
english version [1]
Raus aus der Szene, rein ins Handgemenge der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Mit diesem Anspruch ist die Interventionistische Linke (IL) vor fast 20 Jahren angetreten. Wir wollten eine gesellschaftliche radikale Linke werden, sichtbar und ansprechbar sein, um politische Hegemonie kämpfen und Gegenmacht organisieren.
Seitdem ist viel passiert. Die IL ist heute eine der großen linksradikalen Strukturen im deutschsprachigen Raum. Wir sind in über 20 Städten mit Ortsgruppen vertreten. Es ist uns gelungen, von einem losen Zusammenschluss lokaler Gruppen zu einer basisdemokratischen, überregionalen Organisation zu wachsen. Block G8, Ende Gelände, Blockupy, Feministischer Streik, Sommer der Migration, NoG20, Rheinmetall Entwaffnen, Deutsche Wohnen und Co. enteignen – das sind nur einige Beispiele für die vielen Kämpfe, in denen wir mitgemischt haben. Mit Blockaden, Besetzungen und direktem Eingreifen haben wir dazu beigetragen, massenhaften Ungehorsam als legitime Aktionsform zu etablieren.
Gleichzeitig blicken wir auf eine düstere Gegenwart. Die Linke ist weltweit in der Defensive. Das rechte Projekt der Abschottung, Spaltung und Leugnung der Klimakrise hat Konjunktur. Die Staaten werden nach innen autoritärer und nach außen kriegerischer, ob nun angeführt von vermeintlich progressiven Parteien oder rechten Antidemokrat*innen. Beide haben keine tragfähigen Antworten auf die multiplen Krisen. Gerade jetzt bräuchte es als Alternative eine Linke, die Hoffnung und Orientierung geben kann. Aber es ist uns nicht gelungen, die Bewegungserfolge des letzten Jahrzehnts in einem gemeinsamen, widerständigen Pol zu bündeln und grundlegende Veränderungen zu erkämpfen. Der Kapitalismus sitzt fest im Sattel.
Es ist also höchste Zeit, unsere Strategien und Praxen auf den Prüfstand zu stellen. Was bedeuten die politischen Entwicklungen der letzten Jahre? Welche Chancen und Aufgaben für die Veränderung der Welt sehen wir? Was sind die Strategien interventionistischer Politik in der aktuellen Lage? Über diese und andere Fragen haben wir uns den Kopf zerbrochen und oft auch gestritten. Bei manchen Überlegungen stehen wir noch am Anfang. Das Ergebnis unserer Diskussionen findet ihr in diesem Papier. Es schreibt unser Zwischenstandspapier „Die IL im Aufbruch“ von 2014 fort, aktualisiert und ergänzt es.
Einer der nächsten Schritte wird es sein, einen orientierenden Prozess in der radikalen Linken zu organisieren. Unsere Überlegungen sind daher vor allem ein Auftakt, ein Wunsch nach gemeinsamer Debatte mit all jenen, die wie wir von der Sehnsucht nach einer anderen, einer befreiten Welt angetrieben werden. Auch deshalb widmen wir der Analyse viel Raum. Wir halten einen Diskussionsstand fest, von dem wir hoffen, dass er Orientierung für die kommenden Auseinandersetzungen bietet. Die darauf folgenden Kapitel aktualisieren unsere Strategie und Praxis. Wir lernen aus unseren Fehlern, behalten bei, was funktioniert, verwerfen, was nicht funktioniert. Dies ist für uns ein wesentliches Merkmal undogmatischer Politik.
Wer in dem Papier einfache Antworten sucht, wird enttäuscht werden. Zu einfach, das ist der neue Reformismus, der angesichts von Rechtsruck und Klimakrise nur auf das unmittelbar Machbare in den gegebenen Institutionen schaut. Zu einfach, das ist eine phrasenhafte Rückbesinnung auf die Arbeiter*innenklasse, die allzu oft in Dogmatismus und eine autoritäre Form der Politik mündet. Zu einfach, das ist eine Form der Identitätspolitik, die Identitäten festschreibt, statt sie infrage zu stellen, und aus der wenig Ermutigung für den gemeinsamen Kampf für eine bessere Welt hervorgeht. Demgegenüber wollen wir eine radikale Linke sein, die auch vor einem dunklen Horizont die Möglichkeit hochhält, dass es ganz anders sein könnte. Eine radikale Linke, die organisiert ist und im Alltag präsent, die Gelegenheiten erkennt und entschlossen ergreift. Die kleinen Brüche zu großen ausweitet und die Wette auf eine Revolution eingeht. An diesem Anspruch und diesem Versprechen halten wir fest.
Wir wollen eure Zweifel, euer Lob, euer Weiterdenken, eure Kritik hören. Unseren Call for Comments findet ihr auf unserem Debattenblog [2].
Unser zweites Zwischenstandspapier könnt ihr als PDF hier herunterladen. [3]
Kriege, Pandemie und Klimakrise, gleichzeitig Armut und wachsende soziale Ungleichheit, dazu noch Rechtsruck und Krisen der sozialen Reproduktion: Wir befinden uns in einem Zeitalter permanenter Krisen.
Die Klimakrise bedroht die Lebensgrundlagen aller menschlichen Gesellschaften. Hitzewellen, Überflutungen und Versteppung sind im Globalen Süden längst bittere Realität. Inzwischen sind auch im Globalen Norden die verheerenden Auswirkungen der Klimakrise unübersehbar. In der Folge wachsen ökologische Instabilität sowie soziale Ungleichheit und damit zugleich Gewalt, Ausgrenzung und Abschottung. Das ändert die Bedingungen für linke und linksradikale Politik grundlegend. Auch wenn die Klimakrise nicht mehr aufzuhalten ist, bedeutet jedes Zehntelgrad globaler Erwärmung für Millionen von Menschen den Unterschied zwischen Leben und Tod. Dabei gibt es keine Abkürzung und das Grundsätzliche ist dringender denn je: Die Abschaffung des Kapitalismus ist zu einer Frage des Überlebens geworden. Im 21. Jahrhundert ist keine Perspektive der Befreiung oder der Überwindung von Ausbeutung ohne diese Voraussetzung denkbar.
Gleichzeitig bedrohen Kriege, wie die russische Aggression gegen die Ukraine oder der Gazakrieg, das Leben von Millionen Menschen. Im geostrategischen Konflikt zwischen den USA und China, der gegenwärtig nur als Wirtschaftskrieg ausgetragen wird, liegt das Potenzial für eine weltweite Eskalation. Die falsche Hoffnung auf ein Zeitalter des Friedens ist geplatzt. Längst ringen wieder Machtblöcke um globalen Einfluss. Die EU und Deutschland mischen dabei zunehmend mit, auch wenn sie sich gern hinter Phrasen von Demokratie und Menschenrechten verstecken.
Im Rahmen dieser Machtpolitik und vor dem Hintergrund der massiven Krisen erhalten staatliche Eingriffe in die Wirtschaft wieder mehr Bedeutung. Hierzu gehören in Deutschland die „Sondervermögen“, mit denen mehrfach riesige Summen mobilisiert wurden, teils zur Krisenabfederung wie bei der Corona-Pandemie, teils zur Finanzierung der Aufrüstung wie bei den 100 Milliarden für die Bundeswehr.
In kriegführenden Staaten sehen wir die Einführung von Kriegsregimen, also das Regieren per Dekret, den Abbau des Sozialstaats und eine allgemeine Zunahme autoritärer Maßnahmen. So verstärken sich auch kriegerisch-autoritäre Männlichkeit und traditionell-patriarchale Strukturen in den Gesellschaften. Die Bevölkerung wird gedrängt oder gezwungen, sich klar patriotisch zu positionieren. Stimmen, die sich für einen gerechten Frieden und internationale Solidarität aussprechen, werden marginalisiert oder unterdrückt.
Kriegslogik, Militarisierung der Gesellschaft und Freund-Feind-Denken bleiben nicht auf die unmittelbar kriegsbeteiligten Staaten beschränkt. Die „Zeitenwende“ hat ganz Europa erfasst: In Deutschland bestimmen Aufrüstung, Waffenexporte in Krisen- und Kriegsgebiete, Nationalismus und eine auch militärisch gedachte Geopolitik den öffentlichen Diskurs.
Der klassische Kapitalismus funktioniert immer weniger: Große Teile des Kapitals können nicht mehr als Investitionen in Produktionsmittel verwertet werden. Riesige Vermögen suchen daher auf den Kapitalmärkten nach rentablen Anlagefeldern, ohne dass sich bisher ein tragfähiges neues Akkumulationsregime herausgebildet hätte. Kapital fließt vor allem in die Privatisierung von Land oder Ressourcen, in die Finanzialisierung von Lebensbereichen wie Wohnen, Gesundheit, Alterssicherung und digitale Kommunikation. Dadurch verlieren immer mehr Menschen den Zugang zu Trinkwasser, Gesundheitsversorgung und selbst Nahrung, sodass Verelendung, Hunger und Fluchtbewegungen global zunehmen.
Die Anpassungsstrategien der herrschenden Klasse an die globale Vielfachkrise erscheinen chaotisch und gespalten. Sie bewegen sich zwischen einer vermeintlich progressiven grün-kapitalistischen Modernisierung mit Bezugnahme auf bürgerliche Freiheitsrechte einerseits und offen autoritären, rechtskonservativen bis faschistischen Konzepten andererseits. So widersprüchlich diese Varianten auch erscheinen mögen: Im Ergebnis schottet sich in beiden Fällen eine kleine Minderheit mit ihrem explodierenden Reichtum ab, während eine Mehrheit die Folgen der Krisen zu tragen hat. An dem grundsätzlichen Problem, dass der globale Kapitalismus in direktem Widerspruch zu den Lebens- und Überlebensinteressen der Menschheit steht, ändern sie nichts.
Hoffnung kann nicht von oben kommen, sondern allein aus den Revolten, Kämpfen und Bewegungen von unten. Black Lives Matter, #niunamenos oder Fridays for Future sind globale Bewegungen gegen die Unerträglichkeit der Verhältnisse. Ihren Protesten haben sich im vergangenen Jahrzehnt mehr Menschen denn je angeschlossen. Hinzu kommen zahlreiche Kämpfe, die zwar den nationalen Rahmen nicht überschreiten, aber in Form und Inhalten ähnlich sind.
Im globalen Bewegungszyklus Anfang der 2010er Jahre konnten wir einen gemeinsamen Rahmen erkennen: Die Aufstände und Bewegungen des Arabischen Frühlings, der spanischen Indignados, von Occupy oder Gezi bezogen sich in ihren Forderungen nach wirklicher Demokratie, ihrer Praxis der Platzbesetzungen und ständigen Versammlungen aufeinander. In Deutschland haben wir das bei den Blockupy-Aktionen gegen die europäische Sparpolitik so formuliert: „Sie wollen Kapitalismus ohne Demokratie – Wir wollen Demokratie ohne Kapitalismus!“
Auch die aktuellen Bewegungen haben einen gemeinsamen Nenner, auch wenn dieser vielleicht schwieriger auszumachen ist: Überall geht es um Fragen des Lebens und Überlebens. Bewegungen gegen Feminizide, gegen rassistische Morde, gegen die Untätigkeit angesichts der Klimakrise treffen sich darin, dass das Überleben selbst im Mittelpunkt der Forderungen steht. Zunächst ist das nur ein trotziges Nein gegen den mörderischen Status quo, aber auch hierin ist der utopische Horizont einer besseren Welt bereits angelegt. Trotz der ungleichen Bedingungen und Widersprüche sind unsere Kämpfe hier, „im Herzen der Bestie“, Teil des globalen Bewegungszyklus: In der Klimagerechtigkeitsbewegung, in der (queer-)feministischen Bewegung, in der Antikriegsbewegung oder im Antirassismus: Stets geht es darum, den nationalen Rahmen zu sprengen und eine transnationale Perspektive globaler Solidarität und Befreiung einzunehmen.
Die globalen Krisen sind auch hierzulande inzwischen direkt spürbar. Aber trotz sommerlicher Hitzewellen und tödlicher Überflutungen, trotz Rechtsruck, wachsender sozialer Ungleichheit und Austeritätspolitik: Die Linke scheint blockiert, gehemmt, vor allem aber unsichtbar zu sein. Abgesehen von Empörungswellen und kurzfristigen Mobilisierungen gibt es kaum nachhaltigen Protest und Widerstand. Dazu tragen die spürbare Desorientierung und die Spaltungsprozesse in der gesamten Linken ihren Teil bei. Zentrale, tiefer liegende Ursachen sind die paradoxerweise herrschaftsstabilisierenden Wirkungen von Krieg und Krisen, die auf die Folgen neoliberaler Individualisierung treffen, vor denen auch wir, als radikale Linke, nicht gefeit sind. Einer zerfaserten Linken fällt es zunehmend schwer, auf die Beschleunigung des politischen Geschehens adäquat zu reagieren und Gegenentwürfe zu den Verhältnissen zu entwickeln.
Koloniale Ausbeutung, billige Rohstoffe und fossiler Extraktivismus haben die kapitalistischen Zentren des Westens reich und mächtig gemacht. Das ermöglichte den Klassenkompromiss in den Industriegesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg, die Beteiligung großer Teile der Gesellschaft an Konsum und Wohlstand. Diese imperiale Lebensweise kann bis heute nur in einem kleinen Teil der Welt realisiert werden. Ihr Preis sind neokoloniale Ausbeutung sowie ein ungehemmter Verbrauch von Ressourcen und fossilen Brennstoffen. Natürlich profitieren hiervon insbesondere die Reichen und Wohlhabenden, während auch in den kapitalistischen Zentren die soziale Ungleichheit wächst. Viele Leute hier vor Ort nehmen Veränderungen dieser Verhältnisse als Bedrohung ihrer Lebensweise wahr, auch weil Veränderung unter den herrschenden Machtverhältnissen nicht auf Kosten der Reichen, sondern der Mehrheit der Bevölkerung erfolgt. Dieser Mechanismus ist ein gewaltiges Hindernis für einen breiten Widerstand gegen Grenzregime, institutionellen Rassismus und für eine konsequente Klimapolitik.
Die unübersehbaren Momente der Zuspitzung wie die Ahrtal-Flut, die Corona-Pandemie oder die aktuellen Kriege haben zuletzt paradoxerweise vor allem zur Stabilisierung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse beigetragen. Durch eine erfolgreiche Bearbeitung der Bedürfnisse nach Sicherheit und Stabilität konnten gesellschaftliche Widersprüche in diesen Situationen zugunsten scheinbar allgemeiner Interessen oder klarer Freund-Feind-Bilder eingeebnet werden. Die Anrufung einer Schicksalsgemeinschaft hat verfangen. Unterschiedliche Betroffenheiten und Verantwortlichkeiten spielen darin keine Rolle mehr.
