Eine Linke, die dazwischen geht.

Zur Diskussion – Sommer 2004
Diesen Text haben wir zur Selbstverständigung in praktischer Absicht geschrieben. Uns von einer Krise trennend, die längst noch nicht überwunden ist, wollen wir verschiedene Anfänge zu einem gemeinsamen Anfang zusammenführen. Darin schließen wir an Debatten an, die „postautonom“ genannt werden, weil sie ihren Anfang in der Zersetzung der autonomen wie der antiimperialistischen Linken in den 1990er Jahren nahmen. Ihr ging die Zersetzung der linken Strömungen der 1970er Jahre voraus, von der sich hier ebenfalls Spuren finden. Ihre eigene Markierung hinterlässt die Krise des Feminismus. Von wesentlicher Bedeutung für die folgenden Überlegungen ist darüber hinaus die Unzufriedenheit mit der arbeitsteiligen Ausdifferenzierung linker Praxis in die spezialisierten „Bereiche“ der Antira-, Antimil- und Antifa- bzw. der Pop-, Kultur-, Diskurs- und Gewerkschaftslinken. Abwesend anwesend sind schließlich die in der Ökologiebewegung zusammenfließenden anti-industrialistischen Revolten und Impulse der internationalistischen „Soli“-Bewegung des letzten Drittels des vergangenen Jahrhunderts.

Was diese einigermaßen heterogenen Krisen und Anfänge zusammenführt, ist der Aufbruch der globalisierungskritischen Bewegung, an dem wir je nach unserer besonderen Herkunft und doch gemeinsam als undogmatische und interventionistische Linke teilnehmen.(1) Zumindest liegt darin der Konsens, auf den wir uns bei unterschiedlichen Gelegenheiten und insbesondere während verschiedener „Beratungstreffen“ vorerst verständigt haben. Vorerst einig sind wir uns auch in dem Wunsch, eine so verstandene Linke als eigene Strömung sichtbar zu machen. Solche Sichtbarkeit muss organisiert werden, und damit sind wir bei den beiden Fragen angelangt, auf die wir hier erste Antworten formulieren wollen:
Was eigentlich ist oder besser wäre eine undogmatische und interventionistische Linke? Und: was heißt es, eine solche Linke als eigene Strömung sichtbar zu machen?
Eine letzte einleitende Bemerkung noch: Wir haben unterschiedliche politische Biographien, gehören unterschiedlichen Gruppen und Projekten an und arbeiten in unterschiedlichen Praxisfeldern. Wir haben diesen Text als Einzelpersonen geschrieben, d.h. ohne Rücksprache mit unseren jeweiligen Projekten.

Los geht’s!

Vom Aufbruch der globalisierungskritischen Bewegungen zu sprechen heißt zuerst, einen letztlich provinziellen Irrtum korrigieren zu müssen, der unsere politische (Selbst-)Wahrnehmung dennoch zwingend bestimmt. Denn einerseits müssen wir die postfordistische Restrukturierung kapitalistischer und imperial(istisch)er Herrschaft, die damit verbundene globale Durchsetzung neoliberaler Politiken und den daraus resultierenden Zusammenbruch des realsozialistischen „Lagers“, der westlichen Sozialdemokratien und der antikolonialen Befreiungsbewegungen als einen irreversiblen historischen Einschnitt anerkennen. In der Folge dieses Einschnitts wurden wir von einer umfassenden weltpolitischen Konstellation und einer ganzen Epoche sozialer Bewegung, damit aber auch von der überkommenen Formation einer jetzt historisch gewordenen Linken trennt. Diese Trennung schließt, für uns von unmittelbarer Relevanz, auch die „Neuen Sozialen Bewegungen“ und die „Neue(n) Linke(n)“ in der Folge des Mai 68 ein, d.h. den uns trotz aller Differenzen gemeinsam prägenden Modus linker Politik. Das macht den Kern der Krise, auch der Desorientierung aus, in der wir uns befinden, das umreißt allerdings auch den Möglichkeitshorizont, in den wir gestellt sind. Für dessen Aneignung ist nun aber von entscheidender Bedeutung, dass entgegen unserer nächsten (Selbst-)Wahrnehmung das letzte Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts nicht einfach nur ein Jahrzehnt des Abbruchs, des Durchmarschs der neoliberalen Konterrevolution und des Postfordismus war. Denn die 1990er Jahre waren gerade keinen „bewegungslosen“ Jahre: „In diesem Jahrzehnt gab es die ArbeiterInnenkämpfe, die die großen Automobilfabriken in Korea in Brand gesetzt haben, den Widerstand gegen die multinationalen Konzerne in Nigeria, die Kämpfe der Landlosenbewegung in Brasilien, den Widerstand in Los Angeles oder den im zapatistischen Chiapas. Zum Verständnis der Alchimie, die die großen proletarischen Revolten kennzeichnet, lohnt es sich, sich in Erinnerung zu rufen, dass das Jahr 1994 sowohl das Jahr des zapatistischen Austandes als auch das Jahr mit der weltweit höchsten Anzahl von Generalstreiks im 20. Jahrhundert gewesen war. Jenes eindimensionale Bild von Bewegung war kurzsichtig und falsch, weil es nicht in der Lage war, die Symptome des weltweiten Widerstandes zu erkennen und weil es den Standpunkt des Gegners eingenommen hat, nämlich den vom Triumph des Kapitalismus und vom Ende der Geschichte. In dieser Erzählung gab es lediglich einen Platz für einen Diskurs über die Macht und die sterile Denunziation ihrer Fehler und ihrer größten Grausamkeiten.“(2)
Diese notwendige Korrektur unserer (Selbst-)Wahrnehmung vorausgesetzt, bleibt natürlich trotzdem richtig, dass wir hier in Deutschland aus einer Position der Schwäche heraus agieren – wenn auch seit Seattle und Genua sogar in Deutschland die Intensität des Protests zunimmt. Für unsere beiden Fragen heißt das konkret:

