Frankfurt klagt an: #KeineEinzeltäter

Anklageschrift zum Prozessauftakt gegen Stephan Ernst

Frankfurt klagt an: Keine Einzeltäter

Vor dem Oberlandesgericht in Frankfurt am Main ist der Neonazis Stephan Ernst angeklagt. Ihm wird vorgeworfen gemeinsam mit Markus Hartmann den Kassler Regierungspräsidenten Walter Lübcke ermordet zu haben sowie ein rassistisch motivierten Messerangriff im Jahr 2016 verübt zu haben. Außerdem legte er ein Liste mit örtlichen Politiker*innen und Mitgliedern der jüdischen Gemeinde an und spähte die dortige Synagoge aus. Ein weitere Prozess findet gegen den Bundeswehrsoldaten Franco Albrecht statt. Zusammen mit mutmaßlichen Mittätern, darunter Maximilian Tischler, einem Bundestagsmitarbeiter der AfD, soll er Anschläge geplant haben. Für die Anschläge sollte ein radikalislamistischer Hintergrund vorgetäuscht werden, um einen rassistisch motivierten Bürgerkrieg auszulösen.

Neonazis mit Zugang zu Waffen, die für ihre Ideologie Morde planen – das scheint normal geworden zu sein in einem Land, das auf die rechte Gewalt seit 1945 vor allem mit
Beileidsbekundungen und Lippenbekenntnissen reagiert hat. Deshalb erheben wir ebenfalls Anklage. Wir klagen an, weil wir nicht vergessen haben. Wir klagen an, dass es große Teile der Politik und Gesellschaft waren, die jahrzehntelang das Klima geschaffen haben, in dem die Morde von Hanau stattgefunden haben. Auch die Seehofers, Maaßens, Palmers, Sarrazins, Weidels und Höckes sitzen auf unserer Anklagebank. Wir klagen an, dass Deutschland nach dem Ende der Nazidiktatur nie umfassend entnazifiziert wurde. Das Gedankengut der Nazis konnte bis heute in der Mitte der Gesellschaft weiterleben. Wir klagen an, dass der Verfassungsschutz vor allem wegen des westdeutschen Antikommunismus gegründet wurde und arbeitslos gewordene Naziverbrecher weiter beschäftigte.
Wir klagen an, dass sich Deutschland der Welt als Erinnerungsweltmeister präsentiert, während eine echte Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer Schuld viel zu lange den Opfern des Faschismus zufiel.
Wir klagen an, dass die Anwerbeabkommen Deutschlands mit anderen Staaten die Gastarbeiter*innen als Menschen zweiter Klasse einstuften. Wir klagen an, dass auch ihre Kinder und Enkel nicht willkommen waren und bis heute zu Fremden erklärt werden. Wir klagen an, dass staatlicher Rassismus und die kapitalistische Überausbeutung migrierter Arbeitskräfte das sogenannte ‚deutsche Wirtschaftswunder‘ erst ermöglichten.
Wir klagen an, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg in beiden deutschen Staaten eine Kontinuität rassistischer Morde gab. Sie wurden sowohl in der BRD als auch in der DDR weitgehend ignoriert.
Wir klagen an, dass im großdeutschen Jubel über die Wiedervereinigung Deutschlands migrantische, Schwarze und jüdische Stimmen ungehört blieben, die vor einem erstarkenden Nationalismus gewarnt haben. Und dass wenige Jahre später Neonazis unter Applaus der Bevölkerung Pogrome und Brandanschlägen verübten.
Wir klagen an, dass es Politiker*innen der CDU, SPD und FDP waren, die mitgemacht haben bei der rassistischen Hetze, die dann in der Abschaffung des Asylrechts mündete. Wir klagen an, dass auch deshalb an den Außengrenzen der EU Geflüchtete getötet werden. Es sind dieselben Politiker*innen, die heute gegen Menschen muslimischen Glaubens hetzen und der rassistischen Pegida-Bewegung großes Verständnis entgegengebracht haben.
Wir klagen an, dass der institutionelle Rassismus, der sich im Umgang mit den Geflüchteten auf dem Mittelemeer und an den griechischen Grenzen zeigt, auch für die rassistische Berichterstattung über die Morde des NSU verantwortlich war. Auch der strukturelleRassismus in den Sicherheitsbehörden hat dazu beigetragen, dass die Aufdeckung der Terrorgruppe so lange ausblieb.
Wir klagen an, dass die hessische Landesregierung von Volker Bouffier die NSU-Akten weiter unter Verschluss hält und den in mehrere Morde verwickelten Verfassungsschützer Andreas Temme weiterhin schützt. Wir klagen an, dass in Frankfurt Polizist*innen des 1. Reviers Drohbriefe versenden, die mit „NSU 2.0“, signiert sind. Wir klagen den durch Corpsgeist geschützten Rassismus an, der kein Einzelfall ist und sich immer wieder zeigt, wenn Polizist*innen Racial Profiling durchführen und marginalisierte Menschen misshandeln.
Wir klagen an, dass ein gesellschaftlicher Aufschrei wegen des rassistischen Mordversuchs an Bilal M. in Wächtersbach ausblieb und dass nach dem Mord am CDU-Politiker Walter Lübcke antifaschistische Gruppen die einzigen waren, die gegen den rechten Terror auf die Straße gegangen sind.
Wir klagen an, dass im Oktober 2019 in Halle nur eine Sicherheitstür den größten antisemitischen Terrorakt seit dem Ende der Nazidiktatur verhindert hat. Wir klagen an, dass die Polizei im Land der Täter*innen nicht fähig oder willens war, eine Synagoge am höchsten jüdischen Feiertag zu schützen.
Wir klagen an, dass Anfang 2020 in Thüringen CDU und FDP mit der Landtagsfraktion des Faschisten Bernd Höcke gestimmt haben, um einen linken Ministerpräsidenten zu verhindern. Wir klagen an, dass diese reaktionäre, anti-demokratische Allianz auf kommunaler Ebene vielerorts schon lange Realität ist.
Wir klagen an, dass die Aufdeckung der Todeslisten und Terrorpläne des rechten Netzwerks Uniter und so vieler weiterer Gruppen nicht dazu geführt hat, dass sich Staat und Gesellschaft mit aller Macht gegen rechts wenden. Jenen, die als Maßnahme gegen rechts lediglich harte Strafen für Gewalttäter fordern, sagen wir: Es waren staatliche Strukturen, die den Boden bereitet haben für den Naziterror.
Wir klagen an, dass rechte Gewalttäter sich aus den deutschen Sicherheitsbehörden rekrutieren, die ihren Rassismus nur zu offen gezeigt haben.
Wir klagen an, dass der Ruf nach Law-and-order für viele Menschen keine Sicherheit bedeutet: Für alle, die von einer imaginierten ‚deutschen‘ Norm abweichen.
Wir klagen an, dass sich der Ausbau des Polizeiapparats nicht zuletzt gegen jene richten wird, die für eine freie und offene Gesellschaft kämpfen und jene, täglich rassistisch diskriminiert werden.
Wir klagen an, dass der Staat eine Mitschuld daran trägt, wenn Nazis Menschen umbringen, die einfach nur eine Shisha-Bar besuchen wollen. Wir klagen an, dass Shisha-Bars vor den Morden von Hanau durch Politik und Behörden mit monatelangen Kampagnen kriminalisiert wurden. Wir werden die Namen der Opfer von Hanau, die für so viele anderen stehen, nicht vergessen.

