Die Bedingungen, unter denen wir leben und kämpfen

1. Linke und Linksradikale tendieren oft dazu, den Wahrheitsanspruch ihrer politischen Analysen dogmatisch zu fixieren. Das liegt uns fern. Wenn wir Marx’ Satz zustimmen, nach dem »jeder Schritt wirklicher Bewegung wichtiger ist als ein Dutzend Programme«, verpflichten wir uns auf Wahrheiten eines Prozesses, die sich nicht in formelhafte Bekenntnisse fassen lassen. Wenn wir uns im Folgenden dennoch daran versuchen, einige Grundlagen zu formulieren, so sind diese keine absoluten oder gar ewigen Wahrheiten, sondern nur unser derzeitiger gemeinsamer Ausgangspunkt.

Wir leben in einer Welt schreiender Widersprüche zwischen Macht und Ohnmacht, Armut und Überfluss, Profitmaximierung und Zwang zur Lohnarbeit, Anerkennung und Ignoranz, Privilegien und Diskriminierungen. Die Widersprüche laufen entlang verschiedener Herrschaftsachsen, entlang sexistischer und rassistischer Zuordnungen, entlang von Klassenunterschieden. Diese Unterdrückungsverhältnisse sind zwar miteinander verwoben, stützen sich gegenseitig bzw. bauen aufeinander auf, haben aber jeweils eine eigene Dynamik und Logik. Sie alle haben mit gesellschaftlicher Macht und der Verfügung über materielle und immaterielle Ressourcen zu tun, haben sich gleichzeitig tief in die Subjektivitäten eingegraben und finden sich auch in linken und linksradikalen Gruppen und Organisationen. Für uns erfordert die Überwindung dieser Verhältnisse daher sowohl den Kampf gegen einen äußeren Gegner als auch die bewusste Reflexion und Veränderung unserer Strukturen.

Viele zermürbende Diskussionen haben in der Vergangenheit gezeigt, dass die Konstruktion von Haupt- und Nebenwidersprüchen in erster Linie zu frustrierenden und unproduktiven Konflikten und Spaltungen führt. Da sich auf der Basis patriarchaler und rassistischer Gesellschaftsstrukturen der real existierende Kapitalismus entfalten konnte, ist es für uns zentral, den Kampf für eine befreite Gesellschaft mit dem Kampf gegen all diese Herrschaftsformen zu verbinden. Gleichwohl ist es in unserer politischen Praxis sinnvoll und unvermeidbar, Schwerpunkte zu setzen. Entscheidend für uns ist – sowohl in der theoretischen Begründung als auch in der Eröffnung praktischer Optionen –, stets auf eine gesamtgesellschaftliche Veränderung abzuzielen.

Das Denken in Haupt- und Nebenwidersprüchen ist den gelebten Erfahrungen von Herrschaft, Ausbeutung und Missachtung, dem Ineinander jeweils eigensinniger Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse und der ebenso vielfältigen wie vielstimmigen Dynamik der sozialen Kämpfe, der konkreten Selbst- und Weltveränderungen noch nie gerecht geworden. Der Eigensinn jedes einzelnen Kampfes und die nicht zu reduzierende Vielfalt der Kämpfe selbst aber sind kein Widerspruch zur Notwendigkeit, alle Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse zu bekämpfen und sich deshalb immer auch auf ein Ganzes aller Kämpfe zu beziehen: taktisch, strategisch und programmatisch.

Die Spirale der Kapitalverwertung dreht sich im globalen Kapitalismus von heute immer schneller. Gewaltige Reichtümer an materiellen wie immateriellen Produkten werden produziert, angehäuft und wieder vernichtet. Dabei ist die klassische Mehrwertproduktion, also die Ausbeutung von Lohnabhängigen und Investition der Profite in neue Produktionsmittel, um noch mehr Mehrwert zu erzeugen, unübersehbar in eine tiefe Krise gekommen. Riesige Vermögenswerte, die keine andere rentable Anlage mehr finden, werden auf den Finanzmärkten gehandelt und verschoben. Auch die Verbindlichkeiten, die diesen Vermögen gegenüberstehen, können letztlich nur aus der lebendigen Arbeit derer bezahlt werden, die von diesem Treiben am wenigsten profitieren.

