Never relinquish the streets! - Am 1. Mai auf die Straße!

Aufruf zu einer Demonstration der besonderen Art am 1. Mai ab 18 Uhr in Berlin-Kreuzberg

Der Aufruf der AG Krieg & Frieden wurde in der IL Berlin kontrovers diskutiert.

In einer früheren Fassung beinhaltete der Aufruf folgenden Satz:
"Wir werden beweisen, dass die Einschränkungen demokratischer Grundrechte nichts anderes sind als der autoritäre Angriff auf diese Rechte und nichts mit gesundheitlichen Schutzmaßnahmen zu tun haben.“

Diese Passage wurde gestrichen. Wir halten diese Klarstellung für notwendig, um zu verdeutlichen, dass verantwortliches Handeln und ein achtsamer Umgang miteinander Grundlage unserer Politik sind und um uns deutlich von Corona-Leugner*innen und -Verharmloser*innen abzugrenzen, die etwa am Rosa-Luxemburg-Platz demonstrieren. Die Bekämpfung der Corona-Pandemie hat zur flächendeckenden Beseitigung von Grundrechten und Bewegungsfreiheit geführt. Vieles spricht dafür, dass viele dieser Maßnahmen in der gegebenen Situation angebracht, ja sogar notwendig oder unvermeidbar sind, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen.

Was nicht angebracht ist: Die Doppelmoral, die in vielen dieser Maßnahmen zum Ausdruck kommt. Warum wird gegen Kundgebungen und Versammlungen wie etwa zu #LeaveNoOneBehind massiv vorgegangen, werden Alleinerziehende mit der Kinderbetreuung alleine gelassen, alte Menschen in Heimen jeglichen Kontakts zu ihren Angehörigen beraubt, Arbeitsbedingungen zugelassen, die zu Corona-Infektionen führen, wie beispielsweise im Falle der Spargel-Erntehelfer*innen? Warum werden die Geflüchteten auf Lesbos und hier weiterhin in Lagern und Sammelunterkünften zusammengepfercht? Gleichzeitig werden Shoppingmalls und Autohäuser geöffnet. Das zeigt: Die beschlossenen Lockerungen sind vor allem im Interesse der Wirtschaft, nicht im Interesse der Menschen!

Diese Zustände müssen kritisiert, müssen verändert werden – auch auf der Straße, auch am 1. Mai.

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Wir freuen uns über den Debattenbeitrag des Revolutionären 1.Mai-Demobündnis und freuen uns noch viel mehr über die klar geäußerte Position, den 1. Mai in Berlin auch in diesem Jahr auf jeden Fall stattfinden zu lassen. Weil im Beitrag des Bündnisses inhaltlich bereits viel Richtiges geschrieben wurde, wollen wir im Folgenden unsere Gedanken zu Sinn, Verantwortbarkeit und inhaltlichem Charakter mit euch teilen.

Sinn
Der 1. Mai ist seit jeher der Tag, an dem die Menschen ihre gewonnenen Kämpfe feiern, ihrer verlorenen Kämpfe erinnern und ihren aktuellen Kämpfen Ausdruck verleihen. In den vergangenen Jahren wurde viel über Sinn und Zweck eines Rituals diskutiert. Dieses Jahr gewinnt der 1. Mai eine besondere Relevanz, weil wir ihn im Rahmen des globalen Ausnahmezustands nicht einmal mehr als sinnvolles Ritual begehen können. Heute ist jede politische Versammlung auf der Straße ein materieller Kampf um unsere Rechte. Angesichts der Corona-Maßnahmen, die im Zeichen biopolitischer und kapitalistischer Logik stehen, müssen wir uns gegen gravierende Einschränkungen einsetzen, die besonders Marginalisierte aber auch die radikale Linke treffen. Wir dürfen den autoritären Maßnahmen keinen Millimeter mehr geben, wir haben schon zu viel verloren, politisch und sozial. Es zeichnet sich schon ab, wer für die Kosten der Krise aufkommen wird. Der Kampf gegen die massive Umverteilung von unten nach oben muss jetzt schon beginnen.

