Wir schulden euch nichts, ihr schuldet uns alles!

Warum Enteignen jetzt erst recht die halbe Miete ist.
Enteignen: Wir schulden euch nichts, ihr Schweine!
Proteste gegen die Hauptversammlung der Deutschen Wohnen im Juni 2019 in Frankfurt am Main

Als wir im Februar diesen Jahres unsere Broschüre »Enteignen ist die halbe Miete. Investor*innen verdrängen. Wohnraum vergesellschaften!« in Druck gaben, freuten wir uns auf spannende Diskussionen und Veranstaltungen mit Aktiven der Mieter*innen- und Recht auf Stadt-Bewegung. Und wir freuten uns auf eine gemeinsame Mobilisierung zum europaweiten »Housing Action Day« am 28. März, wo als Ergebnis einer monatelangen Vernetzungsarbeit auch in Deutschland in einer bisher nicht gekannten Zahl von Städten Aktionen und Kundgebungen gegen Mietenwahnsinn und Verdrängung stattfinden sollten. Wie wir heute wissen, kam es anders.

Die Mieter*innen- und Recht auf Stadt-Bewegung in der Coronakrise
Die Corona-Pandemie machte nicht nur die Planungen für den Housing Action Day zunichte. Sie ließ zumindest in den ersten Wochen auch die alltägliche Arbeit unserer Initiativen und Bewegungen fast vollständig zum Erliegen kommen. Und sie lenkte die öffentliche Aufmerksamkeit weit weg von mieten- und wohnungspolitischen Themen. Es gab schließlich wichtigeres. Doch rasch zeigte sich, dass dies nicht stimmt. »Wenn alle zu Hause bleiben sollen, brauchen alle ein Zuhause!« forderte das Aktionsbündnis gegen Verdrängung und Mietenwahnsinn und rief als Ersatz für den geplanten Housing Action Day am 28. März zur Fenster- und Online-Demonstration auf. Viele von uns folgten dem Aufruf und beteiligten sich mit Plakaten, Transparenten und Social Media-Aktivitäten, in Berlin erregte die #Besetzen-Initiative einiges an Aufmerksamkeit – und doch hinterließ der Tag viele von uns mit einem ernüchternden Ohnmachtsgefühl.

Seit dieser ersten Phase des Shutdowns ging es für alle politisch Aktiven darum, so gut es geht die eigene Handlungsfähigkeit zurück zu gewinnen. Als Mieter*innen- und Recht auf Stadt-Bewegung waren wir dabei durchaus erfolgreich: Vielerorts haben sich Telefon- und Videokonferenzen als Ersatz für physische Treffen eingespielt. Das Recht auf Stadt-Forum, das ursprünglich in Weimar stattfinden sollte, wurde auf beeindruckende Weise in den digitalen Raum verlegt. Über Texte und Online-Petitionen konnte manche Initiative gesetzt werden – und in den letzten Wochen ist es auch zunehmend besser gelungen, sich die Straße zurück zu erobern: bei vorsichtigen Haustürgesprächen mit Mieter*innen, bei Protesten gegen Zwangsräumungen von Mieter*innen und Gewerbetreibenden, bei feministischen Aktionen gegen häusliche Gewalt und das krisenbedingte Revival der heteronormativen Kleinfamilie, oder, wie mit #OpenTheHotels und #LeaveNoOneBehind, bei Kundgebungen für einen angemessene, dezentrale Wohnraumversorgung von Wohnungs- und Obdachlosen, Geflüchteten und allen anderen, die kein sicheres Zuhause haben. Dabei sind nicht nur neue Allianzen entstanden, sondern es wurden gemeinsam auch wichtige Zeichen der Solidarität und Widerständigkeit gesetzt.