Während die ökonomische Macht des globalen Kapitalismus und die politische Macht seiner Zentren allgegenwärtiger denn je zu sein scheint, beweist sich jeden Tag, dass dieses System keine irgendwie vernünftige und humane Weltordnung schafft, sondern im Gegenteil die Inhumanität in ihm grundsätzlich angelegt ist. Etwa eine Milliarde Menschen leben im Schatten des kapitalistischen Warenreichtums im Hunger und im absoluten Elend. Der strukturelle Wachstumszwang führt zur fortschreitenden Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen, zum Klimawandel und zur ungebremsten Verschleuderung von knapper werdenden Ressourcen wie etwa Trinkwasser oder Erdöl.

Der globale Kapitalismus ist als Imperialismus untrennbar verbunden mit Kriegen und seinen Folgen Tod, Hunger und Flucht. In der sich aktuell verschärfenden Krise, in der die ständige Konkurrenz um Marktanteile und knapper werdende Ressourcen eskaliert, wird der Krieg zur permanenten Bedingung der Kapitalverwertung. Dies beinhaltet die Sicherung der Rohstoffreserven und der Handelswege, steigende Rüstungsproduktion und -exporte und auch die Militarisierung nach innen, die mit der Aushöhlung demokratischer Rechte und mit dem Ausbau der Repressions- und Überwachungsapparate einhergeht. Die ökonomische Krise, der mit immer neuen hektischen Rettungspaketen und als »Reformen« etikettierten Sozialabbauprogrammen begegnet wird, um die Renditeerwartungen der Kapitalist_innen zu erfüllen, ist zum Dauerzustand geworden.
Für uns spürbarer Bestandteil der ökonomischen Krise ist die Krise der Reproduktion, die sich einerseits in der zunehmenden Verwertung des alltäglichen Lebens der Menschen ausdrückt und sich andererseits in der Verschiebung aller Aufgaben, die sich nicht profitabel zur Ware machen lassen, ins vermeintlich Private zeigt. Beide Prozesse entziehen der sozialen Reproduktion von Gesellschaft an sich zunehmend die Grundlage. In dieser Krise der Reproduktion verschärfen und verändern sich sowohl patriarchale wie rassistische Strukturen, zum Beispiel indem die Sorgearbeit entweder den Frauen in den Familien überlassen oder an – schlecht bezahlte, oft auch illegalisierte – Migrant_innen ausgelagert wird.

2. Trotzdem leben wir in bewegten – und in bewegenden Zeiten, in denen die Gegenkräfte zur herrschenden Ordnung wieder stärker und sichtbarer werden. Der Klassenkampf wird nicht nur von oben als Angriff auf die sozialen Rechte und Lebensbedingungen der Lohnabhängigen und Prekarisierten geführt, sondern zeigt sich auch von unten in der Vielfältigkeit des weltweiten Widerstands. Dabei ist heute, zumindest in Westeuropa, Ausgangspunkt vieler Kämpfe, dass es keine herausgehobenen, auf Dauer angelegten Orte mehr gibt, an denen die »Klasse für sich« entstehen kann, wie dies für die Arbeiter_innenbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts die Fabriken waren, sondern der Klassenkampf schon damit beginnt, Orte zu entdecken, zu schaffen, wieder herzustellen, an denen Kollektivität, Solidarität und Klassenbewusstsein entstehen können.

Gegen die Zumutungen der Krisenpolitik zeigt sich in Südeuropa beharrlicher Widerstand. Verschiedene Bewegungen bestreiten offensiv die Legitimität der herrschenden Ordnung, ihrer Institutionen und Repräsentant_innen: Von 15M und #occupy über die ¡Democracia Real Ya!-Bewegung bis hin zur Auseinandersetzung um den Gezi-Park in der Türkei, den Kämpfen um Demokratie und Autonomie in Kurdistan, den Massenprotesten in Brasilien und den Kämpfen von Näher_innen in Bangladesch, um nur einige Beispiele zu nennen.

Im »Arabischen Frühling« haben die Menschen scheinbar fest gefügte, jahrzehntelang stabile Diktaturen hinweggefegt. Sie haben damit wieder neu ins Bewusstsein gebracht, dass die herrschende Macht im revolutionären Aufstand zu Fall gebracht werden kann. Sie haben gezeigt, dass es auch im 21. Jahrhundert noch die Tage auf den Barrikaden gibt, in denen die Entscheidung gesucht wird, in denen sich der Bruch mit einer alten Ordnung vollziehen kann und die Tür zu etwas Neuem aufgestoßen wird. Dass die Bewegungen des »Arabischen Frühlings« letztlich nicht in der Lage waren, auf den Sturz der alten Eliten den Aufbau eines neuen Projektes folgen zu lassen, dass auf die meisten Aufstände, wie zuletzt in Ägypten, eine Konterrevolution gefolgt ist, dass der Aufstand in Syrien in einen grausamen und hoffnungslosen Bürgerkrieg gemündet ist, dies kann bei aller Tragik die Erfahrung der Selbstermächtigung und der Möglichkeit des revolutionären Aufstandes nicht auslöschen.