Verantwortbarkeit
Wie der Text des Bündnisses bereits formuliert, wissen wir um die Risiken und die nötigen Schutzmaßnahmen. Deshalb schlagen wir vor: Lasst uns am 1. Mai zu einer Demonstration der besonderen Art mobilisieren und lasst uns damit ein kollektives Moment schaffen. Denn wir meinen, dass wir der Isolation und Vereinzelung entgegen wirken müssen, das kollektive Gefühl des Beisammenseins unersetzlich ist und wir nur mit vielen stark sind und den nötigen politischen Druck aufbauen können. Wir tragen den politischen Konflikt in die Gesellschaft und erobern uns die Versammlungsfreiheit zurück. Es wird eine gute und wichtige Ergänzung sein, wenn an diesem Tag auch kleinere dezentrale Aktionen und Kundgebungen stattfinden. So wird zum einen der politische Druck erhöht, zum anderen eine Möglichkeit für all diejenigen geschaffen, denen aus den unterschiedlichsten Gründen das Risiko einer zentralen Zusammenkunft zu hoch ist.

Aktuell haben die Herrschenden vor nichts mehr panische Angst als vor Kontrollverlust. Nahezu jegliche Art von politischen Ausdruck wurde durch die Polizei unterbunden. Von den Bullen selbst ging dabei die höchste gesundheitliche Gefahr aus. Oft trugen sie keine Masken, hielten den Sicherheitsabstand nicht ein und zwangen die Versammlungsteilnehmer*innen in unnötige Nähe zueinander. Hier wird deutlich, dass das staatliche Verbot von politischen Versammlungen nicht dem Infektionsschutz dient. Wenn die Bullen uns am Abend des 1. Mai drangsalieren, werden sie damit nur dokumentieren, dass sie die einzigen sind, die gegen Schutzmaßnahmen verstoßen.

Wir werden beweisen, dass auch unter Covid-19 politische Versammlungen von vielen auf den Straßen möglich sind. Wir werden zeigen, dass wir unseren Schutz besser organisieren können als der Staat. Wer, wenn nicht wir, könnte diesen Beweis erbringen? Wie viele tausende von Demos, Kampagnen, militanten Aktionen, Camps und massenhaften Ungehorsam haben wir schon organisiert? Wir haben jahrelange Erfahrung in Selbstorganisation und Kreativität, in Achtsamkeit und Respekt vor Unterschiedlichkeiten und auch unsere linken Überzeugungen verlangen uns oft die nötige Disziplin ab.

Die Demo der besonderen Art am 1. Mai 2020 in Berlin wird keine herkömmliche Demonstration sein. Inspirationen gaben uns die raumgreifende Aktion am Kottbusser Tor in Berlin am 28. März und die 2000 überwiegend schwarz gekleideten Menschen auf dem Rabin-Platz in Tel Aviv am 19. April. Zusätzlich stellen wir uns eine größere Fläche und ständige Bewegung vor. Unsere Versammlung wird also nicht das sein, was die Revolutionäre 1. Mai-Demo immer war, sondern eher einem großen und breiten Spaziergang durch den Kiez gleichen. Unsere verschiedenen aufeinanderfolgenden Treffpunkte können ein Gebiet mit vielen Zugängen sein, nicht allein ein großer Platz, sondern auch die Straßen dorthin, damit der Raum flexibel bleibt und mit den Neuankommenden immer weiter ausgedehnt wird. Auf den Sichtachsen der langen, breiten Straßen wird die Masse der Teilnehmenden sichtbar, die sich alle individuell, selbstverantwortlich und damit auch auf eine gemeinsame Art fortbewegen. Sie werden dabei nach und nach an Orte vorbeigehen, die eine Geschichte von vielfältigen Protesten erzählen können, ebenso an Orten der Verdrängung und rassistischer Kontrollen.