  1. Was immer wir tun und wo immer wir intervenieren – wir treiben nicht etwa willentlich, sondern gezwungenermaßen „Kaderpolitik“, sind stets in der Nötigung, etwas „anschieben“ zu müssen, das „von selbst“ nicht liefe oder nicht so liefe, können kaum aus einem sozialen Prozess schöpfen, der im vollen Sinn des Wortes autonom wäre – autonom von der Hegemonie der herrschenden neoliberalen Ideologie und autonom von der Hyperaktivität strukturell in Minderzahl agierender linker AktivistInnen, d.h. von uns. Das begrenzt schon kräftemäßig unsere Möglichkeiten, auch und gerade die Möglichkeit, den unterstellten Zusammenhang unserer verschiedenen Initiativen strömungs- oder gar organisationspolitisch sichtbar zu machen. „Vernetzungsarbeit“ ist nach Lage der Dinge zusätzliche Arbeit von Kadern für Kader – kein Selbstläufer, auch das nicht.
  2. Die Aufgabe bzw. der Wunsch, trotzdem oder gerade deshalb eine undogmatische und interventionistische linke Strömung sichtbar zu machen, ist aber nicht nur ein Problem der Vernetzung, sondern auch eins der Trennung. Eine Strömung sichtbar machen zu wollen heißt, sich von anders gepolten linken Strömung abgrenzen zu müssen und sich gegen sie überhaupt erst wahrnehmbar zu machen.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt lassen sich grob drei andere linke (?) Strömungen ausmachen. Zum einen die antideutsche Strömung, die die Marginalisierung der historischen Linken in den 1990er Jahren in einen tendenziell reaktionären Elitismus des (ultra-)linken „Rests“ verkehrt hat. Das Antideutschtum hat dabei eine ganze Generation junger AktivistInnen zuletzt vor allem der Antifa von der für uns gerade leitenden Basisbanalität linker Praxis getrennt, als Linke nicht einfach nur „für uns“ Recht behalten, sondern mit dem, was wir für richtig halten, gesellschaftlich relevant zu werden zu wollen. Auch wenn die zeitweilige Hegemonie des Antideutschtums gebrochen ist, darf ihr primär publizistisch organisierter Einfluss gerade auf jüngere Leute nicht unterschätzt werden, insbesondere in Fragen einer internationalistischen, antiimperial(istisch)en und antirassistischen Praxis.
Neben der antideutschen Strömung sind wir einer eben nicht mehr einfach nur „traditionslinken“, in einem weiten und in sich unterschiedlichen Sinn „marxistisch-leninistisch“ ausgerichteten Strömung konfrontiert. Deren diverse Gruppierungen (DKP, Linksruck, SAV, isl, RSB etc.) betreiben gegenwärtig ihren organisatorischen Zusammenschluss, vorläufig im Kreis der „FreundInnen der Europäischen Antikapitalistischen Linken“ (EAL), perspektivisch in einer gemeinsamen Parteigründung oder als koordinierter linker Flügel der aktuell sich herausbildenden „Wahlalternative“. Mit deren Spektrum ist die dritte Tendenz benannt, von der wir uns abzusetzen haben, die einer organisatorisch noch heimatlosen Post- oder Neo-Sozialdemokratie nach dem definitiven Wende der SPD zum Neoliberalismus. Diese dritte Strömung kann auf nicht unerhebliche Unterstützung aus den Gewerkschaften und den gemäßigten Teilen des attac-Milieus rechnen.(3)
Sofern „Abgrenzung“ für uns weder Selbstzweck noch Reflex eines sektiererischen Organisationsegoismus ist, führt das Bemühen um Distanz zunächst auf die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zurück, von denen unterschiedliche linke Strömungen unterschiedliche Einschätzungen und auf die sie dann auch unterschiedliche Antworten haben. Allora:

Crisis? What Crisis?

