Einige Thesen zur Auswertung von „Stadt für alle“

Strategische Ausgangspunkte von „Stadt für alle“
Wir haben uns Anfang 2016 als IL auf die strategische Orientierung „Solidarity for all“ verständigt, um der sozialen und rassistischen Spaltung angesichts von Krise, Prekarisierung und Fluchtbewegung eine konkrete Utopie entgegensetzen zu können. Dahinter steht für viele von uns die strategische Frage, was das Äquivalent zur Bewegung der Plätze unter den spezifisch deutschen Bedingungen ist. Es ist klar, dass eine einfache Übernahme von Strategien und Konzepten aus Südeuropa nicht funktioniert. Aber wir können trotzdem daraus lernen und versuchen, ähnliche Ansätze unter unseren spezifischen Kampfbedingungen zu entwickeln.
In den letzten Jahren und Jahrzehnten hat es eine massive, allerdings ungleichzeitige Prekarisierung von Lebens- und Arbeitsverhältnissen in etlichen Ländern gegeben, so auch in Deutschland. Denn auch hierzulande sind Aufstiegsmöglichkeiten blockiert und eine Abstiegstendenz greift um sich, die auch weite Teile der Mittelklassen erfasst1. Auf diese gesellschaftliche Situation traf der Sommer der Migration und die autonome Bewegung der Geflüchteten. Viele Menschen aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten/Klassen engagieren sich in „Willkommens-Initiativen“. Andere (Rechtskonservative, vom Absturz bedrohte Mittelschichten, Arbeitslose, Geringqualifizierte, sozial Abgehängte etc.) reagieren auf diese multiple Krise mit einer „exklusiven Solidarität“, indem sie sich als Deutsche gegen die Fremden positionieren. Die politische Rechte heizt diesen Diskurs an, erlebt dadurch einen enormen Aufstieg und kann die gesellschaftliche Dynamik prägen. Ein „dissidentes Drittel“, das sich eine gerechtere Gesellschaft wünscht, artikuliert sich – politisch sehr heterogen, aber „massenhaft“ – vor allem in der Anti-TTIP- und der Willkommensbewegung. Darüber hinaus finden durchaus Kämpfe von Mieter*innen und Beschäftigtengruppen (v.a. im Care-Bereich) und in Recht-auf-Stadt-Initiativen statt, die jedoch oft keine übergreifende Dynamik entfalten. Vor allem wird zunehmend offensichtlich, dass sich die Linke weitgehend von einem Großteil der gesellschaftlichen Milieus entfremdet hat und diese in der Linken keine glaubwürdige Alternative mehr erkennen. Auf diese Situation versucht „Solidarity for all“ eine Antwort zu geben.

Diese Orientierung drückte sich unter anderem in Blockupy, Welcome to Stay, den feministischen Mobilisierungen, Aufstehen gegen Rassismus u.a. aus. Der lokale Ausdruck von „Solidarity for all“ sollten „Stadt für alle“-Initiativen sein, die ganz verschiedene Initiativen und Einzelpersonen hinter dieser Forderung zusammenbringen, um eine gemeinsame Praxis und Sichtbarkeit vor Ort entwickeln zu können. In den letzten Monaten haben eine Reihe von IL-Ortsgruppen versucht, solche Plattformen und Projekte aufzubauen. Nicht alle hießen bzw. heißen „XY für alle“ oder „Solidarity for all“, aber alle waren bestrebt, die genannte Orientierung unter ihren spezifischen Bedingungen vor Ort umzusetzen. So gab bzw. gibt es Ansätze in Frankfurt, Berlin, Leipzig, Hamburg, Lübeck, Bremen, Göttingen, Köln, Aschaffenburg, Heidelberg, Tübingen, Nürnberg (ohne Anspruch auf Vollständigkeit). Sie haben in der Regel versucht, an bestehende Bündnisse anzuknüpfen oder neue zu starten. Schwerpunktmäßig wurden Arbeitsgruppen bzw. Projekte zu den Themen Wohnen, Antirassismus/Welcome to Stay und deren Verknüpfung entwickelt. Zum Teil wurde auch zu den Themen Arbeit, Gesundheit und Bildung gearbeitet.