Zu diesem verantwortungsvollen Protestspaziergang laden wir gerne mit ein. Die Teilnehmer*innen können zum Beispiel unverdächtige Joggingklamotten tragen und sich ständig auf und ab bewegen. Andere spannen mitgebrachte Tücher mit ihren Forderungen auf oder stellen sich mit Pappschildern in die lange Schlange am Späti an. Viele weitere tragen Transparente, die in entsprechende Größen geschnitten die Sicherheitsabstände markieren. Gemeinsam rufen wir Parolen. Und zügig kommen alle wieder in Gang, um eine statische Situation zu vermeiden. Manche sind auf ihren Fahrrädern unterwegs, andere in Autos mit aufgedrehten Lautsprechern, aus denen dem Kampftag angemessene Lieder zu hören sind. Handschuhe und Vermummung mit Nase-Mund-Schutz sind dabei selbstverständlich. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.

Wir wissen, dass diese Form für uns alle neu ist und auch aus Gründen der Repression ein unwohles Gefühl bei Einigen von uns hinterlassen wird. Wir glauben jedoch, dass es die Sache wert ist. Wir sind gespannt wie eine Zwille, ob uns allen gemeinsam dieses große Experiment gelingen wird. Zudem sind wir uns unserer Verantwortung gegenüber der historischen Kontinuität des 1. Mai bewusst. Der Tag lebt auf und von der Straße.

Charakter
Wir fänden es charmant, wenn diese besondere Demo inhaltlich so vielfältig bleibt wie in den vergangenen Jahren. Gerade jetzt ist es wichtig, die unterschiedlichen Aspekte der Krise hervorzuheben: Vom kaputtgesparten Gesundheitssystem, über die Aushöhlung erkämpfter Arbeiter*innenrechte, den soziopsychologischen Folgen der Isolation, die vollkommen unzureichenden und sogar tödlichen Maßnahmen zur Coronaprävention aus internationalistischer Perspektive bis hin zu den autoritären Angriffen auf grundlegende demokratische Rechte.

Auch an den europäischen Außengrenzen wird die Situation tödlicher. Unter dem Deckmantel des Seuchenschutzes wurde die Seenotrettung komplett ausgesetzt. Gleichzeitig werden 40.000 Geflüchtete in griechischen Lagern festgehalten und sich selbst überlassen. Um die deutsche Lebensmittelindustrie zu unterstützen, die stark von billigen Arbeitskräften aus dem Ausland abhängig ist, hat die BRD zugestimmt, 80.000 Leiharbeiter*innen einzufliegen, um Spargel und Erdbeeren zu ernten. Deren Gesundheit wird riskiert um sicherzustellen, dass deutsche Agrarkapitalisten wie gewohnt Rekordgewinne machen. Parallel dazu wurden über 200.000 deutsche Tourist*innen aus dem Ausland zurückgeholt. Wir sehen: nicht jedes Menschenleben hat den gleichen Wert.

Wir fordern deshalb: Der rot-rot-grüne Berliner Senat soll umgehend mindestens 1500 Geflüchtete aus den griechischen Lagern aufnehmen, was er schon im März zugesagt hat. Damit wird zwar nicht das rassistische Grenzregime abgeschafft, allerdings finden wir, dass irgendwo angefangen werden muss. Dazu braucht es unsere praktische Solidarität auf der Straße. Die Umsetzung dieser Maßnahme wäre im besten Fall ein Ausgangspunkt für weitergehende Forderungen. Wie der Senat diese Forderung umsetzt, ist seine Aufgabe. Dass aber alles funktioniert, wenn nur der Wille da ist, zeigen aktuell die vor kurzem noch unvorstellbaren Maßnahmen, die im Zuge der Krise eingeleitet wurden.

So oder so, trotz alledem und jetzt erst recht!
Am Ende entscheidet die Straße!

AG Krieg und Frieden der IL Berlin

Mehr Infos:
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