Der durch die Ereignisse Seattle und Genua markierte aktuelle Bewegungsaufbruch und die Intensivierung der sozialen Auseinandersetzungen reflektieren die doppelte Krise einerseits der Hegemonie neoliberaler Ideologie und andererseits der postfordistischen Restrukturierung kapitalistischer und imperial(istisch)er Herrschaft. Im Rahmen dieses Papiers geht es primär um die materiellen Bedingungen und Folgen der Hegemoniekrise des Neoliberalismus. Die Diagnose „nur“ einer Krise und nicht etwa eines Endes seiner Hegemonie anerkennt die im wesentlichen ungebrochene Wirkungsmacht neoliberaler Postulate, am signifikantesten in der den Alltagsverstand durchgängig beherrschenden Formel, nach der „wir“ eben „sparen“ müssten, tiefer liegend in der breiten Akzeptanz der wahrnehmungs- und verhaltensleitenden ideologischen Doublette von Standortnationalismus und Konkurrenzindividualismus. Fortdauer und Krise der neoliberalen Hegemonie hängen zu einem wesentlichen Teil an der tiefgreifenden Entwertung aller ideologischen Projekte, die auf den „Aufbau des Sozialismus in einem Land“ ausgerichtet waren – real existierende Sozialismen, antikoloniale Befreiungsnationalismen, westliche Sozialdemokratie. In Deutschland kulminiert dieser Prozess – nach der Implosion des SED-Staats – gegenwärtig in der sich fortlaufend beschleunigenden Zersetzung des historischen Blocks von sozialdemokratischer Partei und sozialpartnerschaftlicher Einheitsgewerkschaft. Damit aber zerbricht die politisch-ideologische Konstellation, die hier seit den 1920er Jahren die radikale Linke strukturell marginalisiert hat, weil vom Partei- und Staatskommunismus bis zur Neuen Linken keine Strömung der radikalen Linken in der Lage war, ein alternatives „Angebot“ zu formulieren, das zur Kündigung der Loyalität der lohnabhängigen Klassen zu diesem Block geführt hätte.
Strategisch ist dabei allerdings von entscheidender Bedeutung, dass die Liquidation des sozialdemokratischen Projekts einerseits strukturell, andererseits „von oben“ vollzogen wird: sie ist zum einen Bedingung wie Folge der postfordistischen Restrukturierung von Herrschaft und Ausbeutung, zum anderen ideologisches und politisches Projekt der gesamten politischen Klasse der BRD. Dabei ist nicht deren liberalkonservative, sondern deren rotgrüne Fraktion treibende Kraft des neoliberalen Angriffs: sie gibt das Tempo des Abbruchs vor, nimmt dabei das Funktionariat der PDS mit sich und zwingt das „bürgerliche“ Lager zur nachholenden Radikalisierung des Projekts.
Weil nun aber die Liquidation des sozialdemokratischen Blocks von oben und gerade nicht durch eine rebellische Linksentwicklung von unten erfolgt, wird sie von der vielgerühmten „Basis“ bisher auch nur durch passive Resignation und Desorientierung „beantwortet“. Sichtbarstes Zeichen dafür sind die Massenaustritte aus der SPD, der PDS und den Gewerkschaften einerseits und das konfuse Wahlverhalten der lohnabhängigen Milieus andererseits, das „politikverdrossen“ entweder gar nicht mehr wählt oder seine Stimme der CDU gibt, im selben Zug aber, wie zuletzt in Hamburg geschehen, Privatisierungspolitiken eine deutliche Absage erteilt.
Während eine reformistische Erneuerung der SPD aufgrund der subjektiven Auszehrung des Ortsvereinswesens, des mittleren Funktionariats und der verbliebenen „parlamentarischen Linken“ zumindest mittelfristig ausgeschlossen werden kann und die Regression der PDS zur vermutlich nur noch übergangsweise relevanten Regionalpartei gerade vollzogen wird, ist die Situation der Gewerkschaften komplexer und offener. Können SPD und PDS ihre Pfründe im zunehmenden Leerlauf der Rituale und Apparate des parlamentarischen Staates trotz allem sichern – es reicht, hier auf die Demokratische Partei der USA zu verweisen –, so bietet sich den Gewerkschaften diese Option nicht: in ihrer ureigensten Funktion gezwungen, sich gegen den neoliberalen Angriff zu wehren, sind sie um den Preis der Selbstaufgabe zu einer Neuorientierung gezwungen. Dazu aber sind (nicht nur) die amtierenden Spitzenfunktionäre nicht in der Lage: die authentischen Sozialdemokraten nicht, weil sie ihres staatlichen und parteipolitischen Arms beraubt und deshalb objektiv manövrierunfähig sind, die an die neoliberal gewendete SPD gebundenen Kreise nicht, weil es ein neoliberales Projekt auf gesamtgewerkschaftlicher Ebene strukturell nicht geben kann. Denkbar und im Fiasko des ostdeutschen Metallstreiks auch schon erprobt ist allerdings die vollständige Räumung der politischen Ebene und die Transformation der Gewerkschaftsarbeit ins Format gelber Betriebsgewerkschaften – dies ist offenbar das Projekt der westdeutschen Betriebsratsfürsten und mit ihnen der (noch) hochentlohnten (Noch-)Kernbelegschaften. Denkbar und für uns dann von wesentlicher Bedeutung ist aber auch eine nachholende Linkswende aus der Gewerkschaftsbewegung heraus. Auch dafür gibt es – wenn auch widersprüchliche und mehrdeutige – Anzeichen. Übrigens auf allen Ebenen, der Basis ebenso wie im mittleren und sogar im oberen Funktionariat. Bevor diese Option näher betrachtet werden kann, gilt es allerdings, zunächst ein anderes Moment der Krise in Augenschein zu nehmen.