Eine (kritische) Auswertung unserer bisherigen Erfahrungen
Auf einem Workshop des IL-Camps begannen mehrere dieser Ortsgruppen eine gemeinsame Auswertung ihrer bisherigen Erfahrungen mit „Stadt für alle“. Eine daraus entstandene kleine Gruppe versucht hier, erste Ergebnisse in Thesenform für die weitere Auswertung zur Verfügung zu stellen. Auch wir sind uns untereinander nicht in allen Fragen einig, haben aber versucht, uns eine gemeinsame Perspektive zu erarbeiten und vor allem relevante Fragen und Optionen zu identifizieren.
Insgesamt ist unsere bisherige Bilanz von „Stadt für alle“ ernüchternd. Es ist bisher nicht gelungen, nachhaltig funktionierende Arbeitszusammenhänge aufzubauen und eine soziale Dynamik in der Stadt auszulösen, die in der Lage gewesen wäre, eine größere Aufmerksamkeit zu erreichen, den öffentlichen Diskurs zu verschieben, reale Verbesserungen durchzusetzen und den Krisenstrategien von neoliberalen Eliten und Rechten etwas entgegenzusetzen. Auch wenn sich die Erfahrungen nicht vollständig verallgemeinern lassen und hier nicht alle Aspekte berücksichtigt werden können, lassen sich doch einige gemeinsame Erfahrungen festhalten:

  • Meistens war eines der zentralen Probleme, dass wir versucht haben, ein sehr allgemeines (und tendenziell abstraktes) Dach zu schaffen, unter das wir verschiedene Initiativen und Leute eingeladen haben. Anfänglich gab es eine größere Resonanz auf unsere Initiative und viele Interessierte, Gruppen und Organisationen kamen zu ersten Treffen. Doch oft sind weder wir selbst mit klaren Vorstellungen von anstehenden gemeinsamen Projekten da reingegangen, noch kamen Gruppen oder Einzelpersonen zu uns, die ihre konkreten Kämpfe mitgebracht hätten. Nicht zuletzt haben wir meistens festgestellt, dass wir nur geringe Verbindungen geschweige denn eine soziale Verankerung jenseits der aktivistischen Kreise haben. So sind die „Stadt für alle“-Plattformen nach zum Teil gut besuchten Treffen und einzelnen vielversprechenden Aktionen relativ schnell wieder auf einen kleinen Kern von eher unorganisierten Personen zusammengeschmolzen. Teilweise haben sich die Plattformen wieder aufgelöst, teilweise arbeiten unsere OGs an kleineren Projekten in diesem Rahmen weiter.

 

  • Von Anfang an gab es das Spannungsverhältnis, ob wir das Konzept eher im Sinne einer klassischen Bündnisarbeit mit handlungsfähigen Gruppen und einem klaren Kampagnenfahrplan aufziehen oder ob wir „Stadt für alle“ eher als offenes Label nutzen, das sich viele aneignen können und unter dem wir zu offenen Versammlungen einladen. So richtig der Ansatz einer breiten und offenen Ansprache von unorganisierten Menschen ist, können wir feststellen, dass er unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen und mit unserer bisherigen Herangehensweise als Basis für einen gemeinsamen politischen Arbeitsprozess weitgehend gescheitert ist. Dass der Ansatz des offenen Labels demgegenüber zumindest für eine aktivistische Praxis durchaus auch Vorteile bieten kann, zeigt sich etwa in Frankfurt, wo stadtpolitische Aktivist*innen die Parole „Stadt für Alle“ an Prestigebauten schreiben und damit eine öffentliche Debatte in der Stadt provoziert haben.
  • Der „Mehrwert“ von Bündnissen und Dachkampagnen war in etlichen Städten für bestehende, aktive Gruppen nicht unmittelbar einsehbar. Ihre berechtigte Frage, auf die wir eine Antwort haben müssen, lautet: „Was bringt es für unser Anliegen, wenn wir uns zusätzlich zu unserer Alltagsarbeit – Fahrradwerkstatt, Kleiderkammer, Mieter*innenberatung usw. – die wir sowieso nur mit aller Anstrengung schaffen, jetzt auch noch für ein Netzwerk engagieren?“ Wir haben offensichtlich nicht gut genug vermitteln können, dass bessere Sichtbarkeit und Durchsetzungsfähigkeit durch gemeinsame, starke, gut vermittelbare Aktionen, „Label“, Social Media-Verbreitung, nachhaltige Bündnispraxis usw. entstehen können. Im Versuch, an die Bewegungen der Geflüchteten und der „Willkommen-Initiativen“, der Mieter*innen und prekär Beschäftigten anzuknüpfen, gab es gelungene Projekte mit Ausstrahlung, wurde aber auch eine Spannung deutlich zwischen dem Wunsch vieler Aktiver nach unmittelbarer Vernetzung/Wissensaustausch/konkreter Praxis und dem Ziel langjähriger Aktivist*innen, eine sprechfähige Plattform zu etablieren und in den städtischen Diskurs zu intervenieren. Gleichzeitig bestand oft Misstrauen in aktiven Gruppen, von einem Bündnisprozess oder von der IL (je nach Wahrnehmung als „Bewegungsapparat“ oder als „linke Großgruppe“) vereinnahmt zu werden, die Bewegung forcieren will.