Die Zunahme von Krisensituationen trifft dabei auf die beschleunigte Aufmerksamkeitsökonomie einer digitalisierten Öffentlichkeit. Politische Debatten werden immer moralisierter, Empörungswelle folgt auf Empörungswelle, unzählige politische Aufreger werden in immer kürzeren Abständen aneinandergereiht. Doch was heute noch brennt, ist morgen bereits vergessen. Was bleibt, ist die Wahrnehmung der umfassenden Krisenhaftigkeit und ein tiefgreifendes Gefühl der Unsicherheit, das zugleich den Rückzug ins Private, die Entsolidarisierung und die Bindung an die Sicherheitsversprechen der Herrschenden fördert.
Auf der Ebene der Individuen stellt eine weit fortgeschrittene neoliberale Subjektivierung ein großes Hindernis für Solidarität, Kollektivität und damit für den Aufbau gesellschaftlicher Gegenmacht dar. Subtile oder offene Mechanismen der Disziplinierung und Sanktionierung bei gleichzeitigem Abbau sozialer Sicherheit werfen die Menschen auf das eigene Überleben zurück. Sie werden gezwungen, sich stärker als Einzelkämpfer*innen zu verhalten. Dies fällt zusammen mit der allgegenwärtigen Aufforderung, die eigenen Chancen zur Entfaltung und Selbstverwirklichung zu nutzen – angeblich im Einklang mit dem persönlichen Wohlbefinden und einer angemessenen Selbstsorge. Durch dieses vergiftete, aber wirkmächtige Freiheitsversprechen unterwerfen sich die Menschen selbst den Logiken der Eigenverantwortlichkeit und Konkurrenz.
Eine radikale Linke, die gesellschaftliche Verhältnisse ins Wanken bringen will, steht daher vor einer zentralen Herausforderung: Die Kritik der neoliberalen Subjektivierung in die Breite zu tragen und gleichzeitig Gegenmodelle der Kollektivität und der Genoss*innenschaftlichkeit zu entwickeln und konkret erfahrbar zu machen.
Selbst wenn die Herrschaftsverhältnisse hier vor Ort relativ stabil scheinen: Die Widersprüche des Kapitalismus sind auch im „Herzen der Bestie“ wirksam. Diese Risse und Bruchlinien zu erkennen, ihre Dynamik zu verstehen und sie weiter zu vertiefen, ist die Aufgabe einer gesellschaftlichen radikalen Linken. Aus Bruchlinien werden Konfliktfelder, in Konfliktfeldern entstehen dann konkrete Kämpfe, die wir vorantreiben und so weiter-
entwickeln wollen, dass sie über das Bestehende hinausweisen. Die wichtigsten Bruchlinien, die Gelegenheit und Notwendigkeit für politische Intervention und Weiterentwicklung unserer Praxis bieten, werden wir im Folgenden skizzieren.
Für große Teile der Gesellschaft werden die Versprechen des Neoliberalismus – Freiheit, Selbstverwirklichung, Wohlstand und Konsum – nicht mehr eingelöst. Soziale Garantien und Infrastruktur wurden abgebaut, Hartz IV (jetzt Bürgergeld) eingeführt, gewerkschaftliche Organisierung geschwächt und viele Lebensbereiche durchökonomisiert. Immer mehr Menschen haben immer weniger: weniger Lohn, weniger soziale Sicherheit, weniger Geld für Lebensmittel und Wohnen, weniger gesellschaftliche Teilhabe. Statt sich selbst zu verwirklichen, machen sie Erfahrungen von Abstieg und Entwertung. Sie kämpfen sich mit unsicheren Jobs im Niedriglohnsektor von Krise zu Krise. Vor allem FLINTA* und migrantisierte Personen werden in die Prekarität gedrängt.
Die soziale und räumliche Ungleichheit hat massiv zugenommen. Teure Autos und Luxusquartiere prägen die Innenstädte. Gleichzeitig nehmen Armut und Obdachlosigkeit zu, werden ganze Stadtteile und Regionen abgehängt. Das sind viele Regionen Ostdeutschlands, aber auch westdeutsche Städte und ländliche Gebiete sind von Prekarität und schlechter Infrastruktur geprägt. „Blühende Landschaften“ sind ein leeres Versprechen geblieben – in Ostdeutschland, aber auch anderswo. Kürzungen und Privatisierungen machen die öffentliche Infrastruktur kaputt. Hinzu kommt: Individualisierung, Optimierungsdruck und die Anforderung, sich immer schneller an immer neue Situationen anzupassen, führen bei vielen zu Überforderung und Einsamkeit. Mehr und mehr Menschen haben Sehnsucht nach einem Ausstieg aus der Beschleunigungsdynamik und nach mehr Gemeinschaftlichkeit.
Mehr Gleichberechtigung und mehr persönliche Freiheit waren die Versprechen des Neoliberalismus. Es gab auch Schritte der Liberalisierung und der Anerkennung unterschiedlicher Lebensentwürfe, es gab Maßnahmen für mehr Gleichstellung der Geschlechter. Doch erleben Menschen jeden Tag, dass es mehr Sichtbarkeit und Diversität nur gibt, wenn es in die ökonomische Logik passt. Neoliberale Anerkennungspolitiken heben soziale Ungleichheit und Unterdrückung nicht auf. Patriarchale, queer- und transfeindliche Gewalt und Feminizide gehen weiter, genauso wie rechte und rassistische Morde.
Nicht einmal mit Blick auf seinen harten ideologischen Kern, die Funktionsweise von Ökonomie, Staat und öffentlichen Finanzen, kann der Neoliberalismus seine Versprechen in Zeiten permanenter Krisen halten. Egal ob Corona-Hilfen, Energiekrise oder die notwendigen Investitionen in den Klimaschutz: Der Staat benötigt deutlich größere Haushaltsmittel, als er laut Schuldenbremse und der jahrzehntelang gepredigten Austeritätspolitik ausgeben dürfte. Dies führt nicht nur zu handfesten Konflikten innerhalb der Herrschenden. Wenn für die „Sondervermögen“ zur Aufrüstung oder Wirtschaftsstabilisierung ein Fingerschnipsen ausreicht, um astronomische Summen wie aus dem Nichts zu mobilisieren, wirkt es nicht länger glaubwürdig, dass für soziale und gesellschaftliche Bedürfnisse angeblich kein Geld da ist.
Das untergräbt die Zustimmung zur neoliberalen Herrschaft. Damit bieten sich vielfältige Ausgangspunkte für eine linke Klassenpolitik, die für gesellschaftliche Solidarität, soziale Sicherheit und eine tatsächliche Realisierung von Entfaltungsmöglichkeiten eintritt und bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse offensiv angreift.
Soziale Reproduktion meint alle die Tätigkeiten und Bereiche, die notwendig sind, um menschliches Leben und die menschliche Arbeitskraft als Grundlage kapitalistischer Produktion wiederherzustellen. Die Organisation der sozialen Reproduktion ist eng verflochten mit den hegemonialen Lebens- und Beziehungsweisen – und damit insbesondere mit den herrschenden Geschlechterverhältnissen. Uns alle betrifft das fundamental im Alltag: Es geht um Essen und Trinken, um Wohnen, um Krankheit und Genesung, um Pflege und Betreuung, um Kümmern, um Energie und Mobilität, um Bildung und Ausbildung. Es sind Fragen von Leben und Überleben.
Diese soziale Reproduktion ist unübersehbar in der Krise, seit neoliberale Politiken die Kapitalverwertung in immer mehr Bereichen des Lebens und der öffentlichen Infrastruktur vorantreiben. Soziale Einrichtungen, wie etwa Kitas, Krankenhäuser oder Altenheime, sind immer mehr von Ökonomisierung und Privatisierung betroffen. Das Fallpauschalensystem in Krankenhäusern ist ein bekanntes Beispiel. Es führt zu einer Verschlechterung der Versorgung und erhöht den Druck auf die Beschäftigten. Und diese sind zahlreich: Schon jetzt arbeitet fast ein Sechstel der Beschäftigten in Deutschland im Gesundheitswesen.
Die gesellschaftlich notwendige Sorgearbeit bleibt patriarchal organisiert. Allen feministischen Kämpfen der letzten Jahrzehnte mit ihren unbestreitbaren Erfolgen zum Trotz: Die unentlohnte Sorgearbeit im Alltag wird noch immer überwiegend von weiblich sozialisierten Personen erbracht – oft als Doppelbelastung zusätzlich zur Lohnarbeit. Wer es sich leisten kann, lagert die vielfachen Belastungen des Alltags aus an andere, oft prekarisierte Migrant*innen. Damit verschieben sich die Probleme jedoch nur zwischen den Klassen, denn die eigene Reproduktionsarbeit der Sorgearbeiter*innen in ihren Familien und in ihren Herkunftsländern verschwindet nicht.
Gegen diese Zustände regt sich Widerstand. So hat die Krankenhausbewegung der letzten Jahre wichtige Erneuerungsimpulse für gewerkschaftliche Arbeitskämpfe gesetzt. Der Kampf um die Arbeitsbedingungen und die Entlohnung der Pflegekräfte richtet sich gegen die kapitalistische Verwertung von Sorgearbeit und gegen die massiven Lücken in der Finanzierung von Gesundheitsversorgung und Pflege. Er ist zugleich ein feministischer Kampf. Die Beschäftigten haben sich organisiert, neue Formen der Selbstermächtigung entwickelt und Perspektiven der Vergesellschaftung eröffnet. Kämpfe in diesem Bereich haben stets das Potenzial, über die unmittelbaren Forderungen hinauszugehen. Das macht sie zu Bruchstellen, an denen nicht nur die Arbeitsbedingungen einer Branche, sondern die gesellschaftliche Organisation als Ganzes infrage gestellt werden kann.
In den 8.-März-Streiks werden diese neuen Kämpfe gegen die Ausbeutung von Sorgearbeit mit der allgemeinen feministischen Kritik an der heteronormativen Kleinfamilie, an der vergeschlechtlichten Arbeitsteilung und an patriarchaler und queerfeindlicher Gewalt verbunden. Der gemeinsame Nenner besteht darin, die männliche Herrschaft insgesamt, also die gesamte patriarchal-kapitalistische Gesellschaftsordnung, infrage zu stellen. Leider konnte der feministische Streik, der in Argentinien und Spanien Millionen bewegt und organisiert hat, in Deutschland bislang nur in Ansätzen umgesetzt werden.
Die Krise der sozialen Reproduktion zeigt sich auch in anderen Bereichen der sozialen Infrastruktur, etwa im steigenden Verwertungsdruck bei Wohnraum, Lebensmitteln, Wasser- und Energieversorgung. Wir alle spüren dies in Form explodierender Mieten, den gestiegenen Kosten für Energie oder Lebensmittel und der zunehmenden Verdrängung aus den Innenstädten. Dadurch wuchs die Beteiligung an mietenpolitischen Kämpfen, vor allem in Berlin und anderen Großstädten. Die Forderung nach öffentlichem Eigentum und basisdemokratischer Verwaltung von Wohnraum, also nach Enteignung und Vergesellschaftung, findet breite Unterstützung bis hin zur Mehrheitsfähigkeit. Diese konkrete antikapitalistische Perspektive der Vergesellschaftung wollen wir in Zukunft auch in die Auseinandersetzungen um Energie- und Wasserversorgung übertragen.
Die Klimakrise ist nicht mehr abstrakt, nicht mehr auf den Globalen Süden beschränkt, sondern auch hierzulande direkt spürbar. In den Hitzesommern wird der Zugang zu kühlem Wohnraum gerade für alte Menschen zu einer existenziellen Frage. Dürreperioden lassen Energie und Wasser knapp werden. Extremwetter und Fluten fordern auch in Europa immer mehr Opfer. Die Gefahr von Pandemien und neuen Krankheitserregern nimmt zu. Inzwischen steht die Klimakrise im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Das betrifft die beginnenden Verteilungskämpfe der Klimaanpassung, aber mehr noch den Kampf für den notwendigen radikalen Umbau von Ökonomie und Infrastruktur. Dieser wird ein zentrales Kampffeld der nächsten Jahre und Jahrzehnte sein.
Die Gesellschaft, ja selbst die Individuen sind gespalten. Ein großer Teil der Gesellschaft befürwortet grundsätzlich eine konsequente Bekämpfung der Klimakrise, wie unter anderem die Massendemonstrationen von Fridays for Future unter Beweis gestellt haben. Unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen gerät diese Position aber in Konkurrenz zu sozialen Interessen und stellt die Fortsetzung der etablierten Lebensweise infrage. Wer trägt die Kosten für die Dämmung von Gebäuden oder den Ersatz von Gas- und Ölheizungen durch Wärmepumpen oder Fernwärme? Können Busse und Bahnen unsere Mobilität sicherstellen, wenn das private Auto verschwinden muss? Kann der Gewinn an Zeit und Lebensqualität den Verlust an Konsumgütern aufwiegen? Diese Fragen stellen sich noch verschärft für die Beschäftigten in den fossilen Industrien, also z.B. in der Automobilproduktion und der Zuliefererindustrie. Viele ihrer Arbeitsplätze werden in einem ökologischen Strukturwandel unvermeidlich wegfallen. Gerade weil diese Jobs bisher überdurchschnittlich gut bezahlt und sicher waren, haben die Abstiegsängste der hier Beschäftigten eine reale Basis.
Eine gesellschaftliche Massenbewegung gegen die kapitalistische Klimazerstörung ist dennoch möglich. Dafür braucht es eine klassenkämpferische Zuspitzung, die die Verursacher*innen und Hauptverantwortlichen für die Klimakrise angreift. Anstatt die notwendige ökologische Konversion und Arbeitsplatzverluste im industriellen Sektor zu verweigern, müssen wir fordern und durchsetzen, dass die Kosten dafür vom fossilen Kapital und den Reichen getragen werden.
Es gibt nicht nur die Ängste vor Abstieg und Veränderung, sondern genauso ein Begehren nach einer anderen Lebensweise. Viele wünschen sich Straßen und Städte, die nicht von Autos verstopft und ihren Abgasen vergiftet werden. Sie wollen ihre Arbeitszeit verkürzen, um selbstbestimmte Sorgearbeit leisten zu können, um Gemeinschaftlichkeit zu erleben und ihr Leben zu entschleunigen. Daraus kann eine alternative Idee vom guten Leben entwickelt werden. Eine solche radikale sozial-ökologische Transformation knüpft an den längerfristigen Interessen der Mehrheit der Menschen an. Aber dieser gesellschaftliche Gegenentwurf ist kein Wohlfühlprogramm: Angesichts der Klimakrise erfordert seine Durchsetzung die antagonistische Zuspitzung des Kampfes gegen das fossile Kapital und seine politischen Verbündeten. Eine lebenswerte Zukunft wird uns nicht geschenkt werden.
Der globale Kapitalismus und seine imperiale Weltordnung beruhen seit Jahrhunderten auf der Ausplünderung und Unterwerfung der Menschen im Globalen Süden. Ihre Lebensgrundlagen wurden dabei systematisch untergraben und zerstört. Die permanenten Krisen der Gegenwart – allen voran die Klimakrise, aber auch die Zunahme geopolitischer Konflikte und Kriege – verschärfen diese Situation nochmals. Millionen sind auf der Flucht, globale und regionale Migrationsbewegungen nehmen zu. Doch die Menschen, die auf oft lebensgefährlichen Wegen Grenzen überwinden, sind nicht nur Opfer: Indem sie um ihre Teilhabe am globalen gesellschaftlichen Reichtum und um ihr Recht auf ein sicheres Leben kämpfen, stellen die Bewegungen der Migration die bestehende Ordnung praktisch infrage.