Krise der Repräsentation

Im Zug der Durchsetzung neoliberaler Politik sind nicht nur die sozialen und materiellen Garantien des fordistischen Klassenkompromisses liquidiert und zugleich die Apparate wesentlich geschwächt worden, die diesen Kompromiss durchgesetzt und fortgeschrieben haben. Mit ihr ist zugleich die Struktur bürgerlich-parlamentarischer Demokratie und damit der ganze im nationalen Staat begründete und auf ihn ausgerichtete Modus von Politik ausgehöhlt worden. Dabei handelt es sich weniger um eine Schwächung von Staatlichkeit überhaupt als vielmehr um den von bestimmten Nationalstaaten absichtsvoll vorangetriebenen Prozess einer Transnationalisierung staatlicher Politik, d.h. ihrer Einordnung in mehrdimensionalen Aushandelungs-, Entscheidungs- und Verrechtlichungsstrukturen unter Einschluss nicht-staatlicher Akteure, und zugleich um die Überdeterminierung des Politischen durch die Repräsentationsweisen des Systems der Massenmedien. Schon seit dem Zweiten Golfkrieg 1991 und erst recht seit dem 11. September 2001 werden die Transnationalisierung von Staatlichkeit und ihre massenmediale Überdeterminierung darüber hinaus mit global entgrenzten und auf Dauer gestellten militärisch-polizeilichen Operationen kurzgeschlossen. Die Dynamik des Prozesses folgt dabei ganz offenbar weniger einem strategischen Masterplan souveräner Eliten als einer in sich konfliktiven Politik der „Flucht nach vorne“, deren Beweggrund die sich vertiefende Krise kapitalistischer Akkumulation ist. Die Unwägbarkeit der Entwicklung hängt dabei auch an der unberechenbaren Rolle der „islamistischen“ Reaktion: ein nicht auszuschließender weiterer Anschlag in der Dimension des 11.9. kann den Möglichkeitshorizont des Politischen abrupt in einer Weise verändern, die heute von niemandem abgesehen werden kann.
Reflex dieser tatsächlich „neuen Unübersichtlichkeit“ ist zunächst einmal eine umfassende Krise der politischen Repräsentation: Neoliberalismus ist insofern nicht nur selbst ein Bündel konkreter Politiken, sondern zugleich eine neue Art und Weise der Inszenierungen des Politischen selbst. Die aber bringt nicht nur eine Entwertung der sozialistischen Ideologien, sondern sämtlicher traditionellen Ideologien mit sich, auch der bürgerlichen. Die Folge sind im echten Sinn des Wortes postmoderne Hybridbildungen, für die exemplarisch einerseits auf das „System Berlusconi“, andererseits auf das Projekt des niederländischen Politikers Pim Fortyn verwiesen sei, der die hedonistische Alltagslibertinage metropolitaner Mittelklassen mit einem offenen Wohlstandsrassismus zu verbinden wusste. In Deutschland experimentiert die Allianz von neoliberal vereinigter politischer Klasse und massenmedialer Apparatur mit einer eigenen Konfiguration des selben personalistischen Populismus und verkauft Politik immer prägnanter als „Chefsache“ zupackender „Macher“, die sich im Konfliktfall in außerparlamentarischen, expertokratisch begleiteten Aushandelungsprozessen (Rürup, Hartz) arrangieren. Die Wahl des IWF-Managers Köhler zum Bundespräsidenten zeigt insofern unverstellt den gegenwärtig erreichten Stand der Aushöhlung und des Leerlaufs parlamentarischer Demokratie an. Von unten begegnet all dem, wir sagten es schon, eine immer weiter um sich greifende, strategisch nach allen Seiten offene „Politikverdrossenheit“. Offen ist dieses ideologische Syndrom allerdings nicht nur nach links wie rechts, sondern, wichtiger noch, nach radikal entgegengesetzten Formen der politischen Vergesellschaftung selbst. So kann die darin wirkende resignative Tendenz eines Rückzugs nicht nur aus der Politik, sondern überhaupt aus einer im Wortsinn „öffentlichen Sphäre“ in einer verallgemeinerten Apathie oder Lethargie des Politischen, aber ebenso in seiner explosiven Transformation münden, vergleichbar etwa der tatsächlich ja in nur eins, zwei Jahren abgeschlossenen Implosion des Politischen im realen Sozialismus. Im ersten Fall käme es zu einer weiteren Angleichung der politischen Vergesellschaftung an US-amerikanische Verhältnisse, damit aber auch an eine Form der Gesellschaftlichkeit, in der es dem aggressiven Wohlstandsrassismus eines Drittels der Gesellschaft gelungen wäre, die fortschreitende Verarmung und Marginalisierung der Mehrheit der Gesellschaft zum quasi „natürlichen“ Phänomen zu entpolitisieren. Im anderen Fall kann eine autoritäre Lösung nicht ausgeschlossen werden, die strategisch und taktisch an die sich aktuell bereits entwickelnden Politiken eines antiterroristischen Sicherheitsstaats im „Clash of Civilizations“ anknüpfen könnte. Beide Optionen – Apathie des Politischen und antiterroristischer Sicherheitsstaat – könnten darüber hinaus hybrid verschmelzen. Zur Unübersichtlichkeit und Unentschiedenheit der aktuellen Situation gehört aber auch, dass die Krise der Repräsentation auf solche Lösungen eher passiv zutreibt und sich keine Kraft ausmachen lässt, die aktiv an ihrer Realisierung arbeitet.
Das lässt, um an dieser Stelle mit dem Spekulieren erst einmal Schluss zu machen, auch die Möglichkeit einer langsameren, auch die einer schnelleren Wende nach links offen und begründet insofern die Notwendigkeit eines undogmatischen linken Interventionismus.

Wir, nicht die andern ...

