
Kriege, Pandemie und Klimakrise, gleichzeitig Armut und wachsende soziale Ungleichheit, dazu noch Rechtsruck und Krisen der sozialen Reproduktion: Wir befinden uns in einem Zeitalter permanenter Krisen.
Die Klimakrise bedroht die Lebensgrundlagen aller menschlichen Gesellschaften. Hitzewellen, Überflutungen und Versteppung sind im Globalen Süden längst bittere Realität. Inzwischen sind auch im Globalen Norden die verheerenden Auswirkungen der Klimakrise unübersehbar. In der Folge wachsen ökologische Instabilität sowie soziale Ungleichheit und damit zugleich Gewalt, Ausgrenzung und Abschottung. Das ändert die Bedingungen für linke und linksradikale Politik grundlegend. Auch wenn die Klimakrise nicht mehr aufzuhalten ist, bedeutet jedes Zehntelgrad globaler Erwärmung für Millionen von Menschen den Unterschied zwischen Leben und Tod. Dabei gibt es keine Abkürzung und das Grundsätzliche ist dringender denn je: Die Abschaffung des Kapitalismus ist zu einer Frage des Überlebens geworden. Im 21. Jahrhundert ist keine Perspektive der Befreiung oder der Überwindung von Ausbeutung ohne diese Voraussetzung denkbar.
Gleichzeitig bedrohen Kriege, wie die russische Aggression gegen die Ukraine oder der Gazakrieg, das Leben von Millionen Menschen. Im geostrategischen Konflikt zwischen den USA und China, der gegenwärtig nur als Wirtschaftskrieg ausgetragen wird, liegt das Potenzial für eine weltweite Eskalation. Die falsche Hoffnung auf ein Zeitalter des Friedens ist geplatzt. Längst ringen wieder Machtblöcke um globalen Einfluss. Die EU und Deutschland mischen dabei zunehmend mit, auch wenn sie sich gern hinter Phrasen von Demokratie und Menschenrechten verstecken.
Im Rahmen dieser Machtpolitik und vor dem Hintergrund der massiven Krisen erhalten staatliche Eingriffe in die Wirtschaft wieder mehr Bedeutung. Hierzu gehören in Deutschland die „Sondervermögen“, mit denen mehrfach riesige Summen mobilisiert wurden, teils zur Krisenabfederung wie bei der Corona-Pandemie, teils zur Finanzierung der Aufrüstung wie bei den 100 Milliarden für die Bundeswehr.
In kriegführenden Staaten sehen wir die Einführung von Kriegsregimen, also das Regieren per Dekret, den Abbau des Sozialstaats und eine allgemeine Zunahme autoritärer Maßnahmen. So verstärken sich auch kriegerisch-autoritäre Männlichkeit und traditionell-patriarchale Strukturen in den Gesellschaften. Die Bevölkerung wird gedrängt oder gezwungen, sich klar patriotisch zu positionieren. Stimmen, die sich für einen gerechten Frieden und internationale Solidarität aussprechen, werden marginalisiert oder unterdrückt.
Kriegslogik, Militarisierung der Gesellschaft und Freund-Feind-Denken bleiben nicht auf die unmittelbar kriegsbeteiligten Staaten beschränkt. Die „Zeitenwende“ hat ganz Europa erfasst: In Deutschland bestimmen Aufrüstung, Waffenexporte in Krisen- und Kriegsgebiete, Nationalismus und eine auch militärisch gedachte Geopolitik den öffentlichen Diskurs.
Der klassische Kapitalismus funktioniert immer weniger: Große Teile des Kapitals können nicht mehr als Investitionen in Produktionsmittel verwertet werden. Riesige Vermögen suchen daher auf den Kapitalmärkten nach rentablen Anlagefeldern, ohne dass sich bisher ein tragfähiges neues Akkumulationsregime herausgebildet hätte. Kapital fließt vor allem in die Privatisierung von Land oder Ressourcen, in die Finanzialisierung von Lebensbereichen wie Wohnen, Gesundheit, Alterssicherung und digitale Kommunikation. Dadurch verlieren immer mehr Menschen den Zugang zu Trinkwasser, Gesundheitsversorgung und selbst Nahrung, sodass Verelendung, Hunger und Fluchtbewegungen global zunehmen.