Kommende Herausforderungen

Diese ersten Schritte zurück in die Normalität von Aktivismus und Bewegung sind äußerst wichtig, denn die Aufgaben, die vor uns stehen, sind groß. Da sind zunächst die unmittelbaren sozialen Auswirkungen der Coronakrise: Die Hunderttausenden und Millionen, die vorher schon kaum wussten, wie sie Monat für Monat ihre viel zu hohe Miete bezahlen sollen, stehen jetzt infolge von Ladenschließungen, Auftragseinbrüchen, Kurzarbeit und Jobverlust endgültig mit dem Rücken zur Wand. Da nützt es auch wenig, dass die Bundesregierung einige Sofortmaßnahmen zur Beruhigung des Lage – wie das Kündigungsverbot bei coronabedingten Mietschulden – getroffen hat und große Wohnungskonzerne wie Vonovia und Deutsche Wohnen die Situation nutzen, um sich mit zeitlich befristeten Zugeständnissen an die Mieter*innen einen sozialen Anstrich zu verpassen. Spätestens wenn diese Regelungen auslaufen und die Menschen ihre Mietschulden plus Zinsen zurückzahlen müssen, droht eine neue Welle systematischer Verdrängung und Gentrifizierung. Das dürfen wir nicht zulassen!

Neben dieser mietenpolitischen Zeitbombe bergen jedoch auch die mittelfristigen ökonomischen und politischen Folgen der Pandemie große Herausforderungen. Die Erfahrungen aus der letzten großen Krise seit 2008 lehren uns, dass der deutsche Immobilienmarkt auch dieses Mal von Finanzinvestoren als sicherer Hafen für überschüssiges Kapital auserkoren werden könnte. Damit würde der Druck, unsere Wohnungen in Betongold und unsere Städte in reine Anlagesphären zu verwandeln, weiter steigen – gerade dann, wenn kleinere Privatvermieter infolge von Mietausfällen möglicherweise gezwungen wären, ihre Wohnungen und Häuser zu verkaufen. Wie sehr der Immobilien- und Wohnungsmarkt längst im Zentrum der Kapitalverwertung angekommen ist, lässt sich daran bemessen, dass mitten in der Coronakrise mit der Deutschen Wohnen nach der Vonovia auch der zweitgrößte deutsche Wohnungskonzern in den DAX aufgestiegen ist und sich um beide Konzerne sowie weitere große Playern wie die LEG Immobilien regelmäßig Fusionsgerüchte ranken.

In dem Maße, wie die Kapitalkonzentration am Immobilien- und Wohnungsmarkt zunimmt, steigt freilich auch der politische Einfluss der entsprechenden Akteure. Ihn versucht die Immobilienwirtschaft gerade jetzt in der Coronakrise zu nutzen. So soll der – vom Deutschen Mieterbund leider mitgetragene – Vorschlag für einen rein staatlich finanzierten »Sicher-Wohnen-Fonds« dazu dienen, coronabedingte Mietausfällen abzufedern und auf diesem Weg die eigenen Profite, d.h. vor allem die Dividenden für die Aktionär*innen, abzusichern. Zudem macht die Immobilienlobby mit Verweis auf die Krise und die vermeintliche Notwendigkeit von raschem Wirtschaftswachstum öffentlichkeitswirksam gegen staatliche Eingriffe und jegliche Form der sozialen Regulierung des Immobilien- und Wohnungsmarktes mobil.

Solche eigentlich relativ einfach zu durchschauenden Versuche, mietenpolitische Errungenschaften der letzten Jahre rückgängig zu machen und die Kräfteverhältnisse wieder zugunsten von Investoren und Wohnungskonzernen zu verschieben, drohen unter den Bedingungen der Krise in der herrschenden Politik auf fruchtbaren Boden zu stoßen. Dies gilt umso mehr, als diese bereits zuvor wenig Bereitschaft gezeigt hat, grundlegende Veränderungen von unten zu akzeptieren – man denke etwa an die Hinhaltetaktik gegen das Volksbegehren von »Deutsche Wohnen und Co. Enteignen« in Berlin oder den »Mietentscheid« in Frankfurt. Wenn jetzt infolge der Krise sowie milliardenschwerer Rettungs- und Konjunkturpakete auch noch eine staatliche Finanzkrise und Austeritätsmaßnahmen drohen, müssen wir gemeinsam wachsam sein, damit im Schatten von Corona nicht sogar mühsam erkämpfte und breit verankerte Minimalpositionen – etwa die Ablehnung der Privatisierung öffentlicher Wohnungsunternehmen – plötzlich wieder in Frage gestellt werden.