Stimmt die Diagnose einer tiefgreifenden Krise der Repräsentation des Politischen und eines strukturellen Versiegens auch nur der Möglichkeit eines national-sozialstaatlichen Reformismus, dann begrenzt diese Krise eben deshalb die Möglichkeiten sowohl der post- oder neo-marxistisch-leninistischen wie der post- oder neo-sozialdemokratischen Tendenz. Das beide nicht die Lösung, sondern Teil des Problems sind zeigt sich am klarsten an ihrer Fixierung auf eine Politik in Parteiform. Das gilt übrigens nicht nur für deutsche Verhältnisse, sondern betrifft gleichförmige Projekte beider Tendenzen auch anderswo, auch und gerade das Projekt von Rifondazione Comunista, das hier wohl – neben der brasilianischen Partido dos Trabalhadores – als Modell gelten darf. Diese strukturelle Schwäche schließt natürlich nicht aus, das kurz-, vielleicht auch mittelfristig sowohl die Post-ML-Szene wie Versuche der Neuformierung des sozialdemokratischen Blocks (Partei und Einheitsgewerkschaft) Relevanz gewinnen können. Die Grenze beider Optionen liegt nun aber in ihrer – parteivermittelten – Orientierung auf nationalstaatliche Repräsentation und, wesentlicher noch, nationalstaatliches Regierungshandeln. Negativ lässt sich daraus der Grundriss unserer eigenen Option zeichnen: eine Politik zu entwickeln, die weder auf Repräsentation noch auf Regierungshandeln, sondern auf eine emanzipatorische Transformation der ideologischen Verhältnisse und auf die Entwicklung autonomer Handlungsmächtigkeit setzt – beides bedingt sich übrigens gegenseitig. Deshalb gilt es, zunächst einmal einen Kampf um das Politische selbst zu führen und von unten“ die Anfänge eines alternativen gesellschaftlichen Projekts zu entwickeln. Weil so etwas durch Kaderpolitik allein gar nicht zu leisten ist, zwei Verweise auf das politische Feld, in das zu intervenieren sich lohnen kann:

  1. Es ist überhaupt nicht ausgemacht, dass das heterogene soziale Milieu der globalisierungskritischen Bewegung, der Anti-Kriegs-Bewegung wie der aktuellen Bewegung gegen den „Sozialkahlschlag“ sich von sich aus auf die neo- oder postsozialdemokratische oder gar die Post-ML-Option ausrichten wird. Im Gegenteil, man verkennt die eigensinnige Qualität der ja nur scheinbar „un-ideologischen“ und „pragmatischen“ Artikulationen vor allem der globalisierungskritischen Bewegung, wenn man sie nicht als Reflexion, partiell sogar als Durcharbeitung der Krise von Repräsentation und Repräsentationspolitik versteht. Dem entspricht übrigens auch die subjektive Zusammensetzung dieses Milieus, in dem re-politisierten AktivistInnen der „Neuen Sozialen Bewegungen“ wie linker Organisierungen der 1960er, 70er oder 80er Jahre eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Zieht dieses Milieu die Organisierung in und Artikulation als attac-Netzwerk dem Anschluss an eine wie auch immer beschaffene „Wahlalternative“ vor, muss das als Zeugnis seiner politischer Reife gewertet werden.
  2. Dasselbe gilt vom innergewerkschaftlichen Transformationsprozess, in dem verschiedene Kreise auf allen Ebenen, wenn auch in unterschiedlicher Radikalität mittelfristig auf die Herausbildung eines neuen historischen Blocks setzen, der sich aus den sozialen Bewegungen und einer re-mobilisierten Gewerkschafts-„Bewegung“ zusammensetzen soll. Selbst wo diese Tendenzen sich politisch explizit auf das Projekt eines europäisierten „Links-Keynesianismus“ beziehen,(4) können sie nicht umstandslos als „bloß“ post- oder neo-sozialdemokratische Kraft verstanden werden: wer einen solchen neuen historischen Block zusammenbringt, verfügt damit noch nicht über die Richtung, in der sich dieser Block entwickeln wird.

Undogmatischen linken Interventionen kommt in beiden Feldern eine Schnittmenge in den jeweiligen programmatischen Debatten entgegen: sowohl bei uns wie im globalisierungskritischen und linksgewerkschaftlichen Milieu wird seit einiger Zeit zunehmend über eine Politik erweiterter sozialer Rechte und des freien und gleichen Zugangs zu Öffentlichen Diensten bzw. Öffentlichen Gütern diskutiert – die Gelegenheit, endlich unmittelbar auf uns selbst und unsere Politiken zu sprechen zu kommen.(5)

Wozu überhaupt „eine“ undogmatisch-interventionistische Linke?