In Mittel- und Südamerika gibt es verschiedene starke Basisbewegungen, die sich für Würde, Unabhängigkeit und gute Lebensbedingungen für alle einsetzen. Sie kämpfen gleichermaßen gegen den US- und EU-Imperialismus wie gegen die jeweiligen nationalen Bourgeoisien und Großgrundbesitzer_innen. In vielen Ländern haben diese Bewegungen linken Regierungen an die Macht verholfen und befinden sich mit diesen nun in einem widerspruchsvollen Prozess, in einem Ringen um Gesellschaftsveränderung.

Befreiung, als Abschaffung aller Verhältnisse, »in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (Marx), ist letztlich nur in globaler Perspektive denkbar. Internationalismus bedeutet für uns, unsere eigenen Kämpfe als Teil weltweiter Kämpfe um Befreiung zu sehen und zu führen. Dieser Internationalismus – theoretisch wie praktisch – ist ein wichtiges Prinzip für die Interventionistische Linke – in dem wir paternalistische oder eurozentrische Sichtweisen bewusst überwinden wollen.

Diese globale Perspektive erkennen wir etwa im Kampf der Refugees für einen sicheren Aufenthalt, für gleiche Rechte und gegen das tödliche europäische Grenzregime. Wir begreifen ihn als Teil unseres Kampfes, den wir aktiv unterstützen und betreiben. Auch die im Rahmen der europäischen Krisenproteste entstandene gemeinsame Praxis transnationaler Zusammenarbeit gehört für uns zu dieser Perspektive. Als Beginn und erstes Ergebnis dieser Zusammenarbeit beziehen wir uns auf die europäische Kommune. »Europäisch« nicht im geografischen Sinn, sondern verstanden als ein Möglichkeitsraum transnationaler Bewegung entlang gemeinsamer Konflikt- und Widerstandslinien. Denn genauso wie das imperiale Europa der herrschenden Ordnung für uns alle ein Schlag ins Gesicht ist, so bildet unser Europa – jenseits der institutionellen und geografischen Grenzen der EU – den Entscheidungshorizont für eine Praxis des Gemeinsamen. Das ist für uns ein nächster Schritt, ein Aufbruch.

Zugleich endet unsere Solidarität und unser Kampf weder an den Grenzen der EU noch an denen des europäischen Kontinents – Rojava, die Gezi-Proteste, der Tahrir, die Kämpfe in Brasilien und Bangladesch sind ebenso Bezugspunkte für uns, um nur einige zu nennen. Wie hier vielleicht schon deutlich wird, haben wir unterschiedliche Ansätze internationalistischer bzw. transnationaler Politik, die wir weiterhin kontrovers und solidarisch diskutieren werden. Einige Genoss_innen befürchten, dass wir mit »Europa« einen Begriff der Herrschenden übernehmen, der unauflöslich mit dem imperialistischen Projekt der EU verbunden bleibt. So richtig es ist, in den Ländern der EU einen gemeinsamen Kampf gegen die Politik der nationalen Regierungen und der EU-Institutionen zu führen, so sehr dürfen unsere Solidarität und unser Kampf weder an den Grenzen der EU noch an denen des europäischen Kontinents enden.

3. Linksradikale Politik in der BRD hat spezielle Voraussetzungen. Wir leben in einem relativ stabilen Zentrum des europäischen und des globalen Kapitalismus. Während in Berlin und Frankfurt am Main die Spardiktate ausgegeben werden, die Millionen Menschen in der EU ins Elend stürzen, um die Renditeversprechen an die Kapitalist_innen zu garantieren, sitzt der Kapitalismus in Deutschland ökonomisch und ideologisch scheinbar fest im Sattel.

Die Mehrheit der Lohnabhängigen und Prekarisierten hofft, an der Seite der Mächtigen besser durch die Krise und die gegenwärtigen und zukünftigen Unsicherheiten zu kommen, als mit Widerstand und Solidarität. Dieser Umstand gehört zu den Folgen und Bedingungen
für die relative Schwäche der gesamten Linken hierzulande.

Auf absehbare Zeit muss daher die Linke in der BRD – und auch die IL als ein radikalisierender und organisierender Teil dieser Linken – um diese Kampfbedingung wissen: Eine rebellische und widerständige Minderheit zu sein, der eine Mehrheit gegenübersteht, die noch glaubt, ihre verbliebenen Privilegien oder zumindest ihre prekäre Existenz im Kapitalismus verteidigen zu können – auch wenn dies durch ständige Verschärfung des Arbeitsdrucks, durch die Individualisierung von Lebensrisiken und den gesellschaftlichen Druck zur Selbstzurichtung und Selbstvermarktung von vielen Menschen einen hohen Preis fordert.