Und neue Handlungsmöglichkeiten
Gerade weil die Gegenseite also keineswegs schläft, ist es umso wichtiger, dass auch die Mieter*innen- und Recht auf Stadt-Bewegung die Coronakrise als Kampffeld begreift. Und trotz ungleicher Kräfteverhältnisse ist die Ausgangslage gar nicht so schlecht. Denn durch die Krise haben viele Menschen Erfahrungen gemacht, die wir für unsere politische Arbeit nutzen können: Etwa die Erfahrung, dass ein sicheres Zuhause ein (über-)lebenswichtiges Grundbedürfnis ist – weshalb alle Menschen, unabhängig von Herkunft oder Einkommen, das Recht auf ein solches Zuhause haben müssen. Oder die Erfahrung, dass eine solidarische Nachbarschaft etwas großartiges ist – weshalb es sich lohnt, gemeinsam für ihren Erhalt zu kämpfen. Oder die Erfahrung, dass soziale Infrastrukturen dann am besten funktionieren, wenn sie nicht der Profitlogik unterworfen sind – weshalb der Wohnraum ebenso wie die Gesundheitsversorgung vergesellschaftet werden müssen. Und schließlich die Erfahrung, dass der Staat bei Bedarf problemlos in die Wirtschaft eingreifen oder Milliardensummen locker machen kann – weshalb die Behauptung, schärfe Maßnahmen gegen Mietenwahnsinn und Verdrängung seien rechtlich nicht möglich oder die Enteignung großer Wohnungskonzerne finanziell nicht machbar, als das erkennbar werden, was sie sind: politische Propaganda im Interesse der Immobilienlobby.

Damit wir die gemachten Erfahrungen in diesem Sinne für unsere Anliegen nutzen können, bedarf es jedoch mindestens zweierlei: Zum einen muss es uns gelingen, den sozialen Problemdruck im Bereich Mieten und Wohnen sichtbar zu machen und das Thema Mietenwahnsinn wieder zurück in die öffentliche Debatte zu bringen – und zwar so, dass unmissverständlich klar wird, wer für die Folgen der Coronakrise zahlen muss: nicht die ohnehin schon finanziell überforderten Mieter*innen, sondern die Investoren und Immobilienkonzerne mit ihren Milliardenprofiten. Deshalb beteiligen wir uns gemeinsam mit vielen anderen Einzelpersonen und Gruppen an der Initiative »Wir zahlen nicht!«, die für einen Mieterlass in der Coronakrise kämpft und auf der Homepage www.wirzahlennicht.com Menschen dazu einlädt, in anonymisierter Form Informationen über die eigene Mietsituation zu teilen. Aus dem gleichen Grund mobilisieren wir zum Aktionstag »Shut down Mietenwahnsinn – sicheres Zuhause für alle!« am 20. Juni 2020, den das bundesweite »Aktionsbündnis gegen Verdrängung und Mietenwahnsinn« angestoßen hat. Die im Aufruf genannten Forderungen nach einem Mietschuldenerlass, nach einer Senkung der Mieten und Umverteilung der Gewinne sowie nach Wohnungen für Alle sind auch unsere Forderungen!

Gleichzeitig sind wir aber überzeugt, dass es nicht reichen wird, die richtigen Forderungen aufzustellen. Vielmehr wird es darüber hinaus darauf ankommen, eine konkrete Praxis zu entwickeln, mit der wir als Mieter*innen- und Recht auf Stadt-Bewegung während und nach der Coronakrise an einzelnen Stellen politische Dynamik entfalten und so das Kräfteverhältnis wieder zu unseren Gunsten verschieben können. Hierfür sehen wir mindestens drei Ansatzpunkte.