Die eskalierende, oft tödliche Gewalt an den Grenzen Europas soll diese falsche Ordnung und die ungleiche Verteilung des Reichtums verteidigen. Aber die kapitalistische Wirtschaft der Länder des Nordens ist auf immer neue Arbeitskräfte angewiesen. Im Ergebnis entsteht ein komplexes und widersprüchliches System von Abschottung, Entrechtung, Kontrolle und Ausbeutung, das maßgeblich entlang rassistischer Kategorien organisiert ist. Gleichzeitig ist Migration die „Mutter aller Gesellschaften“ und die Einwanderungsgesellschaft auch in Deutschland eine Realität, die nicht mehr geleugnet werden kann. Daraus sind hierzulande mindestens zwei Konfliktfelder entstanden, auf denen Risse und Bruchlinien der Herrschaft sichtbar werden.
Erstens führt der Ausbau der Festung Europa – von Frontex bis hin zum Abschiebeknast vor der eigenen Haustür – dazu, dass sich das politische Spektrum neu sortiert. Linksliberale und vermeintlich progressive Parteien und Akteur*innen übernehmen immer mehr rechte Positionen und setzen sie praktisch um. Gerade hier klafft zwischen der humanistischen Rhetorik und der Realität der Entmenschlichung an den Grenzen ein riesiger Widerspruch. Diese Politik baut auf einem Angstbündnis mit großen Teilen der Mehrheitsbevölkerung auf. Viele Menschen glauben irrtümlich, die Abwehr von Migration könne drohende Einschränkungen des eigenen Lebensstandards abmildern – und nehmen für diese Illusion der eigenen Sicherheit und des eigenen Wohlstands die Gewalt gegen die „Anderen“ und ihren Tod billigend in Kauf. Oft scheinen die Verteidiger*innen der universellen Gültigkeit von Menschenrechten und des Rechts auf globale Bewegungsfreiheit demgegenüber in der Minderheit zu sein. Doch diese Aufteilung ist weder eindeutig noch stabil. Es gibt Chancen für neue Allianzen und neue Kämpfe. Wir wollen sie offensiv führen – gemeinsam mit allen, die sich von der Doppelmoral „westlicher“, „europäischer“ oder „grüner“ Werte entfremdet haben, die sich lokal gegen Abschiebung und Entrechtung einsetzen oder die sich als betroffene Geflüchtete selbst organisiert haben. Sie alle sind bereit für den Konflikt mit der Festung Europa.
Zweitens ist es der gesellschaftliche Rassismus selbst, der immer neue Widersprüche, Konfliktfelder und Kämpfe entstehen lässt. Ob institutioneller Rassismus auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, rassistische Polizeigewalt, rechte Hetze in den Medien, Übergriffe und Anschläge oder der ganz alltägliche Rassismus: Zuschreibungen, Diskriminierungen, Ausschluss, Bedrohung und Gewalt bleiben für viele Menschen hierzulande Alltag. Daran hat auch die öffentliche Bestürzung nach den tödlichen Angriffen von Hanau nichts geändert. Die weiße Dominanzgesellschaft und ihre Parteien machen die Einwander*innen, die Bewohner*innen der migrantisch geprägten Viertel der Großstädte und/oder die Muslim*innen für alle gesellschaftliche Probleme verantwortlich.
Gleichzeitig würde die gesellschaftliche Produktion und Reproduktion hierzulande ohne die Arbeit migrantisierter Arbeiter*innen zusammenbrechen. Sei es in der Pflege, Landwirtschaft, Logistik oder der aufstrebenden Plattform-Ökonomie: Gerade in diesen Bereichen mit hoher Arbeitsbelastung und prekären Beschäftigungsverhältnissen ist der Anteil migrantisierter Arbeiter*innen besonders hoch. Es ist kein Zufall, dass gerade in diesen Bereichen der Wirtschaft neue Streik- und Protestformen entstanden sind und sich ein zunehmendes kollektives politisches Selbstbewusstsein von Beschäftigten entwickelt hat. In diesen Auseinandersetzungen überschneiden sich Klassenkämpfe und antirassistische Kämpfe. Hier, genauso wie in den Kämpfen gegen alltäglichen Rassismus und rassistische Gewalt, sehen wir eine weitere Bruchlinie, die es zu vertiefen gilt, indem wir selbstbewusst und kompromisslos gegen Rassismus, Ausbeutung und für eine solidarische Migrationsgesellschaft kämpfen.
Im neoliberalen Kapitalismus von heute lassen sich zwei konkurrierende politische Projekte beobachten. Sie ringen um Hegemonie und Vorherrschaft. Auf den ersten Blick scheinen ihre Pläne zur Bearbeitung der globalen Vielfachkrise komplett unterschiedlich, ihre Wertvorstellungen diametral entgegengesetzt zu sein. Das bürgerlich-liberale Hoffnungsprojekt einer „grünen“ Modernisierung steht gegen ein offen autoritäres, manchmal faschistisches Projekt der fossilen Rückwärtsgewandtheit. Die einen wollen mit einem neuen Akkumulationsregime, also mit neuen Technologien, veränderten Produktionsweisen und flexiblen Arbeitsverhältnissen den Kapitalismus modernisieren, um ihn mit Migrationsgesellschaft und Klimaschutz zu versöhnen. Die anderen halten stur an der alten Industriegesellschaft fest und wollen gesellschaftspolitisch die Uhr um Jahrzehnte zurückdrehen. Die ungleiche Verteilung der Produktionsmittel und Ressourcen zwischen Nord und Süd, Staatsbürger*innen und Zugewanderten sowie zwischen den Geschlechtern wird von ihnen aggressiv verteidigt.
Auf den zweiten Blick zeigen sich große Schnittmengen zwischen diesen beiden Hegemonieprojekten. Beide wollen die kapitalistische Produktions- und Lebensweise erhalten, ebenso die globalen imperialistischen Ausbeutungsverhältnisse. Beide knüpfen in unterschiedlicher Form an den Neoliberalismus an. Die Übergänge sind fließend und manche Akteur*innen schwer zuzuordnen.
Als Ergebnis der starken rechten Formierung der letzten Jahre zeichnet sich ein modernisierter Festungskapitalismus als Kompromiss zwischen den beiden kapitalistischen Hegemonieprojekten ab. Dieser grenzt sich aggressiv nach außen ab und greift nach innen zunehmend auf eine autoritäre Form der Politik zurück. Gleichzeitig gibt es weiterhin Zugeständnisse an eine liberale Lebensweise und die Spielregeln der parlamentarischen Demokratie bestehen fort. Es deutet sich eine Gesellschaft an, die gerade so viel Klimaschutz und Modernisierung unternimmt, wie es ohne großen Widerstand des fossilen Kapitals und seiner Gefolgsleute machbar ist.
Gegenwärtig fehlt ein starker linker Block, der in dieses Kräfteverhältnis eingreifen kann – aber das muss und darf so nicht bleiben. Um wirksam eingreifen zu können, brauchen wir ein Verständnis der Gemeinsamkeiten und der Unterschiede zwischen dem vermeintlich grün-progressiven und dem reaktionären Projekt.
Das Projekt eines „grünen Kapitalismus“ verspricht, die Klimakrise durch ökologische Modernisierung erfolgreich zu lösen und gleichzeitig neue Profitmöglichkeiten zu eröffnen. So könnten die kapitalistische Produktions- und Lebensweise langfristig aufrechterhalten und die ökologischen Lebensgrundlagen bewahrt werden. Kern dieses falschen Versprechens ist es, durch technischen Fortschritt und ökologischen Strukturwandel das Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch zu entkoppeln. Das Projekt einer grünen Modernisierung muss die Ursachen und Folgen der Klimakrise also nicht ignorieren oder ganz leugnen, so wie es das rechte Projekt macht. Aus diesem Grund unterstützen internationale Institutionen wie die UN, WTO oder EU überwiegend diese Perspektive.
In den kapitalistischen Zentren Westeuropas und Nordamerikas ist das Projekt einer grünen Modernisierung eng mit dem „progressiven“ Neoliberalismus verbunden. Zustimmung wird vor allem durch Anerkennungspolitiken hergestellt, die Teile der Forderungen aus sozialen Bewegungen aufgreifen, aber diese so abschwächen und uminterpretieren, dass sie mit der kapitalistischen Verwertungslogik vereinbar sind. Ein solchermaßen modernisierter Kapitalismus inszeniert sich als Verteidiger individueller Freiheitsrechte und liberaler Werte, die eine zentrale Rolle für das Selbstverständnis eines grün-progressiven Blocks einnehmen.
Doch die Rettung der kapitalistischen Fortschrittserzählung ins 21. Jahrhundert kann in der Praxis nicht aufgehen: Ein System, das grundlegend auf der Maximierung von Profit und permanentem Wachstum aufgebaut ist, muss auch die natürlichen Ressourcen der privaten Verfügungsgewalt unterwerfen. Ökologische und planetare Grenzen kann es nicht respektieren. Die Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch bleibt eine theoretische Vorstellung, die keiner empirischen Überprüfung standhält. Einen tatsächlich grünen Kapitalismus gibt es nicht und kann es nicht geben.
Auch die Verteidigung liberaler Werte und die progressive Inszenierung in diesem Projekt bleiben hohl. Denn Kapitalismus und imperiale Lebensweise lassen sich nicht ohne Abschottung, rassistische Ungleichbehandlung, Aufrüstung und Repression aufrechterhalten. Das gilt vor dem Hintergrund der bereits unabwendbaren Folgen der Klimakrise umso mehr.
Das gegenwärtige Versagen der Ampel an den minimalen eigenen Ansprüchen belegt dies deutlich. Kleinen Verbesserungen, die nichts kosten, wie die Abschaffung des §219a, also die Streichung des Werbeverbots für Abtreibungen, oder halbherzigen Liberalisierungen beim Staatsangehörigkeitsrecht steht eine Praxis von Abschottung, Sozialabbau und Großmachtpolitik gegenüber. Versteckt hinter Phrasen wie „europäische Solidarität“ wird das Asylrecht ausgehöhlt. Von der „feministischen Außenpolitik“ bleibt kaum mehr als Waffendeals mit Diktaturen übrig. Die Klimaziele werden Jahr für Jahr verfehlt, die fossile Infrastruktur sogar noch ausgebaut.
Alle Hoffnungen in eine grüne Modernisierung des Kapitalismus sind also vergeblich. Eine tatsächliche sozial-ökologische Transformation kommt nicht von oben, sondern muss antikapitalistisch sein.
Konservative und Marktradikale, Rechte bis hin zu faschistischen Kräften haben sich – je nach Land in unterschiedlichen Konstellationen – zu einem eigenständigen rechten Projekt formiert, das mit dem progressiv-grünen Projekt erbittert um die Hegemonie ringt. In Deutschland hat diese Entwicklung verzögert eingesetzt, ist jetzt aber mit den Wahlerfolgen der AfD und dem Rechtsschwenk der CDU unter Merz voll angekommen.
Das rechte Projekt verspricht trotz der multiplen Krisen und der zunehmenden Unsicherheit, dass durch eine Mischung aus Abschottung, Klimaleugnung und der Verteidigung patriarchaler Privilegien alles so bleiben kann, wie es ist. Für dieses falsche Versprechen von Stabilität werden die – in der Bevölkerung seit jeher vorhandenen – rassistischen, sexistischen, antisemitischen und queerfeindlichen Haltungen gezielt mobilisiert und radikalisiert. In den klassischen und in den sozialen Medien inszenieren sich die Rechten als angeblich widerständige Stimme. Dabei hilft ihnen, dass große Teile der Medien- und Parteienlandschaft die rechten Narrative aufnehmen und ihre menschenfeindlichen Positionen dadurch normalisieren.
Nach dem Sommer der Migration 2015 stand vor allem die rassistische Hetze im Vordergrund der rechten Agitation. In den letzten Jahren gewinnt zusätzlich ein antifeministischer und queerfeindlicher „Kulturkampf“ an Bedeutung. In diesem Versuch, die progressiven, gesellschaftspolitischen Errungenschaften nach 1968 zurückzudrehen, werden auch antisemitische Untertöne immer lauter. So konnte über Interessensgegensätze hinweg ein rechter gesellschaftlicher Block geschaffen und verbreitert werden.
In Deutschland ist es die AfD, die für die Organisierung dieses rechten Blocks die zentrale Rolle einnimmt. Sie konnte sich als rechte Partei mit fester Wähler*innenschaft etablieren, die Finanzierung rechter Strukturen ausweiten und für eine Vernetzung der Rechten auf nationaler wie internationaler Ebene sorgen. Die AfD ist ein Sammelbecken für extrem rechte Akteur*innen und eine Schnittstelle zu aktivistisch agierenden offenen Neonazis. Gleichzeitig werden die Übergänge zu Teilen der etablierten konservativen Parteien und Medien immer fließender. Die Wahrscheinlichkeit parlamentarischer Bündnisse bis hin zu Regierungsbeteiligung wächst.
Neoliberale und Rechte teilen nicht nur einzelne ideologische Vorstellungen und ihre Zusammenarbeit geht über zeitweise Bündnisse hinaus. Das zeigte sich besonders deutlich an den coronaleugnenden Querdenker*innen. Hier spitzt sich die neoliberale Ideologie autoritär zu: Ich-Bezogenheit und individualistisch verstandene Freiheit führen zu Aggression gegen jede kollektive Solidarität. So haben der diffuse Zusammenschluss von autoritären Libertären und Schwurbler*innen die Basis für das rechte Projekt erweitert. Hinzukommen religiöse Fundamentalist*innen, die ihre Strukturen in den letzten Jahren stark ausbauen konnten und vermehrt Bündnisse mit Teilen des rechten Blocks eingehen.
Die Gefahr, die von diesem rechts-autoritären Projekt ausgeht, beginnt lange vor einer Regierungsbeteiligung der AfD. Die rassistischen, antisemitischen, misogynen, queer- und transfeindlichen Gewaltfantasien bleiben nicht im virtuellen Raum der sozialen Medien, sondern führen zu realer, oft tödlicher Gewalt. Dies haben die Mordanschläge von Halle 2019 und Hanau 2020 deutlich gezeigt. Polizei, Geheimdienste und Militär bleiben ein Anziehungspunkt für rechts-autoritäre Charaktere. Sie sind Brutstätten für Rassismus und Naziterrorismus. Im nie konsequent entnazifizierten Sicherheitsapparat der BRD existieren bis heute rechte Netzwerke, von denen eine große Gefahr insbesondere für migrantisierte Menschen ausgeht. Auf den Staat ist daher bei der Bekämpfung rechter Strukturen kein Verlass. Von allein handelt er nur vereinzelt oder wenn er sein Gewaltmonopol gefährdet sieht. Zu allem anderen müsste eine starke antifaschistische Bewegung ihn zwingen.
