantwortlich und verhältnismäßig damit umzugehen.

Aber Autonome agieren ja schon sehr offensiv.

Es wird immer so gesehen, als würde von den Autonomen ein Konsens gebrochen, dabei sind es der Staat und die Polizei, die Gewalt ausüben. Als vor Heiligendamm das Greenpeace-Schlauchboot überfahren wurde - das war brutale Gewalt. Menschen hätten sterben können. Die in Heiligendamm auch von Autonomen vereinzelt ausgehenden offensiven Formen der Gegengewalt stehen auch nicht im kleinsten in einer ernsthaften Konkurrenz mit dem staatlichen Gewaltpotential. Als Arzt in Berlin sehe ich auch jeden Tag, dass Menschen nicht mehr leben wollen, weil sie durch Hartz IV gedemütigt werden, weil sie ihre Wohnung verloren haben. Auch das ist eine Form von Gewalt, die Leben aufs Spiel setzt. Und was Demonstrationen betrifft: Ich sage nicht, dass die Polizei immer Schuld ist. Autonome sind offensiv, keine Frage. Aber in Rostock hat vor allem die Berliner Polizei aggressiv eingegriffen - und das war kein Einzelfall.

Sondern?

Schon vorher haben Berliner Demonstranten Gewalt durch Polizisten erfahren und konnten nichts dagegen tun, sämtliche Verfahren wurden eingestellt. Wenn man all das berücksichtigt, ist es einfach nur scheinheilig, zu sagen, die Gewalt ginge von den Autonomen aus.

Sie selbst wurden in Unterbindungsgewahrsam genommen, während Sie bei einer Blockade als Arzt im Einsatz waren. Mit welcher Begründung?

Ich vermute, dass hat damit zu tun, dass ich mich nicht öffentlich davon distanziere, das Gewaltmonopol des Staates in Frage zu stellen. Offiziell wurde mir vorgeworfen, mein Mobiltelefon und mein Walkie Talkie genutzt zu haben, um "Störer" zu "führen". Rädelsführerschaft also. Das zeigt die Denkweise der Staatsmacht: Sie geht davon aus, dass es für alles hierarchische Strukturen und "Anführer" geben muss. Ich bin allerdings seit Jahren in der Szene als einfacher Aktivist unterwegs und habe noch nie einen Autonomen gesehen, der einen Befehl befolgen würde.

Michael Kronawitter ist Mitglied der Interventionistischen Linken und Aktivist im Berliner Sozialforum. Der 38-Jährige lebt als Arzt in Berlin-Kreuzberg. Das Interview führte Andrea Ritter.