Die Beantwortung dieser Frage setzt im Blick auf die aktuelle Verfassung „der“ Linken erst einmal eine Verständigung über das angerufene Subjekt selbst – die Linke, die Linken – voraus. Im über Jahrzehnte dominierenden marxistischen Selbstverständnis fand „die Linke“ – die Sozialisten, Kommunisten, Revolutionäre (nicht feminisiert) – ihren Seins- und Rechtsgrund bekanntlich in einer Differenz: der Differenz zwischen ihr selbst und „der (Arbeiter-)Bewegung“ oder „den Klassenkämpfen“. Letztere wurden als mehr oder weniger diskontinuierliche, mehr oder weniger spontane, mehr oder weniger bornierte Prozesse aufgefasst, die einer vorwärtstreibenden, für Kontinuität, Autonomie und Universalisierung eintretenden Kraft bedürftig waren – eben „der Linken“, mithin der „Avantgarde“.(6) Umgekehrt war die Linke, waren die Linken gerade deshalb zur Intervention in diese Kämpfe, diese Bewegungen verpflichtet – „Praxisabstinenz“ war da immer nur das Symptom einer als vorübergehend gedachten Krise. Angemerkt sei, dass entlang der vielfältigen Spaltungen der historischen Linken das Verhältnis zwischen den Linken, den Bewegungen und den Kämpfen selbst noch einmal außerordentlich differenziert gedacht wurde, Fixierungen etwa auf „den“ Leninismus verkürzend sind und den Reichtum und die Tiefe der erreichten Reflexion – sowohl der linksradikalen wie ultralinken Seitenlinien wie der diversen „zentristischen“ Vermittlungen und „Versöhnungen“ oder der stetigen „Neugründungen“ auf der sozialdemokratischen oder marxistisch-leninistischen „Hauptlinie“ – verkennen. In der Folge des unbestreitbaren Scheiterns der Haupt-, doch eben auch der Neben- und Seitenlinien wie der Zentrismen der historischen Linken, in der Folge aber auch des erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts dekonstruierten traditionsmarxistischen Dogmas von der Zentralität der Arbeiterbewegung bzw. der Klassenkämpfe ist nun aber – wir kürzen ab – gerade die Basisdifferenz zwischen der oder den Linken einerseits und den Bewegungen und den Kämpfen andererseits nicht mehr selbstverständlich. Deshalb kommt der Reflexion auf diese Differenz und ihre aktuelle – tatsächliche wie gewünschte – Artikulation für uns zentrale Bedeutung zu, mehr noch: sie markiert nicht nur den Unterschied zur sozialdemokratischen und marxistisch-leninistischen Tradition, sondern auch zur ebenfalls historisch gewordenen „Neuen Linken“ und ihren unterschiedlichen Strömungen und Sequenzen zwischen den 1960er und den 1990er Jahren.
Wir schlagen vor, dieses Thema zuerst aus der eigenen Erfahrung zu konkretisieren. Halten wir an einer systematischen Differenz zwischen den Linken und den Kämpfen bzw. den Bewegungen fest, dann fragen wir nach der aktuellen Gestaltung aus dieser Differenz resultierender Aufgaben: etwa die des Problems der Kontinuierung und Radikalisierung spontaner Proteste und Kämpfe, des – ungelösten, subjektiv von uns allein auch gar nicht zu lösenden! – Problems einer „massenpolitischen“ Ausrichtung und im Gegenzug des Sektierertums bzw. des Elitismus (nicht nur der Antideutschen!), nach der Vertiefung widerständiger Begehren, nach unserem Ausgriff auf „die“, d.h. immer nur eine, jeweilige Einheit von Theorie und Praxis, nach der Notwendigkeit einer diskursiven und nicht-diskursiven Kritik im radikalen Sinn des Worts. Die Beantwortung dieser Fragen schließt eine Vergegenwärtigung der Geschichte der Linken ein, auch die ihrer Staaten und ihrer Gewalt, aber auch die der „linken“ Geschichtsschreibung der letzten Jahre, nicht zuletzt der Entstellung ihrer Geschichte durch diverse Ex-Linke, von rotgrüner bis zur antideutschen Seite.

Wer, wo und wie

Eine schematische Übersicht des Standes unserer Dinge muss eingangs die letzten Markierungen sozialer Bewegung nennen: die für jüngere deutsche Verhältnisse zweifellos „großen“ Demonstrationen des 15.2.03, des 1.11.03 und des 3.4.04, die zahllosen Proteste unterschiedlicher Gruppen gegen den „Sozialkahlschlag“, die Etablierung des attac-Netzwerks, die mit dem „Perspektivenkongress“ noch einmal bestätigten Turbulenzen in den Gewerkschaften und, nicht zu vergessen, der außerordentlich erfolgreiche, auch und gerade von der Stimmung her positiv überraschende 27. Kongress der Bundeskoordination Internationalismus (BUKO) mit 800 TeilnehmerInnen.
Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, worin wir – im engeren Sinn jetzt die seit längerer oder kürzerer Zeit am „Beratungstreffen“ beteiligten Gruppen, Projekte und Einzelpersonen – verstrickt sind:

  1. Projekte lokaler linksradikaler Organisierung postautonomen oder post-antifaschistischen Hintergrunds, die z.T. schon seit längerem aufeinander Bezug nehmen und das im Berliner Act!-Zusammenhang mittlerweile auch formell sichtbar machen;
  2. die Aktivitäten der in der bundesweiten Koordinierung KriegistFrieden (KiF) zusammengeschlossenen Gruppen, darunter die ebenfalls bundesweite Initiative Libertad!, deren Höhepunkt die Mobilisierungen gegen die Münchner NATO-Sicherheitskonferenz waren;
  3. die Aktivitäten der Gesellschaft für Legalisierung (GfL), darunter die bundesweite antirassistische Gruppe Kanak Attak;
  4. informell koordinierte Interventionen von Einzelpersonen im attac-Netzwerk, in den Sozialforen, im linksgewerkschaftlichen Spektrum und in der Anti-Kriegs-Bewegung;
  5. die in ersten Ansätzen koordinierte publizistische Projekte u.a. von analyse & kritik, Fantômas und arranca!;
  6. informell koordinierte Beteiligungen an den Europäischen Sozialforen von Florenz und Paris, an den letzten BUKO-Kongressen, am Frankfurter „Kommunismuskongress“ 2003, auch am „Perspektivenkongress“;
  7. schließlich eine informell koordinierte Veranstaltungspraxis und, noch informeller, zahllose Einzelkontakte und –begegnungen während unterschiedlichster (und nicht nur) politischer Aktivitäten, ein darin sukzessive verstetigter Kontakte der „Szene“ untereinander.