Die Anpassungsstrategien der herrschenden Klasse an die globale Vielfachkrise erscheinen chaotisch und gespalten. Sie bewegen sich zwischen einer vermeintlich progressiven grün-kapitalistischen Modernisierung mit Bezugnahme auf bürgerliche Freiheitsrechte einerseits und offen autoritären, rechtskonservativen bis faschistischen Konzepten andererseits. So widersprüchlich diese Varianten auch erscheinen mögen: Im Ergebnis schottet sich in beiden Fällen eine kleine Minderheit mit ihrem explodierenden Reichtum ab, während eine Mehrheit die Folgen der Krisen zu tragen hat. An dem grundsätzlichen Problem, dass der globale Kapitalismus in direktem Widerspruch zu den Lebens- und Überlebensinteressen der Menschheit steht, ändern sie nichts.
Hoffnung kann nicht von oben kommen, sondern allein aus den Revolten, Kämpfen und Bewegungen von unten. Black Lives Matter, #niunamenos oder Fridays for Future sind globale Bewegungen gegen die Unerträglichkeit der Verhältnisse. Ihren Protesten haben sich im vergangenen Jahrzehnt mehr Menschen denn je angeschlossen. Hinzu kommen zahlreiche Kämpfe, die zwar den nationalen Rahmen nicht überschreiten, aber in Form und Inhalten ähnlich sind.
Im globalen Bewegungszyklus Anfang der 2010er Jahre konnten wir einen gemeinsamen Rahmen erkennen: Die Aufstände und Bewegungen des Arabischen Frühlings, der spanischen Indignados, von Occupy oder Gezi bezogen sich in ihren Forderungen nach wirklicher Demokratie, ihrer Praxis der Platzbesetzungen und ständigen Versammlungen aufeinander. In Deutschland haben wir das bei den Blockupy-Aktionen gegen die europäische Sparpolitik so formuliert: „Sie wollen Kapitalismus ohne Demokratie – Wir wollen Demokratie ohne Kapitalismus!“
Auch die aktuellen Bewegungen haben einen gemeinsamen Nenner, auch wenn dieser vielleicht schwieriger auszumachen ist: Überall geht es um Fragen des Lebens und Überlebens. Bewegungen gegen Feminizide, gegen rassistische Morde, gegen die Untätigkeit angesichts der Klimakrise treffen sich darin, dass das Überleben selbst im Mittelpunkt der Forderungen steht. Zunächst ist das nur ein trotziges Nein gegen den mörderischen Status quo, aber auch hierin ist der utopische Horizont einer besseren Welt bereits angelegt. Trotz der ungleichen Bedingungen und Widersprüche sind unsere Kämpfe hier, „im Herzen der Bestie“, Teil des globalen Bewegungszyklus: In der Klimagerechtigkeitsbewegung, in der (queer-)feministischen Bewegung, in der Antikriegsbewegung oder im Antirassismus: Stets geht es darum, den nationalen Rahmen zu sprengen und eine transnationale Perspektive globaler Solidarität und Befreiung einzunehmen.
Die globalen Krisen sind auch hierzulande inzwischen direkt spürbar. Aber trotz sommerlicher Hitzewellen und tödlicher Überflutungen, trotz Rechtsruck, wachsender sozialer Ungleichheit und Austeritätspolitik: Die Linke scheint blockiert, gehemmt, vor allem aber unsichtbar zu sein. Abgesehen von Empörungswellen und kurzfristigen Mobilisierungen gibt es kaum nachhaltigen Protest und Widerstand. Dazu tragen die spürbare Desorientierung und die Spaltungsprozesse in der gesamten Linken ihren Teil bei. Zentrale, tiefer liegende Ursachen sind die paradoxerweise herrschaftsstabilisierenden Wirkungen von Krieg und Krisen, die auf die Folgen neoliberaler Individualisierung treffen, vor denen auch wir, als radikale Linke, nicht gefeit sind. Einer zerfaserten Linken fällt es zunehmend schwer, auf die Beschleunigung des politischen Geschehens adäquat zu reagieren und Gegenentwürfe zu den Verhältnissen zu entwickeln.