Erstens muss es uns gelingen, die Basisarbeit mit Mieter*innen und Betroffenen auch unter erschwerten Bedingungen fortzusetzen und weiter auszudehnen. Gerade solange das öffentliche Leben diverse Einschränkungen bereithält, können Haustürgespräche und Stadtteilarbeit – natürlich unter Einhaltung entsprechender Abstands- und Hygieneregeln – eine gute Gelegenheit sein, um die Vereinzelung und Isolation, unter der insbesondere ältere, kranke oder alleinstehende Menschen noch immer zu leider haben, zu durchbrechen und auf diesem Weg neue Kontakte zu knüpfen.

Zweitens bedarf es auf lokaler und ggf. auch auf Landesebene politischer Initiativen, um die bestehenden, eher allgemeinen Forderungen zu konkretisieren und auf diesem Weg tatsächlich in die miet- und wohnungspolitischen Kämpfe vor Ort intervenieren zu können. In diesem Sinne hat Druck von unten etwa in Marburg dazu geführt, dass die Stadt für die Zeit der Coronakrise einen Mietenstopp bei der kommunalen Wohnungsgesellschaft sowie einen eigenen Mietschuldenfonds auf den Weg gebracht hat – keine perfekte Lösung, aber zur unmittelbaren sozialen Absicherung der Mieterinnen und Mietern vor Ort zweifellos ein erster Schritt.

Drittens wird es in den nächsten Monaten notwendig sein, den Faden der überregionalen Vernetzung und Zusammenarbeit aufzugreifen und weiter auszubauen. Mit der zu erwartenden Zuspitzung der mietenpolitischen Situation nach Auslaufen der verschiedenen coronabedingten Regelungen zum Mieterschutz und einer möglichen neuen Investitionswelle in den deutschen Immobilienmarkt stehen die Zeichen für viele Mieter*innen spätestens ab Herbst auf Sturm. Dann wird es umso wichtiger sein, als Mieter*innen- und Recht auf Stadt-Bewegung auch bundesweit handlungs- und sprechfähig zu sein. Und wer weiß, vielleicht sind in einigen Monaten auch wieder große Demos und Aktionen des massenhaften zivilen Ungehorsams möglich. Allerspätestens im Herbst 2021 werden wir sie brauchen, um unsere Kämpfe gegen Mietenwahnsinn und Verdrängung zu bündeln und unserer Forderung nach einer grundlegend anderen Wohnungspolitik Nachdruck zu verleihen: Dann stehen nicht nur die Bundestagswahlen an, sondern es könnte in Berlin parallel zu den Wahlen zum Abgeordnetenhaus auch endlich der Volksentscheid zur Enteignung der großen Immobilienkonzerne stattfinden. Umso wichtiger ist es, dem Gespenst der Enteignung bis dahin auch bundesweit noch mehr Rückenwind zu verleihen. Daher sollte gerade in der Coronakrise als strategische Richtschnur die Perspektive dienen, die wir in unserer eingangs erwähnten Broschüre »Enteignen ist die halbe Miete« formuliert haben:

»Die Eigentumsfrage und die (Un-)Möglichkeit, die bereits einkalkulierten Profite mit der Miete auch tatsächlich zu realisieren, berühren das Geschäft mit dem Betongold in seinem Kern. Höchste Zeit also, genau hier weiterzubohren und der Verwertungslogik und -praxis Sand ins Getriebe zu streuen.«

In diesem Sinne: Die Coronapause ist vorbei, machen wir uns an die Arbeit – gemeinsam, solidarisch, ungehorsam! Wir sehen uns auf der Straße, zum Aktionstag am 20. Juni und bei jeder weiteren Gelegenheit. Andiamo!

Recht auf Stadt-AG der Interventionistischen Linken, Juni 2020

Die Recht auf Stadt-AG ist eine von mehreren überregionalen Arbeitsgruppen der Interventionistischen Linken. An ihr sind Aktivist*innen aus rund 10 Städten beteiligt.