Auch wenn das nur ein Ausschnitt der Gesamtmenge undogmatischer linker Interventionen ist und einige Initiativen nicht genannt, weil faktisch noch nicht angesprochen sind, suggeriert diese Auflistung doch für sich schon die Möglichkeit eines kohärenteren Zusammenhangs. Dieser lässt unter Ablösung vom konkreten Einzelprojekt in die folgende Liste der Möglichkeiten übertragen:

  1. Möglichkeiten eines lokal organisierten, thematisch nicht eingegrenzten, jedoch explizit linksradikalen Aktivismus jenseits der Parteiform und der Szenepolitik;
  2. Möglichkeiten eines auf den Zusammenhang von Globalisierung, Krieg und „Sicherheitspolitik“ orientierenden systematischen Schwerpunkts;
  3. Möglichkeiten eines auf den Zusammenhang von Globalisierung, Migration und der Aneignung, Durchsetzung und dem Vorenthalt sozialer Rechte orientierenden systematischen Schwerpunkts;
  4. Möglichkeiten einer auf einen organisierten lokalen Aktivismus und die beiden genannten systematischen Schwerpunkte gestützten koordinierten Intervention in die Milieus von attac, der Sozialforen, des gewerkschaftlichen Transformationsprozesses;
  5. Möglichkeiten einer koordinierten linksradikalen Publizistik in systematisch erhöhter Auflage;
  6. Möglichkeiten einer bundesweit koordinierten Veranstaltungspraxis;
  7. Möglichkeiten einer lebendigen Diskussions-, Kommunikations- und Kaderkultur, deren Ort einmal die intersubjektive Alltäglichkeit der Beteiligten, zum anderen spezifische Foren – vom „Beratungstreffen“ bis zum BUKO – sein können;
  8. die Möglichkeit, dies alles über Namens- und Symbolpolitiken sowie organisatorische Formalisierungen sag- und sichtbar zu machen, auch in „rekrutiver“ Absicht.

Die Grenze all dieser Möglichkeit liegt zweifellos in dem eingangs genannten Umstand, nach den gegebenen Kräfteverhältnissen bis auf Weiteres zu Kaderpolitiken verdammt zu sein, mit allem, was dies mit sich bringt – im Hinblick auf die Gefahr eines im negativen Sinn des Worts machtförmigen „Politizismus“, im Hinblick auf das in diesem Kontext nicht zufällig asymmetrische Geschlechterverhältnis – die Asymmetrie nicht nur numerisch aufgefasst –, im Hinblick auch auf die Gefahren subjektiver Überspannungen samt dann unausweichlicher Erschöpfung. Fangen wir deshalb, jetzt, in unserer Diskussion, aber auch in unserer Praxis, noch einmal bei uns selbst an.

Zurück zum Ausgangspunkt

Noch im Vollzug der Differenz zwischen „sich“ – den Linken – und den Kämpfen bzw. Bewegungen sind die Linken von den systemischen Zwängen wie den widerständigen Begehren nicht ausgenommen, gegen die bzw. aus den sich diese Kämpfe und diese Bewegungen entwickeln. Im Gegenteil: gerade unsere sozialen Milieus werden von den aktuellen Umbrüchen so radikal durcheinandergewirbelt, dass wir schon in eigener Sache zur Intervention gezwungen sind. Das gilt in einem historisch nahen und einem historisch weiter zurückreichenden Sinn. Nah, insofern radikale Linke in ihren milieuspezifischen Reproduktionsstrategien seit 1968 zugleich vom fordistischen Klassenkompromiss und seiner postfordistischen „Modernisierung“ zehrten. Das galt für die Ausnutzung der Zeitressourcen einer verlängerten studentischen Existenz ebenso wie für alternativökonomische Experimente, für das JobberInnentum, für die privilegierte Besetzung „kreativer“ wie sozialer Berufe, sogar für die Teilnahme am „Marsch durch die Institutionen“ und nicht zuletzt die individuelle Nutzung sozialstaatlicher Garantien. Alle diese Möglichkeiten mitsamt ihrem Niederschlag in den formellen und informellen Institutionen der „Szene“ wie der explizit politischen Organisation tendieren heute gegen Null. Von der Liquidierung der „Freiräume“ der Universitäten wie der Alternativökonomie über die Verelendung im JobberInnentum bis zur Prekarisierung „kreativer“ und sozialer Berufe unterm doppelten Druck von Konkurrenz und „Sozialkahlschlag“: am Kampf um bedingungslose soziale Rechte und die Wiederaneignung öffentlicher Güter haben Linke heute ein existenzielles Interesse. Sofern der Postfordismus nicht nur Resultat neuer Kapitalstrategien, sondern auch eine Folge der Kämpfe gegen das fordistische Fabrikregime und die „konsumgesellschaftliche“ Normierung des Alltags ist, sind die linken Milieus aber nicht einfach „Opfer“: ihre Revolte gegen das Normalarbeitsverhältnis ging dem neoliberalen Angriff voraus, sie konnten und können flexibilisierte Arbeitsbedingungen in offene und experimentelle Lebensentwürfe integrieren und suchen ihre Chancen deshalb auch nicht in einer reuigen Rückkehr unter die fordistische Disziplin.