Koloniale Ausbeutung, billige Rohstoffe und fossiler Extraktivismus haben die kapitalistischen Zentren des Westens reich und mächtig gemacht. Das ermöglichte den Klassenkompromiss in den Industriegesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg, die Beteiligung großer Teile der Gesellschaft an Konsum und Wohlstand. Diese imperiale Lebensweise kann bis heute nur in einem kleinen Teil der Welt realisiert werden. Ihr Preis sind neokoloniale Ausbeutung sowie ein ungehemmter Verbrauch von Ressourcen und fossilen Brennstoffen. Natürlich profitieren hiervon insbesondere die Reichen und Wohlhabenden, während auch in den kapitalistischen Zentren die soziale Ungleichheit wächst. Viele Leute hier vor Ort nehmen Veränderungen dieser Verhältnisse als Bedrohung ihrer Lebensweise wahr, auch weil Veränderung unter den herrschenden Machtverhältnissen nicht auf Kosten der Reichen, sondern der Mehrheit der Bevölkerung erfolgt. Dieser Mechanismus ist ein gewaltiges Hindernis für einen breiten Widerstand gegen Grenzregime, institutionellen Rassismus und für eine konsequente Klimapolitik.
Die unübersehbaren Momente der Zuspitzung wie die Ahrtal-Flut, die Corona-Pandemie oder die aktuellen Kriege haben zuletzt paradoxerweise vor allem zur Stabilisierung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse beigetragen. Durch eine erfolgreiche Bearbeitung der Bedürfnisse nach Sicherheit und Stabilität konnten gesellschaftliche Widersprüche in diesen Situationen zugunsten scheinbar allgemeiner Interessen oder klarer Freund-Feind-Bilder eingeebnet werden. Die Anrufung einer Schicksalsgemeinschaft hat verfangen. Unterschiedliche Betroffenheiten und Verantwortlichkeiten spielen darin keine Rolle mehr.
Die Zunahme von Krisensituationen trifft dabei auf die beschleunigte Aufmerksamkeitsökonomie einer digitalisierten Öffentlichkeit. Politische Debatten werden immer moralisierter, Empörungswelle folgt auf Empörungswelle, unzählige politische Aufreger werden in immer kürzeren Abständen aneinandergereiht. Doch was heute noch brennt, ist morgen bereits vergessen. Was bleibt, ist die Wahrnehmung der umfassenden Krisenhaftigkeit und ein tiefgreifendes Gefühl der Unsicherheit, das zugleich den Rückzug ins Private, die Entsolidarisierung und die Bindung an die Sicherheitsversprechen der Herrschenden fördert.
Auf der Ebene der Individuen stellt eine weit fortgeschrittene neoliberale Subjektivierung ein großes Hindernis für Solidarität, Kollektivität und damit für den Aufbau gesellschaftlicher Gegenmacht dar. Subtile oder offene Mechanismen der Disziplinierung und Sanktionierung bei gleichzeitigem Abbau sozialer Sicherheit werfen die Menschen auf das eigene Überleben zurück. Sie werden gezwungen, sich stärker als Einzelkämpfer*innen zu verhalten. Dies fällt zusammen mit der allgegenwärtigen Aufforderung, die eigenen Chancen zur Entfaltung und Selbstverwirklichung zu nutzen – angeblich im Einklang mit dem persönlichen Wohlbefinden und einer angemessenen Selbstsorge. Durch dieses vergiftete, aber wirkmächtige Freiheitsversprechen unterwerfen sich die Menschen selbst den Logiken der Eigenverantwortlichkeit und Konkurrenz.