Der selbstgerechten Darstellung Deutschlands als ein Land, das aus der Geschichte gelernt habe und heute geläutert sei, zum Trotz: Der Antisemitismus kommt aus der „Mitte der Gesellschaft“, er ist weder Vergangenheit noch Einzelfall und auch kein durch Migration importiertes Problem. Antisemitische Verschwörungserzählungen bilden ideologische Brücken von extremen Rechten zu sogenannten Querdenker*innen, von Reaktionären bis zu Teilen der Friedensbewegung.
Gerade in Ostdeutschland sind rechte und faschistische Strukturen, Parteien und Personen tief in der Gesellschaft verankert, während eine (links-)liberale Zivilgesellschaft oft kaum existiert. Hier droht eine regionale rechte Hegemonie, in vielen Gegenden ist sie bereits Wirklichkeit. Eine Erklärung hierfür sind die Abstiegs- und Entwertungserfahrungen, die viele DDR-Bürger*innen in den Jahren nach 1989 gemacht haben. Hieran konnte die extreme Rechte mit einer gezielten Ostpolitik geschickt anknüpfen. Der staatliche Antifaschismus der DDR war auf andere Weise genauso oberflächlich wie die Vergangenheitsbewältigung im Westen. Unter der Oberfläche von Sozialismus und Internationalismus lebten Rassismus und Autoritarismus weiter. Nach dem Zusammenbruch der DDR gab es eine nachvollziehbare Skepsis gegenüber linken Positionen und Organisationen. Auch deshalb hatten die Rechten in Ostdeutschland relativ leichtes Spiel. Heute müssen wir diese Besonderheiten in der Strategie und Praxis unserer antifaschistischen Politik berücksichtigen.
Die Gefahr durch den rechts- autoritären Block ist also akut und real. Dagegen sind breite, antifaschistische Bündnisse notwendig. Zugleich ist das grün-progressive Projekt selbst Teil des Problems, weil es sich von den Rechten treiben lässt. Wirksamer Antifaschismus funktioniert auf Dauer nur mit einer linken, antikapitalistischen Perspektive.
Die Lage der Linken ist widersprüchlich: Es gibt immer wieder beeindruckende Mobilisierungen der Klimagerechtigkeitsbewegung, von Black Lives Matter, Migrantifa, von Deutsche Wohnen und Co. enteignen oder gegen die AfD. Es werden mehr junge Menschen von feministischen, antirassistischen, ökologischen und anderen linken Kämpfen geprägt, als wir vor wenigen Jahren noch gehofft hätten. Gleichzeitig bleiben diese Bewegungen oft punktuell, entwickeln nur kurzfristige Verschiebungen im Diskurs und können ihre konkreten Anliegen nur selten durchsetzen. Vor allem ändern sie nichts an der Strategielosigkeit und Handlungsschwäche linker und linksradikaler Organisationen.
Die Corona-Pandemie mit der allgegenwärtigen Ansteckungsgefahr, den Lockdowns und Einschränkungen im Versammlungsrecht hat viele Menschen davon abgehalten, für Protest und Widerstand auf die Straße zu gehen. Wie die gesamte Gesellschaft, so haben auch unsere eigenen Strukturen und die unserer Bündnispartner*innen unter den Bedingungen der sozialen Isolation gelitten. Die neoliberale Vereinzelung der Menschen hat sich dadurch noch verschärft. Zugleich haben sich in der Corona-Krise tiefe Widersprüche in der gesellschaftlichen und radikalen Linken aufgetan, die gemeinsame Positionen und wirksame praktische Interventionen verhindert haben.
Ähnliche Ratlosigkeit und Widersprüche zeigen sich in der Bewertung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und der folgenden Inflations- und Energiekrise. Wie sieht eine antimilitaristische Haltung aus, die antagonistisch zum deutschen und westlichen Militarismus bleibt, ohne den aggressiven russischen Imperialismus zu leugnen oder unwillentlich zu unterstützen? Wem gilt unsere Solidarität und was heißt das zum Beispiel für unsere Position zu Waffenlieferungen? Wie bringen wir die Forderungen nach bezahlbarer Energie und die Notwendigkeit eines radikalen Klimaschutzes unter einen Hut? Zu diesen Fragen hat auch die IL viel gestritten und zu wenige Antworten gefunden.
Die Spaltung der Linkspartei ist Folge und schärfster Ausdruck der Widersprüche in der gesellschaftlichen Linken. Zwischen den nationalistischen und vulgär-antiimperialistischen Provokationen und bräsigem Reformismus hatten es die emanzipatorischen Kräfte in der Partei immer schwerer. Mit der nun vollzogenen Trennung gibt es möglicherweise Chancen für einen bewegungsorientierten Neustart. Für die IL war die Linkspartei stets wichtige, strategische Bündnispartnerin, aber nie ein Feld politischer Intervention. Unser Projekt ist die eigenständige linksradikale Organisierung und wird es bleiben.
Gewerkschaften und Verbände haben sich in den vergangenen Jahren zwar in Richtung sozialer Bewegungen geöffnet und zum Beispiel mit Teilen der Klimagerechtigkeitsbewegung die Zusammenarbeit gesucht. Insgesamt bleiben sie aber in ihren etablierten, sozialpartnerschaftlich orientierten Bahnen. Sie sind damit punktuelle Partner*innen für Bündnisse und Zusammenarbeit, fallen als Motor für radikale Veränderungen aber weitgehend aus.
In der radikalen Linken haben in den letzten Jahren zwei Formen der Politisierung besonderen Zulauf. Erstens ist das eine machtkritische Identitätspolitik. Sie beschäftigt sich mit den vielfältigen Dimensionen von Diskriminierung, allen voran Rassismus, Patriarchat sowie Queer- und Transfeindlichkeit. Wichtig sind dabei vor allem die eigene Positionierung und das individuelle moralisch richtige Verhalten. Diese Politik hat dadurch häufig einen Anleitungscharakter, schafft aber wenig kollektive Handlungsansätze zur gemeinsamen Überwindung der Gewaltverhältnisse.
Zweitens ist – in unterschiedlicher regionaler Stärke – eine Vielzahl „roter Gruppen“ entstanden. Sie bedienen das verbreitete Bedürfnis nach politischer Orientierung und ideologischer Eindeutigkeit. In ihrem dogmatischen Marxismus-Leninismus stehen das Wachstum der eigenen Organisation und ein radikaler Habitus im Vordergrund. Die Vielfalt der revolutionären Linken und der Bewegungen sehen sie nicht als Chance, sondern vor allem als Problem, das es durch Vereinheitlichung und die richtige Ideologie zu überwinden gilt. Folgerichtig treten sie oft als homogener Block auf und kopieren in Ideologie und Ästhetik ihre revolutionären Vorbilder der 1920er Jahre. Ihre Bündnispolitik bleibt meist punktuell und instrumentell.
Der Identitätspolitik und den „roten Gruppen“ gemeinsam ist, dass sie Orientierung und vermeintliche Klarheit für die diffusen Herausforderungen der Gegenwart anbieten. Beide Richtungen erteilen – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – der Suche nach dem Gemeinsamen eine Absage, was die gleichwohl notwendigen Bündnisse oft schwierig macht.
Parallel zu diesen Entwicklungen innerhalb der gesellschaftlichen Linken findet der Kampf um Aufmerksamkeit und politische Positionen zunehmend in den sozialen Medien statt. Einige wenige linke Publizist*innen und Influencer*innen nutzen das virtuelle Kampffeld, um Impulse zur Politisierung zu setzen. Sie bieten Identifikationsmöglichkeiten und verhelfen marginalisierten Positionen zu mehr Sichtbarkeit. Gleichzeitig stellen die Flüchtigkeit, der Individualismus und die oft verkürzten Debatten in sozialen Medien Grenzen für kollektive Veränderungsprozesse dar. Bisher tun sich große Teile der organisierten Linken schwer mit Plattformen, auf denen lange Texte und anonyme Gruppen so schlecht funktionieren. Dieser Herausforderung wollen wir uns stellen, indem wir mehr eigene Kanäle und Formate entwickeln, die eine Balance zwischen kollektivem Sprechen und notwendiger Personalisierung finden. Dabei werden wir nicht vergessen, dass am Ende nicht der virtuelle Raum entscheidet, sondern die ganz reale Straße.
Die großen Fragen liegen also auf dem Tisch: Wie müssen wir angesichts der multiplen Krisen die Strategien der gesellschaftlichen und der radikalen Linken neu formulieren? Wie identifizieren wir nicht nur Konfliktfelder, sondern werden in ihnen handlungsfähig? Wie aktualisieren wir unsere Taktiken und Aktionsformen? Was fehlt, damit Mobilisierungserfolge auch zu materiellen Erfolgen führen? Was sind kollektive Organisationsformen für das 21. Jahrhundert? Kurz: Wie bauen wir gesellschaftliche Gegenmacht auf?
Eine Welt in Flammen, Krieg als Normalität, soziale Krisen und eine Gesellschaft im Umbruch: So, wie es ist, wird es nicht bleiben. Viele wissen das, alle spüren es. Wie leben wir? Wie organisieren wir die gesellschaftliche Produktion und Reproduktion? Und auf wessen Kosten? Die Klimakrise macht diese Fragen zu Fragen des Überlebens. Wir sind überzeugt: Die anstehenden gesellschaftlichen Veränderungen dürfen nicht oberflächlich, sondern müssen tiefgreifend und radikal sein. Ein revolutionärer Bruch mit dem Kapitalismus und allen damit verbundenen Macht- und Herrschaftsverhältnissen ist notwendig. Auch wenn „Sozialismus oder Barbarei“ eine Parole des 20. Jahrhunderts ist: Mit den planetaren Krisen der Gegenwart ist sie so dringlich wie nie.
Doch das Verlangen nach Revolution alleine reicht nicht. Für die radikalen Veränderungen, die wir uns vornehmen, benötigen wir konkrete strategische Zugänge. Diese werden wir auf den nächsten Seiten diskutieren. Sie umfassen die Orientierung auf den revolutionären Bruch, das Verhältnis von langfristiger Transformation und kurzfristigen Gelegenheiten sowie den Aufbau von Gegenmacht für ein linkes Hegemonieprojekt mit Vergesellschaftung als zentraler Achse.
Unser Ziel ist der revolutionäre Bruch mit dem Bestehenden. Unser Antrieb ist die alltägliche Wut über die herrschenden Verhältnisse und das Begehren nach einer Welt, in der alle Menschen nach ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen ein gutes Leben führen können. Ohne Abschaffung des kapitalistischen Privateigentums, ohne Aufhebung der Klassen und der Ausbeutung, ohne Überwindung der patriarchalen und rassistischen Unterdrückung und Gewalt wird es eine solche Welt nicht geben. Ohne Bruch mit dem Kapitalismus und seiner Profitlogik kann und wird es keine solidarischen Antworten auf die existenziellen Krisen und Bedrohungen des 21. Jahrhunderts geben – weder in Deutschland noch in Europa oder weltweit. Es braucht eine radikale Demokratisierung aller Lebensbereiche, um die systematische Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen zu stoppen.
Bislang wird die demokratische Verfügung über Umwelt, Produktion und Reproduktion durch das Privateigentum an den Produktionsmitteln blockiert. Eine radikale Demokratisierung muss also hier ansetzen – und sicherstellen, dass alle Bereiche der Gesellschaft erfasst werden und alle Menschen die gleichen Rechte erhalten, unabhängig von Staatsangehörigkeit oder Herkunft.
Der Nationalstaat und seine Institutionen stehen dieser umfassenden Demokratisierung entgegen. In ihm verdichten sich Macht- und Kapitalinteressen, die auf Kosten des Globalen Südens durchgesetzt werden. Seine Grenzen dienen der Kontrolle und Abschottung – und sind daher immer blutig. Deshalb muss dieser Nationalstaat abgeschafft werden – ebenso wie die Europäische Union, die Kapitalinteressen bedient und die Festung Europa organisiert.
Wir begreifen Revolution als einen Prozess, in dem der bürgerliche Staat und seine Institutionen schrittweise überwunden werden. Dabei können parlamentarische Politik und Mehrheiten bestenfalls eine untergeordnete Rolle spielen. Ohne mit seinen Regeln zu brechen, lässt sich das politische System nicht grundlegend ändern. Alle entsprechenden Versuche sind gescheitert. Das zeigen Parteien wie DIE LINKE, Syriza oder Podemos. Auch wenn wir die Bedeutung von Parteien für ein linkes Hegemonieprojekt und als Anknüpfungspunkt für linke Politik im Alltag anerkennen und in konkreten Kämpfen und Kampagnen mit ihnen zusammenarbeiten: Unsere Aufgabe ist der langfristige Aufbau außerstaatlicher, gesellschaftlicher Gegenmacht in der Verbindung von revolutionärer Organisierung und sozialen Bewegungen.
Revolution meint nicht nur den Umsturz der wirtschaftlichen und politischen Ordnung, sondern auch tiefe Veränderungen in unserer Subjektivität und unseren alltäglichen Beziehungen. Heute scheinen neoliberale Vereinzelung und Abstumpfung gegenüber dem Leid in anderen Teilen der Welt allgegenwärtig. Es ist kaum vorstellbar, wie wir in einer befreiten Gesellschaft einander anders begegnen und unser Leben gestalten könnten. Umso dringlicher ist es, schon auf dem Weg dorthin unsere Beziehungsweisen und uns selbst zu verändern – damit aus Vereinzelung in vermeintlicher Souveränität eine kollektive Freiheit in solidarischer Abhängigkeit wird.
Der Weg dorthin erfordert Geduld, Fantasie, Kampfgeist, Kollektivität und den Willen zur revolutionären Veränderung. In der Geschichte der Linken gab und gibt es viele Niederlagen und Irrwege. Es gab Rückzug und Zynismus, Verrat und Konterrevolution, Militarisierung und brutale Gewalt – von der mörderischen Staatlichkeit des Stalinismus bis zur reformistischen Einhegung durch sozialdemokratische oder grüne Parteien. Dieser Geschichte des linken Scheiterns sind wir uns bewusst. Wir sind entschlossen, aus ihr zu lernen und es anders und besser zu machen.
Revolutionäre Prozesse lassen sich nicht am Reißbrett entwerfen. Genauso wenig aber fallen sie vom Himmel. Sie ergeben sich sowohl aus jahrzehntelanger, kontinuierlicher Arbeit für Veränderungen im Hier und Jetzt, als auch aus den spontanen Kämpfen sozialer Bewegungen und dem utopischen Begehren derer, die gegen das Bestehende rebellieren. In unserer Strategie beziehen wir uns deshalb auf beides: Auf die transformative Verschiebung von Kräfteverhältnissen ebenso wie auf das Handeln in der kurzfristigen Dynamik konkreter Gelegenheiten.