 

  • Eine weitere Frage ist die, ob soziale Zentren als reale Hausprojekte (ob nun besetzt, legalisiert, gemietet oder gekauft) besonders wirksame, symbolkräftige Kristallisationspunkte für „Stadt für alle“-Projekte sein können – und unter welche Bedingungen welche Gruppen und Initiativen in einer Stadt dafür erreicht werden. Die Erfahrungen von Genoss*innen aus Lübeck, Göttingen und anderen Städten sind da spannend, um in der Diskussion und Praxis weiter zu kommen. Darüber hinaus: Welche Vor- und Nachteile haben demgegenüber Kampagnen, die auf Verbesserungen für alle Mieter*innen einer Stadt (oder zumindest für einen bedeutenden Teil) zielen, wie etwa der Mietenvolksentscheid in Berlin? Wie verhalten sich Kämpfe für ein einzelnes soziales Zentrum zu denjenigen um eine allgemeine Verbesserung der Wohnsituation?

 

  • Ferner haben wir festgestellt, dass die einzelnen OGs unter dem allgemeinen Label Stadt für alle relativ unterschiedliche Praxen entwickelt haben und daraus kein gemeinsames, auch überregionales Projekt entstanden ist. Wir stellen uns die Frage, ob die je verschiedenen Bedingungen vor Ort eine solche Heterogenität gewissermaßen erzwingen oder ob es ein solches gemeinsames Projekt geben könnte.

 

  • Nicht zuletzt ist die Frage der Verankerung von „Stadt für alle“ auch eine Frage unserer eigene Verankerung in Milieus (als Einzelne und als Organisation), unserer Sprache und unserer realen Kräfte. Dies könnte uns selbst zurückschrecken lassen vor unseren eigenen Plänen. Denn wenn wir raus gehen aus unserer Bubble, auch aus der Sprache unserer Comfort Zone, rein gehen in existierende Kämpfe, müssen wir uns verständlich machen und Konsense finden. Das Scheitern bzw. Versanden der „Stadt für alle“-Projekte verweist möglicherweise aber auch darauf, dass das Zusammenführen „migrantischer“ mit „sozialen Kämpfen“ der deutschen Gesellschaft allein deshalb nicht so einfach ist, weil das Ausmaß sozialer Kämpfe hierzulande derzeit nicht unbedingt stark ausgeprägt ist. Gleichzeitig ist auch unsere Verankerung in sozialen Kämpfen/Arbeitskämpfen relativ niedrig – im Bereich RaS/Wohnraumkämpfe etwa sind v.a. 4-5 großstädtische OGs aktiv.

 

  • Andererseits: Wann hat „Stadt für alle“ bisher am ehesten funktioniert? Projekte erwiesen sich dann als erfolgreich, wenn es politisierbare Anlässe gab, wir Teil eines konkreten (z.T. auch erfolgreichen) Kampfes waren und wir anderen Gruppen oder Milieus eine substanzielle politisch-solidarische Unterstützung anbieten konnten. Vertrauen, Solidarität und Commitment, etwas gemeinsam umzusetzen, entstehen nicht durch Plattformen oder Räume (reale oder virtuelle), in denen abstrakte Selbstverständnis-Diskussionen geführt werden, sondern durch gemeinsame Arbeit und Erfahrungen. Das war der Fall in Lübeck, wo wir Teil einer Solidaritätsbewegung waren, die den solidarischen Transit mehrerer tausend Geflüchteter nach Schweden organisierte und dafür eine enorme Unterstützung in der Stadtöffentlichkeit erfuhr; in Göttingen, wo wir mit dem „OM10“ einen Raum als soziales Zentrum aneignen konnten, der Geflüchteten unmittelbar hilft und tatsächlich über eine linksradikale Szene hinaus ausstrahlt; in Tübingen, wo wir zusammen mit anderen die Schließung einer menschenunwürdigen Massenunterkunft und eine bessere Unterbringung für Geflüchtete durchsetzen konnten; in Leipzig, wo wir ebenfalls erfolgreich gegen die Verlegung von Geflüchteten aus Connewitz nach Heidenau protestierten. In Berlin konnten wir mit einer inszenierten WG-Einzugsparty in das umstrittene neue Stadtschloss kurzfristig größere mediale Aufmerksamkeit erzeugen. In Hamburg hat sich eine gute Zusammenarbeit von Antira-Initiativen, selbstorganisierten Refugees, Gewerkschaftsjugenden und Recht-auf-Stadt-Aktiven etabliert. Den 2016 verstärkt agierenden Anti-Unterbringungs-Initiativen in den urbanen Peripherien der Hansestadt konnte allerdings nur punktuell und symbolisch etwas entgegengesetzt werden.

 

Einige Genossen von der IL Frankfurt, Münster, Hamburg und Berlin

(Oktober 2016)