Eine radikale Linke, die gesellschaftliche Verhältnisse ins Wanken bringen will, steht daher vor einer zentralen Herausforderung: Die Kritik der neoliberalen Subjektivierung in die Breite zu tragen und gleichzeitig Gegenmodelle der Kollektivität und der Genoss*innenschaftlichkeit zu entwickeln und konkret erfahrbar zu machen.
Selbst wenn die Herrschaftsverhältnisse hier vor Ort relativ stabil scheinen: Die Widersprüche des Kapitalismus sind auch im „Herzen der Bestie“ wirksam. Diese Risse und Bruchlinien zu erkennen, ihre Dynamik zu verstehen und sie weiter zu vertiefen, ist die Aufgabe einer gesellschaftlichen radikalen Linken. Aus Bruchlinien werden Konfliktfelder, in Konfliktfeldern entstehen dann konkrete Kämpfe, die wir vorantreiben und so weiter-
entwickeln wollen, dass sie über das Bestehende hinausweisen. Die wichtigsten Bruchlinien, die Gelegenheit und Notwendigkeit für politische Intervention und Weiterentwicklung unserer Praxis bieten, werden wir im Folgenden skizzieren.
Für große Teile der Gesellschaft werden die Versprechen des Neoliberalismus – Freiheit, Selbstverwirklichung, Wohlstand und Konsum – nicht mehr eingelöst. Soziale Garantien und Infrastruktur wurden abgebaut, Hartz IV (jetzt Bürgergeld) eingeführt, gewerkschaftliche Organisierung geschwächt und viele Lebensbereiche durchökonomisiert. Immer mehr Menschen haben immer weniger: weniger Lohn, weniger soziale Sicherheit, weniger Geld für Lebensmittel und Wohnen, weniger gesellschaftliche Teilhabe. Statt sich selbst zu verwirklichen, machen sie Erfahrungen von Abstieg und Entwertung. Sie kämpfen sich mit unsicheren Jobs im Niedriglohnsektor von Krise zu Krise. Vor allem FLINTA* und migrantisierte Personen werden in die Prekarität gedrängt.
Die soziale und räumliche Ungleichheit hat massiv zugenommen. Teure Autos und Luxusquartiere prägen die Innenstädte. Gleichzeitig nehmen Armut und Obdachlosigkeit zu, werden ganze Stadtteile und Regionen abgehängt. Das sind viele Regionen Ostdeutschlands, aber auch westdeutsche Städte und ländliche Gebiete sind von Prekarität und schlechter Infrastruktur geprägt. „Blühende Landschaften“ sind ein leeres Versprechen geblieben – in Ostdeutschland, aber auch anderswo. Kürzungen und Privatisierungen machen die öffentliche Infrastruktur kaputt. Hinzu kommt: Individualisierung, Optimierungsdruck und die Anforderung, sich immer schneller an immer neue Situationen anzupassen, führen bei vielen zu Überforderung und Einsamkeit. Mehr und mehr Menschen haben Sehnsucht nach einem Ausstieg aus der Beschleunigungsdynamik und nach mehr Gemeinschaftlichkeit.
Mehr Gleichberechtigung und mehr persönliche Freiheit waren die Versprechen des Neoliberalismus. Es gab auch Schritte der Liberalisierung und der Anerkennung unterschiedlicher Lebensentwürfe, es gab Maßnahmen für mehr Gleichstellung der Geschlechter. Doch erleben Menschen jeden Tag, dass es mehr Sichtbarkeit und Diversität nur gibt, wenn es in die ökonomische Logik passt. Neoliberale Anerkennungspolitiken heben soziale Ungleichheit und Unterdrückung nicht auf. Patriarchale, queer- und transfeindliche Gewalt und Feminizide gehen weiter, genauso wie rechte und rassistische Morde.