Gelegenheiten sind für uns Zeitfenster, in denen scheinbar stabile Prozesse sprunghaft verlaufen. Momente und Ereignisse, in denen es für einen kurzen Zeitraum politisch mehr zu gewinnen oder zu verlieren gibt als erwartet. Gelegenheiten lassen sich nicht erzwingen. Aber in unserem Zeitalter der Krisen nimmt die Instabilität zu, weshalb solche politischen Gelegenheiten häufiger auftreten. Die letzten Jahre zeigen, dass mutige Interventionen weniger Aktivist*innen einen echten Unterschied machen können. So war es beispielsweise bei den bundesweiten Protesten gegen die Wahl von Thomas Kemmerich zum Thüringer Ministerpräsidenten im Jahr 2020. Dieses Beispiel zeigt aber auch, dass wir zuletzt vor allem dann in der Lage waren, spontan zu handeln, wenn es um Abwehrkämpfe ging. Wir konnten schlimmeres verhindern, aber selten Momente nutzen, um die gesellschaftliche Linke nach vorne zu bringen.
Umso wichtiger ist es, besser als bisher vorbereitet zu sein und zu wissen, wie sich Gelegenheiten nutzen lassen. Wichtige Voraussetzungen hierfür sind die genaue Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen, ein gutes Gespür für gesellschaftliche Situationen und Stimmungen, enge Kontakte zu anderen (Bewegungs-)Akteur*innen und betroffenen Gruppen sowie die Fähigkeit zur koordinierten und entschlossenen Intervention. Um Erfahrungswissen weitergeben zu können, ist ein generationenübergreifendes Organisierungsprojekt wichtig.
Die Herausforderung revolutionärer Politik besteht darin, solche Gelegenheiten mit längerfristigen Transformationsstrategien zu kombinieren. Letztere erzielen reale Erfolge, stellen die Umsetzbarkeit linker Ideen unter Beweis und schaffen gesellschaftliche Verankerung. Sie ermöglichen das Erlernen emanzipatorischer Beziehungsweisen und weisen ganz konkret über die gegenwärtige Traurigkeit des Kapitalismus hinaus. Ein produktives Zusammenspiel von Gelegenheiten und kontinuierlicher Arbeit ermöglicht kleine Brüche.
Kleine Brüche sind zentrale Zwischenziele unserer Politik. Damit meinen wir Veränderungen, die unseren Handlungsspielraum und unsere gesellschaftliche Gegenmacht systematisch aufbauen und erweitern:
Erst durch die Verbindung dieser Dimensionen wird aus einem politischen Sieg ein kleiner Bruch. Er reizt die bestehenden Spielregeln aus oder bricht diese und macht das Unvorstellbare vorstellbar, ohne aber schon die Verhältnisse völlig auf den Kopf zu stellen. Somit ist nicht jede Reform, die wir gegen den Staat durchsetzen, ein kleiner Bruch. Aber kleine Brüche sind die Grundlage eines erfolgreichen revolutionären Prozesses. Die Kampagne Deutsche Wohnen und Co. enteignen ist ein Beispiel für eine Politik, die in die Richtung eines kleinen Bruchs weist: Der Volksentscheid zur Enteignung großer Immobilienkonzerne machte Enteignung und Vergesellschaftung im Bereich Wohnen als reale Option greifbar; seine Umsetzung würde massive Verbesserungen für die Mieter*innen bedeuten und hat in Form des Mietendeckels zumindest kurzfristig materielle Zugeständnisse erzwungen. Deutsche Wohnen und Co. enteignen ist aber nicht nur eine politische Kampagne, sondern basiert auf der jahrelangen Organisierung von Mieter*innen und stadtpolitisch Aktiven in dauerhaften und handlungsfähigen Strukturen.
Besonders komplex und folgenreich ist das Verhältnis von Gelegenheit und Transformation in Momenten des Aufstands. Aufstände sind für uns eine besondere Form der Gelegenheit. Oft markieren sie den Unterschied zwischen gestern und morgen. Sie entfalten eine starke symbolische und motivierende Kraft und können Machtverhältnisse ins Wanken bringen. Zugleich sind sie beständig von der Gefahr repressiver Gewalt und der Logik militärischer Eskalation bedroht. Gerade deshalb sind organisierte Kerne und gesellschaftliche Verankerung wichtig, um über die Dynamik der Situation hinaus ein emanzipatorisches Projekt zu verfolgen.
Einen tatsächlich revolutionären Charakter entfalten solche Aufstände dort, wo sie die Grenzen einer rein sozialen oder politischen Auseinandersetzung überschreiten und alle gesellschaftlichen Bereiche erfassen. In solchen Situationen werden Mittel der Unterbrechung wie Blockaden, Sabotage und der gesellschaftliche Streik besonders wichtig. In einem Aufstand können zudem zuvor aufgebaute Selbstverwaltungsstrukturen über sich selbst hinauswachsen und den Weg der Veränderung weisen. Aufstände ohne eine solche materielle und strukturelle Grundlage bleiben Strohfeuer. Eine revolutionäre Umwälzung ist ein Massenprojekt, das eine überwältigende Mehrheit gegen die Minderheit der Herrschenden erkämpft.
Vor diesem Hintergrund zielen wir auf Momente, in denen die Macht auf der Straße liegt. Auch wenn es herausfordernd ist: Es gilt, Chancen zu erkennen und das zu tun, was unmöglich erscheint – weil Gelegenheiten sonst vorbeiziehen oder reaktionäre Kräfte Geschichte schreiben. Hierfür braucht es eine rebellische Haltung und die Bereitschaft, auch subjektiv den Bruch mit dem Bestehenden zu wagen. Gleichzeitig ist es gefährlich, sich zu sehr in der Hoffnung auf den Moment zu verlieren und Gelegenheiten zu sehen, wo keine sind. Eine solche Herangehensweise nutzt sich ab und führt zu Resignation. Gerade in Zeiten dynamischer Krisen wird es in den kommenden Jahren für uns als Subjekte und als Organisation darauf ankommen, beides zu können: Offen zu sein für die Dynamik der Situation und zugleich mit Beharrlichkeit eine langfristige Transformation zu verfolgen.
Ein Grund für die aktuelle Krise der gesellschaftlichen Linken ist das Fehlen von Gegenmacht. Unter Gegenmacht verstehen wir, Entscheidungen und Politiken der Herrschenden unterbrechen, aber auch eigene Lösungen durchzusetzen zu können. Hierfür braucht es das Zusammenspiel linker Kräfte. Die Vielstimmigkeit der Bewegungen und Organisationen ist für uns nicht ein Problem, das durch die Führung einer Organisation behoben werden muss. Wir setzen darauf, linke Bewegungen in ihrer Gesamtheit zu stärken, zu verbinden und Vertrauen untereinander zu schaffen. Als organisierte radikale Linke ist es unsere Aufgabe, die Erfahrungen der Bewegungen zu verstetigen und diese auf ein neues Niveau zu heben. Das unterscheidet uns von individualistisch-moralischen Ansätzen innerhalb der Linken. Diese erschöpfen sich in Anleitungen zur persönlichen Verhaltensänderung, entwickeln aber keine Vorstellungen davon, wie die Gewaltverhältnisse kollektiv überwunden werden können.
Gesellschaftliche Gegenmacht entsteht in Kämpfen. Diese Kämpfe entwickeln eine besondere Stärke, wenn Menschen nicht nur über gemeinsame Überzeugungen, sondern auch über gemeinsame materielle Interessen zusammenkommen: Bei Streiks am Arbeitsplatz, in Auseinandersetzungen um Grundbedürfnisse wie Wohnen, Gesundheit, Pflege und Energie oder im Kampf gegen Diskriminierung, für Selbstbestimmung und rechtliche Gleichstellung. In diesen Kämpfen um soziale Gleichheit und Freiheit entsteht die Überzeugung, etwas an den eigenen Lebensumständen ändern zu können. Solche Kämpfe ermöglichen es uns, breite Teile der Bevölkerung anzusprechen und nach Mehrheiten für radikale Politik zu suchen.
Aber: Die radikale Linke ist in den kapitalistischen Zentren strukturell in einer Minderheitenposition. Das betrifft das Verhältnis zum Globalen Süden, aber auch zu vielen Interessen der Mehrheitsgesellschaft hier. Beides verschärft sich aktuell, weil das kapitalistische Fortschrittsversprechen mit der Klimakrise an seine Grenzen stößt. Die materiellen Voraussetzungen für globale Gerechtigkeit schwinden. Die Sehnsucht nach Sicherheit, Autoritarismus und Abschottung wächst und wird durch rechte Erzählungen angetrieben – auf Kosten von Menschen im Globalen Süden, aber auch von Migrant*innen und FLINTA* hier. Anders als eine grüne Modernisierung oder das reaktionäre Projekt versprechen wir niemandem, dass der materielle Wohlstand endlos weiterwachsen kann und die eigene Lebensweise unverändert bleiben wird. Wer dies tut, täuscht sich und andere – und stellt sich, bewusst oder unbewusst, auf die falsche Seite der Barrikade. Darüber müssen wir mit der Mehrheitsgesellschaft in den Konflikt treten, wenn wir ernsthaft für globale Klimagerechtigkeit und gegen den entstehenden Festungskapitalismus kämpfen wollen.
Wir sind dennoch überzeugt, dass die Verhältnisse hier nicht ohne Bruchstellen sind. Deshalb ziehen wir uns auch in Anbetracht dieser Minderheitenposition nicht auf eine vermeintlich radikale Position der reinen Kritik zurück. Denn die Bruchstellen lassen sich durch eine radikale, aber vermittelbare Politik vertiefen. Klimakrise, Pandemie und Krieg: Auch der Globale Norden ist keine Insel der Stabilität mehr, wo das Leben der meisten Menschen ungestört und unberührt weitergehen könnte. Auch hier gibt es Widersprüche in der herrschenden Produktions- und Lebensweise. Auch hier stellt sich die Frage, wer die Kosten für die Krisen zahlt. Wir leben inmitten einer planetaren Krise. Unter diesen Bedingungen ist eine Revolution die einzige Möglichkeit, ein gutes Leben für alle zu gewährleisten. Statt in moralischer Anklage zu verharren, geht es also darum, selbstbewusst und radikal zu intervenieren – und nach Allianzen zu suchen mit den Betroffenen und denjenigen, die an Menschlichkeit und Solidarität festhalten.
Dabei bestimmen wir die Wahl der Mittel immer wieder neu. Bei der Vergesellschaftung von sozialer Infrastruktur wie etwa Wohnraum deckt sich unser Ziel mit den Interessen der großen Mehrheit. Aber auch dort kann, je nach Situation, eine militante Zuspitzung notwendig sein. Andersherum kann selbst aus einer Position der Minderheit ein breit vermittelbares politisches Projekt sinnvoll sein. Die Seebrücke, die sich insbesondere gegen die Kriminalisierung von Seenotrettung im Mittelmeer richtete, war vielleicht nie ein mehrheitsfähiges Projekt. Aber sie bot vielen Menschen einen Anknüpfungspunkt für konkrete Solidarität. Eine Orientierung auf Vermittelbarkeit und die Kämpfe der Vielen bedeutet in diesem Sinne auch keine Absage an Militanz. Black Lives Matter hat es eindrucksvoll gezeigt: Auch Menschen, die nicht direkt unter Polizeigewalt leiden, können Verständnis haben, wenn eine Polizeiwache brennt. Je besser es uns gelingt, neue Verbindungen zu schaffen, ausgeschlossene Stimmen hörbar zu machen und in konkreten Kämpfen ansprechbar und erlebbar zu sein, desto freier sind wir in der Wahl unserer Mittel.
Das bedingungslose Eintreten für globale Gerechtigkeit und die radikale Demokratisierung der Gesellschaft stehen also oft in einem realen Widerspruch. Ein transformatives Projekt kann helfen, diesem Widerspruch zu begegnen: Eine gemeinsame Vision verbindet Kämpfe und Akteur*innen zu einem gesellschaftlichen Block. So ein Projekt ist auch ein Gradmesser: Wer wird in das Ringen für Veränderung einbezogen und mitgedacht? Welche Utopien bilden sich heraus? Auch hier sehen wir unsere Aufgabe darin, die Interessen von Minderheiten und Unterdrückten kompromisslos zu vertreten, ohne die Bestrebungen eines mehrheitsfähigen Projekts aufzugeben.
Ein transformatives linkes Hegemonieprojekt ist aktuell kaum erkennbar. Trotzdem ergeben sich aus Kämpfen für die Vergesellschaftung von Wohnraum und anderer sozialer Infrastruktur die Umrisse eines solchen Projekts. Vergesellschaftung als Richtungsforderung und Strategie ist für die Bildung eines linken Hegemonieprojekts zentral. Sie kann aus der Ohnmacht der Linken herausführen. Denn Vergesellschaftung zeigt die Möglichkeit einer solidarischen Zukunft auch unter den Bedingungen der globalen Krisen. Das unterscheidet ein linkes Hegemonieprojekt vom „grünen“ Kapitalismus und dem Projekt der Rechten. Diese haben Antworten auf die Krisen nur um den Preis von immer stärkerer Abschottung, Militarisierung und Unterdrückung.
Vergesellschaftung meint die umfassende Demokratisierung von Produktion und Reproduktion, indem sie aus der Kontrolle von Staat und Kapital befreit werden. Vergesellschaftung zielt dabei auf drei Ebenen:
Verstaatlichung ist dabei nicht automatisch ein Fortschritt. Erfahrungen mit Staatsbetrieben zeigen, dass sie oft unter denselben Bedingungen operieren wie privates Kapital. Vergesellschaftung ist deshalb eine wichtige Richtungsforderung, weil wir damit Gemeineigentum an die Stelle des Dualismus von Staat oder Markt setzen können. Wenn Beschäftigte, Nutzer*innen und Mieter*innen sich demokratisch selbst verwalten und globale und gesamtgesellschaftliche Interessen berücksichtigen, verwirklicht sich das revolutionäre Potenzial von Vergesellschaftung.
Derzeit verhindert der Kapitalismus demokratische Entscheidungen über klimaschädliche Produktion, erzwingt ständiges Wirtschaftswachstum, Emissionen und Ressourcenverbrauch. Eine vergesellschaftete, klimagerechte Wirtschaft richtet sich nach den tatsächlichen Bedarfen und Bedürfnissen der Menschen, nicht nach Wachstums- und Profitzwängen. Gleichzeitig muss sie mit planetaren Grenzen und einer global gerechten Verteilung von Ressourcen vereinbar sein.
Die Vergesellschaftung der sozialen Reproduktion ist ein wichtiger Bestandteil einer feministischen und solidarischen Wirtschaft, in der Sorgearbeit stark aufgewertet und gerecht aufgeteilt ist. Vergesellschaftete, demokratische Verwaltung schafft auch die Möglichkeit, antirassistische Prinzipien durchzusetzen. Strukturell rassistische Funktionsweisen werden verändert und der explizite Rassismus bekämpft. Das bedeutet nicht, dass die Strategie der Vergesellschaftung alle gesellschaftlichen Probleme und Herrschaftsverhältnisse wie Patriarchat und Rassismus einfach auflöst. Ebenso wenig wird globale Ungleichheit automatisch behoben. Vergesellschaftung ist ein Auftakt, um überhaupt anders leben, wirtschaften und sich begegnen zu können. Alle mit ihr erkämpften Verbesserungen müssen immer wieder verteidigt werden.