In weiter zurückreichender Perspektive geht es dabei um die Weise, in der wir heute und für uns den Unterschied zwischen den Linken und den Bewegungen bzw. Kämpfen vollziehen können. Historisch wurde dieser Unterschied oft in der Form eines Stellvertretungsverhältnisses von „Intellektuellen“– das Wort in weitem, auch nicht-akademischen Sinn verstanden – zu ihnen gegenüber subaltern platzierten Milieus artikuliert. Im Zug der postfordistischen Restrukturierung der Arbeitsteilung aber werden immaterielle wie affektive Tätigkeiten so tiefgreifend verändert, dass sich die soziale Kategorie des Intellektuellen in die in ihrer Mehrdeutigkeit wie inneren Ausdifferenzierung noch gar nicht ausgelotete Kategorie der „Massenintellektualität“ auflöst.(7) Das betrifft individuelle Lebensführungen wie ganze gesellschaftliche Sektoren – alles, was im Alltag als „Kultur“, aber auch als „Öffentlichkeit“ bezeichnet wird, und damit natürlich auch die Bedingungen politischen Handelns im engeren Sinn des Wortes – auch hier sind wir der Krise der Repräsentation konfrontiert. Eine undogmatische, interventionistische – und postfordistischen Linken trüge ihren Namen dann zu recht, wenn sie ihre Massenintellektualität subversiv zu radikalisieren lernte, im Alltagsleben wie in der Konstruktion eines diesem Alltag angemessenen politischen Raums. Von hier ist deshalb auch zurückzugehen auf im vorangegangenen Abschnitt präsentierte Liste von Möglichkeiten, hier scheint deshalb auch eine Politik auf, die mehr und anderes werden könnte als „Kaderpolitik“. Mit der Platzierung des Begriffs der Aneignung auf der Agenda der Kämpfe ist dafür ein Anfang gemacht – nicht mehr, nicht weniger.

 

Anmerkungen:
1) Von lat. intervenire, dazwischen- bzw. dazukommen, -treten; lat. interventio, Dazwischenkunft. [zurück]
2) Luoghi Comuni (Gemeinsame Orte). Sonderausgabe von DeriveApprodi zum ESF in Paris 2003, gekürzte Fassung in ak 481 [zurück]
3) Als weitere Tendenz ließen sich noch uns mehr oder weniger nahestehende Gruppen unterschiedlicher (wertkritischer, sozialrevolutionärer, militanter...) Ausrichtung nennen, die größeren Wert auf eine explizit anti-reformistische Artikulation legen, uns deshalb immer wieder des Reformismus bezichtigen und von uns im Gegenzug als „ultralinks“ bezeichnet werden könnten – das alles mit dem gebotenen Unernst genommen. [zurück]
4) Vgl. das Strategiepapier des neuen IG-Metall-Ideologen Hans Jürgen Urban: Zukunft des Sozialstaats – Eigenverantwortung und Finanzierung, Juni 2003; kann auf Wunsch elektronisch zugesandt werden. [zurück]
5) Für einen Überblick vgl. die Diskussionen bei attac (www.attac.de/sozsich/texte-speicher.php), im Umfeld der Rosa Luxemburg-Stiftung (www.wem-gehoert-die-welt.de), in „radikalreformistischen“ Kreisen (www.links-netz.de), in der Vorbereitung und Durchführung des 27. Kongresses der Bundeskoordination Internationalismus (www.buko.info) sowie im Nachgang auf den linksgewerkschaftlichen „Perspektivenkongress“ (www.perspektivenkongress.de) sowie bei kanak attak (www.kanak-attak.de/ka) bzw. der Gesellschaft für Legalisierung (www.rechtauflegalisierung.de). Vgl. außerdem arranca! 28/03 (http://arranca.nadir.org/aktuell.php3), Fantômas 4/03 (www.akweb.de/fantomas ) sowie zusammenfassend Tom Binger: Wir können auch anders! Zu einigen radikalreformerischen Alternativen zur Agenda 2010, in: ak 484. [zurück]
6) Die grundlegende Reflexion auf die Differenz zwischen den Linken und den Bewegungen bzw. den Kämpfen findet sich immer noch im Proletarier und Kommunisten überschriebenen Abschnitt des Manifests der Kommunistischen Partei. [zurück]
7) Vgl. u.a. Thomas Atzert (Hg.): Immaterielle Arbeit und Subversion, Berlin 1998; Marco Revelli: Die gesellschaftliche Linke, Münster 1999; Jost Müller: Die kritischen Intellektuellen und die Vergesellschaftung der Intelligenz. Einige Hinweise auf Geschichte und Theorie der Massenintellektualität. In: Th. Atzert, J. Müller: Immaterielle Arbeit und imperiale Souveränität, Münster 2004. [zurück]