Wir werden

Ferhat Ünvar
Gökhan Gültekin
Hamza KurtovicSaid Nessar El Hashemi
Mercedes Kierpacz
Sedat Gürbüz
Fatih Saraçoğlu
Kalojan Welkow und
Vili Viorel Păun

niemals vergessen.

Gleichzeitig vergessen wir nicht, dass es diejenigen gibt, die sich gestern wie heute der rechten Gewalt entgegenstellen und für eine Gesellschaft der Vielen eintreten.
Wir haben die Selbstorganisierung migrantischer, antifaschistischer Kämpfe nicht vergessen. Wir haben nicht vergessen, dass sich Menschen dem rassistischen Mob entgegenstellen und antirassistische Kämpfe in Deutschland Solidarität erfahren.
Wir vergessen nicht, dass sich Menschen in Frankfurt und überall gegen Abschiebungen wehren, wenn die eiskalte Logik des europäischen Grenzregimes dafür sorgt, dass Menschen deportiert werden sollen.
Wir vergessen nicht, dass Solidarität unsere Waffe bleibt im Kampf gegen jene, die Menschen aufgrund von rassistischen Zuschreibungen, Religion, zugeschriebenem Geschlecht oder sexueller Orientierung ermorden wollen.
Wir vergessen nicht, wie stark und einig der Ruf nach einem menschenwürdigen Leben für alle ist. Und dass wir es sind, die eine Gesellschaft schaffen müssen, in der alle ohne Angst verschieden sein können.
Wir werden niemals vergessen, dass wir dann unteilbar sind, wenn wir zusammen stehen, zusammen leben und zusammen kämpfen!

Wir klagen an.
Denn wir vergessen nie.