Vergesellschaftung ist aus unserer Sicht geeignet als zentrale Achse eines linken Hegemonieprojekts, da sie als Strategie Lebensumstände verbessert und in den vergesellschafteten Bereichen Staat und Kapital zugunsten demokratischer Selbstverwaltung zurückdrängt. Als Richtungsforderung hat Vergesellschaftung einen utopischen Überschuss. Sie zeigt, wie wir uns die Gesellschaft nach der Revolution vorstellen. Umso stärker ist der Widerstand, den Staat und Kapital konkreten Vergesellschaftungsprojekten wie Deutsche Wohnen und Co. enteignen entgegenbringen. Dies bestärkt uns darin, dass es nicht reicht, nur über Vergesellschaftung zu sprechen. Wir müssen sie in der Praxis umsetzen und erkämpfen – gemeinsam, ungehorsam und solidarisch.
In den Kämpfen der letzten Jahre haben wir vor allem diskursive Erfolge erzielt. Linken Kräften ist es gelungen, die Zustimmung zu kritischen und progressiven Positionen in vielen gesellschaftlichen Bereichen zu vergrößern. Damit konnten wir einzelne Zugeständnisse abringen, wie die Streichung des §219a. Gleichzeitig blieben materielle Erfolge meist aus, echte Gegenmacht entstand kaum. Statt kleine Brüche zu erzeugen, werden Schlagworte unserer Kämpfe vom vermeintlich grünen Modernisierungsprojekt symbolisch aufgenommen und vereinnahmt. Der weltweite Aufstieg der Rechten zeigt, wie bereitwillig diese Zugeständnisse zur Disposition gestellt werden, um die herrschende Ordnung zu stabilisieren. Umso mehr müssen wir daher die Fähigkeit entwickeln, Erfolge gegen Angriffe zu verteidigen.
In diesem Sinne wollen wir aus einer radikalen Minderheitenposition heraus kurzfristige Handlungsfähigkeit mit der langfristigen Organisation von Gegenmacht verknüpfen, die nicht symbolisch und appellativ bleibt. Diskursive Verschiebungen bleiben ein relevanter Teil unserer Praxis. Sie müssen sich aber daran bemessen lassen, inwieweit sie das Potenzial für kleine Brüche stärken und reale Veränderungen bewirken. Wir müssen die organisierenden und unterbrechenden Elemente von Gegenmacht systematisch ausweiten, wenn wir ein linkes Hegemonieprojekt voranbringen wollen. Nur dann können wir Veränderungen auch erzwingen. In der Vergangenheit standen unsere Ansätze oft unverbunden nebeneinander. Immer wieder taten sich Spannungsfelder auf: zwischen dem Gewinnen von Mehrheiten und dem Kämpfen als radikale Minderheit, zwischen Verankerung und der Notwendigkeit zur Zuspitzung, zwischen Rebellion und Transformation. In Zukunft müssen wir unsere Ansätze also besser als bisher in ein sinnvolles Verhältnis zueinander setzen.
Für die Bestimmung dieses Verhältnisses brauchen wir produktiven Streit, innerhalb und außerhalb unserer Organisierung. In den folgenden Abschnitten aktualisieren wir deshalb unsere strategischen und taktischen Orientierungen. Im Zwischenstandspapier von 2014 haben wir diese zum ersten Mal aufgeschrieben. Einige Ansätze sind weiterhin gültig, andere sind neu hinzugekommen oder haben in unserer Organisierung an Relevanz gewonnen. Aus dieser Aktualisierung ist kein fertiges Programm geworden, sondern eine Mischung aus Auswertung, neuen Vereinbarungen, Herausforderungen und der gemeinsamen Suche nach Antworten auf offene Fragen.
Der Kampf für eine solidarische Zukunft muss gemeinsam geführt werden, auf vielfältige Art und Weise. Nur im Zusammenspiel verschiedener linker Kräfte in einem gesellschaftlichen Block werden wir in der Lage sein, Kräfteverhältnisse zu verschieben und Machtfragen erfolgreich zu stellen. Davon sind wir weit entfernt. Um diesen Block zukünftig zu schaffen, sind wir in einer Vielzahl von Bewegungen und Kämpfen aktiv, oft in der Form von Bündnissen. In den letzten Jahren hat sich der Charakter dieser Bündnisse verändert. Aus klassischen Gipfelbündnissen oder Bündnissen gegen Rechts, die vor allem aus Delegierten von organisierten Akteur*innen bestanden, sind Mischformen mit vielen Einzelpersonen und wenigen Organisationen geworden. Dafür gibt es verschiedene Gründe, die teils ineinandergreifen und sich wechselseitig verstärken. Etablierte Akteur*innen der gesellschaftlichen Linken sind in weiten Teilen deutlich geschwächt. Dies trifft auf politische Subjekte, die sich eher kurzfristig und individuell engagieren statt langfristig und kollektiv. Auch als Reaktion darauf haben sich andere organisierte Zusammenhänge herausgebildet, die nur ein geringes Interesse am Aufbau breiter Bündnisse zeigen. Das fordert unsere Bündnispraxis heraus.
Diese Bündnispraxis hat sich in der Vergangenheit oft auf zuspitzende Kampagnen fokussiert. Uns ist es schwergefallen, darüber hinaus Strukturen und Orte der Solidarität zu schaffen, die kurzfristige Mobilisierungshochs überdauern. Langfristige Organisierung, die auch materielle Interessen stärker einbezieht, und die Schaffung tragfähiger (Infra-)Strukturen haben für uns im Aufbau von Gegenmacht an Bedeutung gewonnen. Um Kämpfe zusammenzuführen und zu beschleunigen, braucht es jedoch weiterhin Momente der Zuspitzung. Diese Momente können in vorbereiteten Kampagnen angelegt sein, sich aber auch in Gelegenheiten auftun, die mutige Interventionen verlangen. Diese spontane Handlungsfähigkeit zu stärken und sich gleichzeitig langfristig zu verankern, ist das Spannungsfeld, in dem wir uns dabei bewegen.
In den letzten zehn Jahren ist es uns auf lokaler und überregionaler Ebene immer wieder gelungen, breite Bündnisse aufzubauen oder Teil von ihnen zu sein. Unseren Anspruch, verschiedene Akteur*innen zusammenzubringen und Knotenpunkt eines breiten Spektrums linker Akteur*innen zu sein, konnten wir immer wieder umsetzen. So konnten wir im Zusammenspiel verschiedener linker Kräfte wirkungsvolle Interventionen wie Blockupy oder Unteilbar organisieren. Die strategische Bündnisorientierung wird aber durch gesellschaftliche Entwicklungen und die Neuordnung innerhalb der gesellschaftlichen Linken komplizierter und herausfordernder.
Selbstkritisch müssen wir feststellen, dass wir in Bündnissen aus etablierten Akteur*innen zu häufig eine Projektmanager*innen-Rolle eingenommen haben: Wir sind oft mehr damit beschäftigt, die Bündnisse am Laufen zu halten, anstatt sinnvoll politisch zu intervenieren und linksradikale Politik auf die Straße zu tragen. Immer häufiger sind wir in Bündnissen die einzige linksradikale Gruppe. Zivilgesellschaftliche Akteur*innen sind während der multiplen Krisen weggebrochen. Andere Bündnispartner*innen haben sich zurückgezogen, wurden teils in das grüne Herrschaftsprojekt integriert oder verfolgen eine andere Bündnispolitik.
Neue Politisierungs- und Organisierungsangebote verfolgen häufig eine andere Bündnispolitik. So ist es für die erstarkenden „roten Gruppen“ wichtiger, Kämpfe anzuführen, als verschiedene Akteur*innen in ihrer Gesamtheit zu stärken. Sie konzentrieren sich auf die Selbstvergewisserung als radikale Kraft, indem sie sich von moderateren linken Kräften abgrenzen und sich vermeintlich zur Klasse hinwenden. Neben mangelnder Kompromissbereitschaft haben wir die Erfahrung gemacht, dass sie Bündnisse vor allem dann eingehen, wenn sie diese dominieren können. Die andere Tendenz sind identitätspolitisch-machtkritische Kontexte, die zum Teil nicht willens oder in der Lage sind, politische Differenzen auszuhandeln. Andere politische Positionen werden nur als unreflektiert und moralisch problematisch wahrgenommen.
Diese Differenz zwischen den „roten Gruppen“ und den identitätspolitischen Zusammenhängen wurde rund um die Bemühungen zur Organisation des Feministischen Streiks sichtbar. Sie begleitet uns aber auch in anderen Kämpfen. Unter diesen veränderten Bedingungen erneuern wir das Versprechen unseres politischen Ansatzes: Wir treten für eine plurale Linke ein, die ihren Ausgangspunkt in der Lebendigkeit der Bewegungen als gesellschaftsverändernde Kraft hat. Sie findet in gemeinsamen Kämpfen zusammen, statt Bewegungen zu vereinnahmen und für das eigene Organisationsinteresse zu instrumentalisieren.
Unsere Bündnispraxis wird auch durch Verschiebungen innerhalb der Herrschenden verkompliziert. Grüne und (Umwelt-)NGOs haben sich weitgehend dem Projekt des modernisierten Festungskapitalismus verschrieben. Damit sind sie in einigen Praxisfeldern zum politischen Gegner geworden. Es gilt, wie beispielsweise in Lützerath, die Brüche innerhalb dieses Blocks zu vertiefen und seine soziale Basis nicht aufzugeben. Andere Organisationen wie die Gewerkschaften zeigen sich zwar offener für soziale Bewegungen, sind aber selbst tendenziell in den Verteilungskämpfen der ökonomischen Transformation gefangen und sehen ihre eigene Macht schwinden.
Auch in Zukunft wird Bündnisarbeit ein wesentlicher Teil unserer Praxis sein. Insbesondere im Osten und im ländlichen Raum ist linke Politik nicht ohne sie zu denken. Angesichts des Aufstiegs der Rechten wird es überlebensnotwendig sein, sich in strategischen Bündnissen zusammenzufinden. Hier müssen wir die Fähigkeit entwickeln, Erfolge gegen reaktionäre Angriffe abzusichern und darüber hinausgehende Verschlimmerungen zu verhindern. In Zukunft wollen wir jedoch genauer prüfen, welchen Nutzen die konkrete Bündnispraxis erfüllt und uns im Zweifel zurückziehen, bevor sie zum Selbstzweck wird. Gleichzeitig entstehen in den multiplen Krisen neue Betroffenheiten – ob von Armut, Dürre oder auf der Flucht vor Krieg. Klassische Bündnisse kommen hier an ihre Grenzen. Wir sind auf der Suche nach Bündnis- und Organisationsformen, die Betroffene und solidarische Menschen zusammenbringen und einbeziehen.
In der Bündnisarbeit haben wir es immer weniger mit delegierten Gruppenvertreter*innen und immer mehr mit Einzelpersonen zu tun. Diese Entwicklung hat sich über die Jahre zu einer eigenständigen politischen Form entwickelt, die wir Kampagnenplattformen nennen. Wir haben zum Aufkommen von Plattformen wie Blockupy, Ende Gelände, dem Feministischen Streik und Deutsche Wohnen und Co. enteignen beigetragen. Unsere Politik besteht darin meist aus einer Mischung aus Organisierungs- und Bündnisarbeit. Diese politischen Räume werden oft für konkrete politische Projekte genutzt. Sie setzen keine Gruppenzugehörigkeit voraus und laden niedrigschwellig zur Mitarbeit ein. Für viele Menschen sind sie ein (erstes) Angebot, sich zu organisieren. Das ermöglicht wichtige emanzipatorische Erfahrungen, die über klassische Bündnistreffen weit hinausgehen. Auch viele unserer Genoss*innen haben sich in den letzten Jahren in diesen Kampagnenplattformen politisiert, sind dann zu uns gekommen oder haben an diesen Orten einen bedeutenden Teil ihrer politischen Arbeit geleistet. Durch diese Plattformen entsteht in unseren Kampagnen ein stärker organisierendes Moment. Das ist notwendig für den Aufbau von Gegenmacht und deshalb ein großer Gewinn. Mit und in den Kampagnenplattformen haben wir also einiges erreichen können.
Diese Plattformen fordern uns aber auch heraus. So sind zwischen Einzelpersonen, für die die Plattformen zur Erst- oder Primärorganisation werden, und Delegierten von Gruppen Konflikte angelegt. Denn das Diskutieren von Positionen, die außerhalb des Bündnisses festgelegt werden, wird eher zur Ausnahme und führt oft zu wahrgenommenen oder realen Hierarchien. Als eigenständige Organisierung werden sie auch für einige unserer Genoss*innen zum Ort, an dem strategisch diskutiert und entschieden wird. Positionen werden dann nicht mehr gemeinsam innerhalb unserer Organisation ausgearbeitet, sondern eher zur Kenntnis zurückgetragen. Dadurch verschiebt sich der Ort der politischen Bestimmung und Praxis zu den Plattformen. Dabei geht verloren, dass wir als organisierte Linksradikale nicht identisch mit den Bewegungen sind. Dieser Unterschied droht in der neuen Bündnisform zu verschwimmen.
Der offene Charakter ist Stärke und Tücke zugleich. Es ist schwierig, die vielen Aktiven, die teils unverbindlich mitarbeiten, langfristig zu halten und einzubinden. Denn die Projekte, ihre Praktiken und Strukturen haben sich anhand eines spezifischen Bewegungsmoments gebildet. Die entstandenen politischen Räume sind flüchtiger als klassische politische Organisationen. In ihnen entstehen nur teilweise belastbare und langfristige Beziehungen. Wir erkennen die Plattformen als Organisationsformen ihrer Zeit an. Sie fügen sich mit ihren geringen Ein- und Ausstiegshürden ein in größere gesellschaftliche Tendenzen. Gleichzeitig können sie die verbindliche Organisierung nicht ersetzen. Wir müssen darauf achten, dass wir über Plattformen nicht einfach unsere zukünftigen Bündnispartner*innen aufbauen und so über die Schwäche des Organisierungsgrades linker Bewegungen und die Krise der Linken hinwegtäuschen.
Darüber hinaus braucht es mehr politische Bezüge zwischen den meist monothematischen Plattformen. Notwendig sind eine übergreifende Deutung und strategische Orientierung, die sich über konkrete Verbindungen in gemeinsamen Kämpfen und Ereignissen manifestiert. Dieser Aufgabe sind wir zuletzt zu wenig gerecht geworden.
Um gesellschaftliche Gegenmacht aufzubauen, die revolutionäre Prozesse ermöglicht, müssen wir besser darin werden, langfristige linke Strukturen zu schaffen. Diese müssen unabhängig von Bewegungszyklen bestehen bleiben und unsere soziale Basis erweitern. Aus dieser Erkenntnis heraus haben wir in den letzten Jahren eine Praxis ausgeweitet, die häufig unter den Begriffen Basisarbeit oder Organizing zusammengefasst wird. Bisher sind wir hauptsächlich in Stadtteilinitiativen, Mieter*innenorganisierungen sowie in Kämpfen im Gesundheitssektor aktiv.