Es ist die Herausforderung an die radikale Linke, in dieser Lage weder mutlos noch zynisch zu werden, sondern immer wieder die Risse in der herrschenden Ordnung aufzuspüren und zu vertiefen. Voll ergriffen ist diese Herausforderung allerdings erst, wenn sie die Einsicht einschließt, dass die Differenz von Mehrheit und Minderheit ein strukturelles Moment jeder, auch künftigen, Vergesellschaftung ist. Durchzogen davon ist auch die Spaltung nach Klasse, Geschlecht und »Rasse«. Wir müssen also ein Verständnis dafür entwickeln, dass wir die Vielfalt von Herrschaft, Ausbeutung und Missachtung ebenso wie die Vielstimmigkeit der Kämpfe dagegen nicht reduzieren dürfen.

Sich strategisch trotzdem auf ein mögliches Ganzes aller Kämpfe für eine befreite Gesellschaft zu beziehen, wird nur gelingen, wenn man sich in das konkrete Handgemenge dieser Kämpfe begibt: Überall dort, wo die immer nur relative Stabilität der herrschenden Verhältnisse aufbricht. Ansatz- und Einstiegspunkte bieten hier die Kämpfe um andere Lebens- und Arbeitsbedingungen, um die gesellschaftliche Verteilung und Entlohnung der Sorgearbeit ebenso wie die Kämpfe gegen Naziterror und -propaganda oder die Kämpfe der Refugees für gleiche Rechte und sicheren Aufenthalt, die Kämpfe gegen Alltagssexismus, gegen umwelt- und menschenfeindliche Großprojekte wie die Kämpfe um die Bedingungen des Lebens und Wohnens in den Städten.

In der Menge dieser Kämpfe war die IL in den letzten Jahren vor allem in großen Mobilisierungen wahrnehmbar. Diese großen Kampagnen waren für uns notwendig, um uns zu orientieren und exemplarisch Erfahrungen mit selbst ermächtigter Widerständigkeit zu sammeln, aber sie können und sollen die Vielzahl und Kontinuität von lokalen und regionalen Kämpfen nicht ersetzten. Selbst wenn diese oft weniger sichtbar sind, wollen wir gerade auf dieser Ebene eine kontinuierliche, lebendige und widerständige Politik entfalten.

4. Wenn die Interventionistische Linke nun den Schritt zu einer überregionalen, lokal verankerten Organisation vorbereitet, dann geht es genau darum: Als radikale Linke in den gesellschaftlichen Kämpfen präsent zu sein, an vielen Orten Teil der kämpfenden Bewegungen zu sein, diese Beteiligung gleichzeitig zu reflektieren und bewusst zu bestimmen und so bundesweite Interventionsfähigkeit aufbauen zu können.

Seit Langem gibt es in vielen Städten eine Praxis der IL-Gruppen, in der interventionistische Politik lokal umgesetzt wird: in Blockadebündnissen gegen Naziaufmärsche ebenso wie in queer-feministischen Kämpfen, in Aktionen gegen Bundeswehr- und Kriegspropaganda ebenso wie in Antirassismusinitiativen, bei der Unterstützung von lokalen Arbeitskämpfen ebenso wie bei der Verhinderung von Zwangsräumungen. Diese lokalen IL-Aktivitäten sind die notwendige Basis, wir wollen sie stärken, ausweiten und sie miteinander verbinden, um auf diesen lokalen Praxen aufbauend eine gemeinsame IL-Politik zu entwickeln. Nicht indem wir alles vereinheitlichen, die jeweiligen Bedingungen vor Ort ignorieren oder die lokale Autonomie der Gruppen aushebeln – das liegt uns fern, da wir damit eine zentrale Voraussetzung unserer Handlungsfähigkeit ignorieren würden. Was wir tun wollen, ist die Kriterien und die grundlegenden Methoden unserer Praxis gemeinsam inhaltlich und strategisch zu bestimmen. Das bedeutet im Wesentlichen ein verändertes Selbstverständnis der Aktivist_innen, nämlich lokale Praxis und überregionale Organisierung nicht mehr getrennt zu denken. Aber es gehört ebenso dazu, dass an den Orten, an denen wir Politik machen, diese nach außen als IL-Politik wahrnehmbar wird.