Ausgangspunkt hierbei sind Kämpfe, die im Alltag der Menschen verankert sind und dabei an materiellen Interessen oder einem gemeinsamen Begehren ansetzen. Die Erfahrungen mit den multiplen Krisen unserer Zeit erzeugen Widersprüche. Diese entstehen in Konflikten um (Care-)Arbeit genauso wie in Auseinandersetzungen um Grundbedürfnisse wie Wohnen, Gesundheit, Pflege und Energie oder im Kampf gegen Diskriminierung, für Selbstbestimmung und rechtliche Gleichstellung. Hier gilt es, die Bruchlinien zu Konfliktfeldern auszuweiten, in denen sich Menschen politisieren und organisieren. So kann über Selbstermächtigung und verbindliche solidarische Beziehungen gesellschaftliche Gegenmacht aufgebaut werden.
Immer mehr linksradikale Gruppen wenden sich diesem strategischen Ansatz zu. An vielen Orten sind Initiativen entstanden, die sich auf langfristige Organisierungsarbeit zum Beispiel im Stadtteil fokussieren und Kampagnenpolitik als bloße Reaktion auf Ereignisse ablehnen. Diese längerfristige Arbeit an der Basis ist als Transformationsstrategie wichtig. Sie erkämpft reale Erfolge, beweist die Umsetzbarkeit linker Ideen, schafft soziale Verankerung sowie solidarische Beziehungsweisen und zeigt eine alternative Zukunft auf. Gleichzeitig sehen wir die Gefahr, dass sozialarbeiterische Tendenzen die Oberhand gewinnen und solche Praktiken zu einer Art Schadensbegrenzung werden. Um Organisierungsprozessen Hoffnung, Perspektive und reale Durchsetzungskraft zu geben – um Brüche zu erzeugen – braucht es zuspitzende Kampagnen. Diese eröffnen Perspektiven über die Basisorganisierung hinaus und orientieren Organisierungsprozesse auf kollektiven Ungehorsam.
Ein gutes Beispiel für ein produktives Verhältnis von Kampagnen- und Organisierungsarbeit sehen wir in der Kampagne Deutsche Wohnen und Co. enteignen. Der Volksentscheid basiert auf der jahrelangen Organisierung von Mieter*innen in Häusern großer Wohnungskonzerne und damit auf einer potenziell realen Durchsetzungskraft. Gleichzeitig ist die Kampagne ein gutes Beispiel für die Herausforderungen beim Aufbau von Gegenmacht. Von Beginn an wollte die Initiative gerade auch die Organisierung von Mieter*innen weiter vorantreiben. Die stadtpolitische Bewegung in Berlin sollte auch im Falle einer Wahlniederlage organisatorisch besser dastehen als vor der Kampagne. Ihre Sichtbarkeit verdankt sie aber gerade dem Agieren in Verfahren der etablierten Politik. Ihre Popularität wäre ohne die Durchsetzungsperspektive auf staatlichem Terrain nicht denkbar gewesen. Die Situation von Deutsche Wohnen und Co. enteignen beschreibt gut auch unsere strategische Suche: Wir müssen lernen, selbst Durchsetzungsmacht aufzubauen, um von Parteien und Parlamenten unabhängiger zu werden.
Widerständige Orte, die am Alltag und den Bedürfnissen der Menschen ansetzen und trotz aller Widrigkeiten Solidarität organisieren, spielen eine wichtige Rolle beim Aufbau von Gegenmacht. In Sozialen Zentren, Mieter*innenversammlungen, Stadtteilläden oder Polikliniken wird Solidarität erfahren, gestaltet und gelebt. Im Kontrast zur sonstigen Logik der Vereinzelung, Konkurrenz und Ausgrenzung entsteht eine Ahnung von dem, was sein könnte. Im Idealfall sind diese Orte das materielle Fundament für revolutionäre Subjektivitäten und die kommende postkapitalistische Infrastruktur.
Bislang ist unsere Praxis dazu stark unterbestimmt. Aber gerade in Zeiten sich verschärfender Krisen und extremer Vereinzelung geht es darum, Orte der Solidarität zu organisieren. Die Debatten um Soziale Zentren sind im Zuge der europäischen Finanzkrise und den gelebten Beispielen in Südeuropa kurz aufgeflammt. Jenseits einzelner Debattenbeiträge rund um Keimformen und Commoning gab es aber seither wenig kollektive Verständigung. Unsere eigene Rolle im Aufbau dieser Strukturen ist nicht geklärt, obwohl wir fast überall Orte der Solidarität mitgestalten, gründen und nutzen. Wir erleben zudem häufig, dass Genoss*innen den Aufbau dieser Orte, zum Beispiel ein Projekt des Mietshäusersyndikats oder eine Poliklinik, losgelöst von ihrer politischen Praxis in unserer Organisation und zum Teil in zeitlicher Konkurrenz betreiben. Das liegt auch daran, dass den Genoss*innen in diesen detaillierten Aufbauprozessen unsere Art der strategischen Verständigung wenig nützt.
Welche Rolle spielen Orte der Solidarität in unserer Strategie? Nach welchen Kriterien gewichten wir unsere Unterstützung und wie eignen wir uns die dafür nötigen Ressourcen an? Wie verhindern wir den Rückzug in Nischenprojekte und das bloße Abfedern von sozialstaatlichem Kahlschlag? Wie können solidarische Orte gegen mächtige Interessen durchgesetzt und vor Angriffen geschützt werden? Wie ist das Verhältnis von Solidarität und Protest an diesen Orten, welche Verbindungsmöglichkeiten gibt es, die die Solidaritätsfunktion nicht aushöhlen und den Bestand der Orte möglichst wenig gefährden? Diese Fragen gilt es in den kommenden Jahren zu klären. Angesichts einer Situation der Defensive und eskalierender Krisen sind sie für die radikale Linke Fragen des (Über-)Lebens.
Die gesellschaftliche Normalität zu unterbrechen und sich ihr aktiv zu widersetzen, ist Ausgangspunkt, um Risse in den Herrschaftsverhältnissen zu vertiefen. Ungehorsam ist die Voraussetzung für eine radikale Umwälzung des Bestehenden. Wir setzen dabei auf eine Politik der Selbstermächtigung der Ausgebeuteten und Unterdrückten. Diese Politik fragt nicht nach der Legalität, sondern nach der Legitimität ihres Handelns und bestreitet damit das staatliche Gewaltmonopol. Bereits im Zwischenstandspapier haben wir festgehalten, dass uns in diesem Zusammenhang die Möglichkeit und Vermittelbarkeit des massenhaften Regelübertritts als potenzielle Radikalisierung der Vielen besonders wichtig sind. Wir haben aber auch erlebt, dass Aktionsformen an ihre Grenzen stoßen. Um in den nächsten Jahren mehr reale Gegenmacht aufbauen zu können, müssen wir diese Erfahrungen auswerten und Aktionsformen weiterentwickeln: Hat sich unsere Praxis an manchen Stellen ritualisiert? Haben wir dadurch verlernt, in offenen Situationen klar und entschlossen zu handeln? Wie können wir in den neuen Streikbewegungen reale Unterbrechung mit breitem politischem Widerstand verknüpfen und so diese Kämpfe radikalisieren?
Aktionen massenhaften Ungehorsams waren und sind zentraler Bestandteil unserer Praxis. Offen sagen, was wir tun – und tun, was wir sagen. Mut machen, widerständig und radikal zu kämpfen. Sich nicht einschüchtern lassen vom Staat und seinen Institutionen. Diesen Anspruch konnten wir einlösen: Massenhafter Ungehorsam hat sich in vielen sozialen Bewegungen etabliert und verselbstständigt. Was früher nur wenige gemacht haben, ist heute en vogue. Und das ist gut so. Gerade in der Klimagerechtigkeitsbewegung haben Massenaktionen die Bewegung radikalisiert. Sie haben Kraft gegeben und Mut gemacht, nicht aufzugeben und weiterzukämpfen, auch wenn die Eskalation der Klimakrise nicht aufgehalten werden konnte.
Die letzten Jahre haben uns aber auch Grenzen aufgezeigt. Durch die Regelmäßigkeit von Aktionen haben sich diese ritualisiert. Die Aktionen wurden kontrollierbarer und damit weniger kraftvoll. Die Diskursorientierung und der Wunsch nach möglichst breiter Anschlussfähigkeit haben die Radikalisierung und die Selbstermächtigung der Beteiligten und so die Bildung widerständiger Subjektivitäten in den Hintergrund gedrängt. Die Aktionen wurden zu großen Choreografien, die sich oft auf Sitzblockaden und deren möglichst reibungslosen Ablauf beschränkten. Diese Einschränkung unserer Aktionsfähigkeit wollen wir aufheben.
Das heißt nicht, dass Massenblockaden kein taktisches Mittel sein können. In vielen Fällen – sei es die Blockade einer Nazidemo oder eines Firmensitzes – sind sie nach wie vor eine massentaugliche und zugleich radikale Praxis. Aber in Bereichen wie der Klimagerechtigkeitsbewegung, die sich verbreitert und vergrößert und zeitweise enorme Unterstützung erfahren hat, halten wir es für notwendig, die Mittel anzupassen, um wirksamer unterbrechen zu können und weniger kontrollierbar zu sein. Mit dieser Erkenntnis sind wir nicht allein. Die Schlussfolgerungen sind jedoch sehr unterschiedlich. Einige haben zugunsten des Ziels einer maximalen Anschlussfähigkeit politische Inhalte weitestgehend entleert. Linke Gesellschaftskritik fällt unter den Tisch, Gegner werden nicht mehr benannt. Andere, wie etwa die Letzte Generation, setzen weniger auf Masse und eher auf das Moment des Unkalkulierbaren. Mit entschlossenen Aktionen einiger weniger unterbrechen sie den Alltag vieler Menschen. Sie setzen darauf, mit inszenierter Opferbereitschaft und anschließender Repression breite Teile der Bevölkerung von der Dringlichkeit der Klimakrise zu überzeugen. Die Herrschenden so zum Einlenken bewegen? Diese Wette scheint nicht aufzugehen. Hier fehlen die gleichzeitige Organisation massenhaften Rückhalts und eine politische Vermittlung, die dem Status quo eine linke Alternative entgegensetzt.
Einig sind wir uns in der Notwendigkeit, Aktionen stärker auf die unmittelbare Unterbrechung des Betriebsablaufs oder des Alltags auszurichten. Dies wird auch bedeuten, das Repertoire des massenhaften Ungehorsams wieder häufiger über Sitzblockaden hinaus zu erweitern. Die Wahl der Mittel kann dabei nicht losgelöst von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen stattfinden. Sowohl in der Wahl der Ziele als auch im Anspruch auf Legitimität ringen wir um Vermittelbarkeit. Das bedeutet aber nicht, es immer allen recht zu machen. Vielmehr muss es darum gehen, neue Verbindungen zwischen verschiedenen Aktionsniveaus und -formen zu knüpfen, dem Neuen und Unberechenbaren Raum zu geben, kämpferische Subjektivitäten auszubilden, die Radikalisierung sozialer Kämpfe voranzutreiben und auch uns selbst langfristig handlungsfähiger zu machen. Wir wollen nicht mehr nur vor dem Kraftwerk oder der Fabrik sitzen, während die kapitalistische Katastrophe weitergeht. Gemeinsam mit den Vielen gilt es zu unterbrechen, anzueignen und unschädlich zu machen.
Auf der Suche nach Rissen und Bruchlinien stoßen wir immer wieder auf Unerwartetes und Unbekanntes. Im Zeitalter der Krisen verstärkt sich diese Tendenz massiv. Die letzten Jahre haben uns einen ersten Eindruck davon vermittelt: Eine Pandemie, die unseren Alltag innerhalb weniger Tage auf den Kopf stellt und unsere politische Handlungsfähigkeit massiv einschränkt; die Klimakrise, die im Ahrtal zur realen Bedrohung wird und Fragen praktischer Solidarität aufwirft; die Wahl von Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten von Thüringen mit Stimmen der AfD als ein erster Vorgeschmack auf künftige Dammbrüche; oder neue, digital initiierte Formen der Massenmobilisierung und des Aufruhrs auf der Straße. Diese sind aktuell oft verschwörungstheoretisch und offen rechts, sind aber auch möglich als Proteste gegen schlechte Arbeitsbedingungen, steigende Energiepreise, Feminizide oder rassistische Polizeigewalt.
Für diese spontanen und dynamischen Situationen gibt es kein Patentrezept. In der Vergangenheit konnten wir mit den Entwicklungen nicht immer Schritt halten, uns nicht ausreichend verständigen, um diese Situationen als politische Gelegenheit nutzen. Zuletzt waren wir vor allem dann in der Lage, spontan zu handeln, wenn es um Abwehrkämpfe ging. Wir konnten schlimmeres verhindern, aber selten Momente nutzen, um die gesellschaftliche Linke nach vorne zu bringen. In vielen anderen Situationen wurden wir überrascht und haben uns überraschen lassen. Eine Aufgabe für die Zukunft ist es daher, stärker als bisher eine Form der entschlossenen Haltung und radikalen Subjektivität zu entwickeln, um in solchen Situationen kurzfristiger handeln zu können und zu wollen. Dazu gehören Mut, Spontanität und Überzeugung ebenso wie Fingerspitzengefühl und die Fähigkeit, Chancen und Risiken abzuwägen. Dabei können wir unsere Stärken nutzen: die Erfahrungen in Organisierungsprozessen, das gegenseitige Vertrauen, unser inhaltliches Wissen und die Vernetzung zu verschiedenen Akteur*innen. Zugleich gibt es Fragen, die gerade in offenen Situationen möglicherweise neu, auf jeden Fall aber bewusst beantwortet werden müssen: Mit wem kämpfen wir, mit welchen Mitteln tun wir dies und was bedeutet dabei Militanz? Statt hierzu vorab ideologische Antworten zu geben, bedarf es einer konkreten Analyse der konkreten Situation und der darin erreichbaren Ziele. Nur so lässt sich sinnvoll bestimmen, was mehr denn je gelten muss: Mit allen notwendigen Mitteln.
An vielen Stellen der kapitalistischen Produktion und Reproduktion, vor allem im prekären Dienstleistungssektor und der öffentlichen Daseinsvorsorge, hat sich der Widerspruch zwischen dem kapitalistischen Verwertungsdruck und den Bedürfnissen der dort Beschäftigten in den letzten Jahren zugespitzt. Insbesondere in der Pflege und im öffentlichen Nahverkehr, aber auch im Betreuungs- und Bildungsbereich, sind immer wieder kraftvolle Streiks und Proteste entstanden – die Keimformen einer neuen Streikbewegung.
Die Verweigerung von Arbeitskraft ist ein machtvoller materieller Hebel. Kämpferische, basisdemokratische Streiks von Beschäftigten können mehr sein als der reine Kampf um Löhne und Arbeitsbedingungen. Sie unterbrechen den kapitalistischen Normalbetrieb und können Raum schaffen für Kollektivität, Politisierung und Organisierung. Kämpfe können sich verbinden und praktische Solidarität entstehen lassen. Um diesen Hebel über Tarifverhandlungen hinaus zu nutzen, muss es mittelfristig darum gehen, politische Streiks als Möglichkeit durchzusetzen.
Gemeinsam mit anderen Netzwerken und Gruppen haben wir in den vergangenen Jahren Arbeitskämpfe, etwa im Gesundheitssektor, im öffentlichen Nahverkehr oder bei Amazon, solidarisch begleitet und unterstützt. Wir konnten zur Politisierung von Streiks beitragen, kamen dabei aber kaum aus der Unterstützungsrolle heraus. Die hauptamtlichen Strukturen in den Gewerkschaften stehen dem zu oft im Weg. Gleichzeitig haben wir versucht, gesellschaftliche Streiks auch als materiellen Hebel in sozialen Bewegungen zu etablieren, z.B. im Feministischen Streik oder im Klimastreik. Damit konnte zwar die Idee dieser Kampfform stärker in den Bewegungen platziert werden, die konkrete Umsetzung ist aber bisher kaum gelungen. Es fehlt noch an einer breiten sozialen Basis, um derartigen gesellschaftlichen Streiks tatsächlich Schlagkraft zu verleihen.
Wenn an verschiedenen Stellen der Gesellschaft Verweigerung und Unterbrechung entsteht, erwächst daraus ein reales Potenzial von Gegenmacht, das aufgebaut und zusammengeführt werden muss. Unsere Perspektive ist klar: Wir wollen verschiedene Streikmomente stärker verbinden, Tarifstreiks politisieren und in gesellschaftlichen Streiks die materielle und soziale Basis stärken – vom Lohnstreik zum Mietstreik zum Metropolenstreik.
Sich zu organisieren bedeutet für uns, tragende Netze der Solidarität und Kollektivität zu knüpfen, eine gemeinsame Haltung und Kultur der Genoss*innenschaft zu entwickeln. Das beinhaltet Reibung und Konflikt, aber auch das Versprechen, gemeinsam für die Befreiung von der uns durchdringenden Herrschaft zu kämpfen. Der Aufbau solcher solidarischer Beziehungsweisen ist nicht einfach ein zusätzliches Thema, sondern zieht sich durch alle Bereiche unserer Politik: Wie werden wir gemeinsam zu revolutionären Subjekten? Wie lässt sich eine Perspektive globaler Befreiung transnational organisieren? Wie ist Politik in Ungleichheit auf Augenhöhe möglich?
In einem globalen System von Ausbeutung und Unterdrückung muss auch der Kampf um Befreiung global sein. Aus dekolonialer Perspektive wollen wir von den Kämpfen dieser Welt lernen, die nationale Beschränktheit unseres politischen Handelns hinterfragen und überschreiten. Insbesondere wollen wir uns zu Aufständen und revolutionären Projekten wie den Selbstverwaltungsstrukturen in Nord- und Ostsyrien/Rojava und den zapatistischen Gebieten in ein eigenes Verhältnis setzen. Auf der Hand liegt die zerstörerische Rolle Deutschlands: Von Waffenlieferungen und Auslandseinsätzen über die Unterstützung von Diktaturen bis hin zur Zerstörung von Lebensgrundlagen im Globalen Süden durch das deutsche Wirtschaftsmodell und in Südeuropa durch die europäische Krisenpolitik. Sich gegen diese imperiale Verwüstung aufzulehnen und möglichst breit getragenen Widerstand zu organisieren, verstehen wir nicht nur als Ausdruck internationaler Solidarität. Wir befinden uns „im Herzen der Bestie“. Daraus erwächst eine besondere Verantwortung und auch Handlungsmacht.
Weder unsere Analysen noch unsere Strategien wären dabei vollständig oder auch nur ausreichend, wenn wir eurozentrische Vorstellungen nicht überwinden und die Perspektiven unserer Genoss*innen aus dem Globalen Süden nicht integrieren würden. Es ist unsere Aufgabe als organisierte radikale Linke, Räume kritisch-solidarischer Aushandlung und Reflexion zu schaffen. Wir müssen uns außerdem die Frage stellen, wie wir Ressourcen zur Verfügung stellen und Organisierungsprozesse praktisch unterstützen können, etwa wenn unsere osteuropäischen Genoss*innen transnationale feministische Allianzen unter widrigsten Bedingungen schmieden – nicht als Wohltätigkeit, sondern als Selbstverortung innerhalb dieser Kämpfe. Gleichzeitig ist für ein linkes Hegemonieprojekt, global wie vor Ort, auch der Aufbau von lokaler Gegenmacht wichtig. Es geht nicht um die Frage, ob der Schwerpunkt auf internationaler oder auf lokaler Ebene liegen sollte – diese Ebenen sind nicht zu trennen. Genauso wie das Kapital grenzüberschreitend agiert und Ausbeutungsverhältnisse transnational verlaufen, entstehen auch die Risse und Bruchlinien im Kapitalismus über Grenzen hinweg.
Prägend waren für uns die Krisenproteste gegen die europäische Austeritätspolitik. Im Rahmen von Blockupy haben wir die Kämpfe für einen Moment europäisch geführt. Es hat jedoch nicht funktioniert, im Rahmen der Commune of Europe einen verbindlicheren transnationalen Organisierungsprozess anzustoßen. Ein wesentlicher Grund hierfür war, dass die Bestimmung unserer Politik weiterhin national verhaftet geblieben ist und Internationalismus weiter als Nord-Süd-Solidarität gedacht wurde. In dieser Zeit bildete sich auch die Plattform Transnational Social Strike. Trotz des Abflauens der Krisenproteste ist es ihr gelungen, transnationale Strukturen aufrecht zu erhalten. Dort begegnen wir vielen unserer damaligen Gefährt*innen und neuen Mitstreiter*innen wieder, vorwiegend aus Europa, aber auch aus anderen Teilen der Welt. In den nächsten Jahren werden wir vor allem hier Verbindungen zwischen unseren Kämpfen suchen, um Ansätze einer transnationalen Praxis zu entwickeln. Wir wollen darin auch engere Verbindungen mit denjenigen knüpfen, die sich die gleichen Fragen wie wir stellen und ein ähnliches Politikverständnis haben. Zudem werden wir die Lern- und Austauschprozesse mit unseren Genoss*innen der kurdischen Befreiungsbewegung, die bereits transnational agiert, verstetigen und intensivieren.
Antirassistische Kämpfe sind so vielfältig und sichtbar wie lange nicht mehr. Sie ergreifen alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und sind Teil der globalen Kämpfe um das Leben selbst. Es geht dabei nicht nur um die Reaktion auf rassistische Morde. Es geht um das Zusammenspiel von institutionellem und alltäglichem Rassismus, der alle Orte durchzieht – auch linke. Es sind Kämpfe des Begehrens und der Wut gegen die staatliche Ordnung, die im Alltag von Bullen mit tödlicher Gewalt durchgesetzt wird, gegen die Erniedrigung, gegen die Kategorisierung. Ausgehend von den Erfahrungen dieser Kämpfe gibt es eine breite Kontroverse um Identitäts- oder Klassenpolitik. Die falschen Gegenüberstellungen von „Ökonomie“ und „Kultur“, „Klasse“ und „Identität“ lehnen wir ab. Rassismus lässt sich weder auf eine Einstellung oder einen Diskurs noch auf ein Instrument zur Ausbeutung und Spaltung der Arbeiter*innenklasse reduzieren. Rassifizierung wird sowohl durch Bilder und Sprache produziert, als auch kapitalistisch genutzt und institutionell durch die Verteilung von Rechten und Zugängen organisiert. Rassismus ist eine umfassende soziale Frage, wird durch Strukturen produziert und schreibt sich in Individuen ein.
Radikal antirassistische Praxis bekämpft die ungleichen Weltverhältnisse, denkt globale und lokale Arbeitsteilung zusammen, verteidigt das Recht auf Bewegungsfreiheit und unterstützt diejenigen, die diese Freiheit faktisch durchsetzen. Sie betrifft aber auch die Verhältnisse unter uns, in der IL und in der gesellschaftlichen Linken insgesamt. Ausgehend von der postmigrantischen Realität stellen die antirassistischen Bewegungen den gesellschaftlichen Normalzustand infrage. Sie fordern damit auch ihre weißen, deutschen Genoss*innen in der radikalen Linken heraus und machen deutlich: Rassismus ist nicht nur das Problem einiger weniger, auch wenn es einige auf hervorgehobene Weise trifft. Um als Freie und Gleiche leben zu können, müssen wir Andere werden. Deshalb beschäftigen wir uns damit, wie sich der Rassismus in uns und unsere Zusammenhänge einschreibt: mit unterschiedlichen Erfahrungen mit Polizei und anderen staatlichen Institutionen, mit der Verwobenheit von politischen Ideologien und ökonomischen Verhältnissen wie Rassismus, Kapitalismus und Neoliberalismus.
Klar ist: Wer die rassifizierenden Gewaltverhältnisse überwinden will, ist darauf angewiesen, das Wissen von Unterdrückten einzubeziehen. Kritisch sehen wir das in Teilen der Linken propagierte Konzept des Allyship, also passive Verbündetenschaft. Wir setzen dem die aktive Beziehung der Genoss*innenschaft entgegen. Denn der rassistische Normalzustand kann nur überwunden werden, wenn Rassismus auch zur Kampflinie derer wird, die nicht unmittelbar betroffen sind, weil auch sie nicht Teil einer rassistischen Gesellschaft sein wollen. BIPoC und Migrant*innen sind schon immer Genoss*innen in gesellschaftlichen und emanzipatorischen Kämpfen. Wir wollen weder sprachlos neben den Kämpfen stehen, noch diese dominieren. Gemeinsam die sprichwörtliche Bullenwanne umwerfen, solidarisch kämpfen in Ungleichheit auf Augenhöhe, das ist unser Anspruch.
In unserer gemeinsamen Organisierung begegnen wir einander als Genoss*innen. Wir teilen ein politisches Begehren nach radikaler politischer Veränderung. Dafür braucht es einen langen Atem. Wir wollen uns gegenseitig befähigen, politische Subjekte mit so einem langen Atem zu werden. Wir wissen um die Widrigkeiten im Alltag, um die Vereinzelung, die Erschöpfung und die Zumutungen, die uns die Verhältnisse aufzwingen. Sich zu organisieren, bedeutet für uns daher auch, uns zu versprechen, diesen Weg des langen Atems miteinander zu gehen und der Ohnmacht etwas entgegenzusetzen.
Wir arbeiten an einer Kultur der Ernsthaftigkeit, die für diesen Weg notwendig ist. Das hat etwas mit (Selbst-)Disziplin zu tun, aber nichts mit militärischer Härte. Ernsthaftigkeit bedeutet auch fürsorglich, herzlich und verbunden zu sein. Das heißt nicht, dass wir uns in vermeintlicher Achtsamkeit einander nicht mehr zumuten, in der Sorge etwas falsch zu machen, wie es die neoliberale Ideologie nahelegt. Der Neoliberalismus führt zu einer Moralisierung des Politischen und sieht das Problem in individuellem Fehlverhalten. Dieser unerfüllbare Anspruch der Selbstoptimierung führt zu Vereinzelung und Rückzug. Dem stellen wir eine Form der Kollektivität entgegen, in der Kritik und Selbstkritik nicht als individueller Veränderungsdruck verstanden wird, sondern als Ausdruck von Solidarität, Lebendigkeit und Zugewandtheit zwischen Genoss*innen.
Teil von Genoss*innenschaft sind auch unsere Versuche, strukturelle Diskriminierungen innerhalb der Organisation zu bearbeiten. Dafür haben wir in den letzten Jahren verschiedene Formate geschaffen und Genoss*innen haben sich diese selbstbestimmt genommen. Geschlechtergetrennte Räume, die interne Selbstorganisation von BIPoCs und Gespräche über eigene klassenbezogene Diskriminierungserfahrungen sind Instrumente, um Diskriminierungen adressierbar zu machen. So wird es möglich, sich in Ungleichheit trotzdem auf Augenhöhe zu begegnen. Wir haben die Erfahrungen mit Männlichkeitskritik kollektiviert und daraus Mindeststandards für unsere Ortsgruppen formuliert. Ein wichtiger Schritt für uns als Organisation war, einen Leitfaden zum Umgang mit sexualisierter Gewalt zu erarbeiten und Ansprechstrukturen auf Basis von Parteilichkeit mit Betroffenen zu schaffen. Uns ist klar, dass weder Leitfäden, noch das Zusammenkommen in bestimmten Positionierungen die politische Haltung und Verantwortung jeder einzelnen Genoss*in ersetzen. Es bleibt eine ständige Aufgabe, ihn mit Leben zu füllen und unser Verständnis davon zu schärfen, wie wir mit patriarchaler Gewalt und Täterschaft umgehen wollen oder was Parteilichkeit konkret bedeutet. In Fällen sexualisierter Gewalt wollen wir kollektiv Verantwortung übernehmen. Dazu gehört auch, dass im konkreten Umgang Fehler passieren können. Um miteinander aus Fehlern und guten Beispielen lernen und unterschiedliche Einschätzungen aushandeln zu können, brauchen wir den Austausch innerhalb und außerhalb unserer Organisation. Nur so entstehen erneuerte und tragfähige Netze der Solidarität.
Netze der Solidarität knüpfen wir auch zwischen verschiedenen Generationen. In die Gründung der IL sind mehrere Generationen von Kämpfen eingeflossen. Das bedeutete immer schon ein Zusammentreffen unterschiedlicher Erfahrungen und politischer Traditionen. Diese Unterschiede in Wissen und Erfahrung sehen wir als Möglichkeit, voneinander zu lernen. Allerdings haben wir uns in den letzten Jahren zu wenig damit beschäftigt, wie dieses Wissen kollektiviert und Erfahrungen zugänglich gemacht werden können. Auch deshalb streben wir den Ausbau von Bildungsarbeit an. Wir erhoffen uns davon die Auswertung von Kämpfen, die Stärkung unserer Analysefähigkeit, eine bessere Selbstverortung innerhalb der gesellschaftlichen Linken und die Entwicklung eines gemeinsamen Geschichtsbewusstseins. Das hilft dabei, Ruhe zu bewahren in stürmischen Zeiten, wenn sich die Ereignisse überschlagen und die Konflikte zuspitzen.
Gerade in Zeiten zunehmender Repression ist Solidarität wichtiger denn je. Die Kriminalisierung politischen Protests, die Zerschlagung linker Gruppen durch die Anwendung von Terrorismusparagrafen und die Ausweitung polizeilicher Befugnisse sind ein Vorgeschmack auf die Schärfe der kommenden Auseinandersetzungen.
Links
[1] https://interventionistische-linke.org/interim-paper-2
[2] https://blog.interventionistische-linke.org/il-im-umbruch/zsp
[3] https://interventionistische-linke.org/sites/default/files/il_zwischenstand_2024_interaktiv.pdf
[4] https://interventionistische-linke.org/sites/default/files/il_zwischenstand_2024_text.pdf