Nicht einmal mit Blick auf seinen harten ideologischen Kern, die Funktionsweise von Ökonomie, Staat und öffentlichen Finanzen, kann der Neoliberalismus seine Versprechen in Zeiten permanenter Krisen halten. Egal ob Corona-Hilfen, Energiekrise oder die notwendigen Investitionen in den Klimaschutz: Der Staat benötigt deutlich größere Haushaltsmittel, als er laut Schuldenbremse und der jahrzehntelang gepredigten Austeritätspolitik ausgeben dürfte. Dies führt nicht nur zu handfesten Konflikten innerhalb der Herrschenden. Wenn für die „Sondervermögen“ zur Aufrüstung oder Wirtschaftsstabilisierung ein Fingerschnipsen ausreicht, um astronomische Summen wie aus dem Nichts zu mobilisieren, wirkt es nicht länger glaubwürdig, dass für soziale und gesellschaftliche Bedürfnisse angeblich kein Geld da ist.
Das untergräbt die Zustimmung zur neoliberalen Herrschaft. Damit bieten sich vielfältige Ausgangspunkte für eine linke Klassenpolitik, die für gesellschaftliche Solidarität, soziale Sicherheit und eine tatsächliche Realisierung von Entfaltungsmöglichkeiten eintritt und bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse offensiv angreift.
Soziale Reproduktion meint alle die Tätigkeiten und Bereiche, die notwendig sind, um menschliches Leben und die menschliche Arbeitskraft als Grundlage kapitalistischer Produktion wiederherzustellen. Die Organisation der sozialen Reproduktion ist eng verflochten mit den hegemonialen Lebens- und Beziehungsweisen – und damit insbesondere mit den herrschenden Geschlechterverhältnissen. Uns alle betrifft das fundamental im Alltag: Es geht um Essen und Trinken, um Wohnen, um Krankheit und Genesung, um Pflege und Betreuung, um Kümmern, um Energie und Mobilität, um Bildung und Ausbildung. Es sind Fragen von Leben und Überleben.
Diese soziale Reproduktion ist unübersehbar in der Krise, seit neoliberale Politiken die Kapitalverwertung in immer mehr Bereichen des Lebens und der öffentlichen Infrastruktur vorantreiben. Soziale Einrichtungen, wie etwa Kitas, Krankenhäuser oder Altenheime, sind immer mehr von Ökonomisierung und Privatisierung betroffen. Das Fallpauschalensystem in Krankenhäusern ist ein bekanntes Beispiel. Es führt zu einer Verschlechterung der Versorgung und erhöht den Druck auf die Beschäftigten. Und diese sind zahlreich: Schon jetzt arbeitet fast ein Sechstel der Beschäftigten in Deutschland im Gesundheitswesen.
Die gesellschaftlich notwendige Sorgearbeit bleibt patriarchal organisiert. Allen feministischen Kämpfen der letzten Jahrzehnte mit ihren unbestreitbaren Erfolgen zum Trotz: Die unentlohnte Sorgearbeit im Alltag wird noch immer überwiegend von weiblich sozialisierten Personen erbracht – oft als Doppelbelastung zusätzlich zur Lohnarbeit. Wer es sich leisten kann, lagert die vielfachen Belastungen des Alltags aus an andere, oft prekarisierte Migrant*innen. Damit verschieben sich die Probleme jedoch nur zwischen den Klassen, denn die eigene Reproduktionsarbeit der Sorgearbeiter*innen in ihren Familien und in ihren Herkunftsländern verschwindet nicht.
Gegen diese Zustände regt sich Widerstand. So hat die Krankenhausbewegung der letzten Jahre wichtige Erneuerungsimpulse für gewerkschaftliche Arbeitskämpfe gesetzt. Der Kampf um die Arbeitsbedingungen und die Entlohnung der Pflegekräfte richtet sich gegen die kapitalistische Verwertung von Sorgearbeit und gegen die massiven Lücken in der Finanzierung von Gesundheitsversorgung und Pflege. Er ist zugleich ein feministischer Kampf. Die Beschäftigten haben sich organisiert, neue Formen der Selbstermächtigung entwickelt und Perspektiven der Vergesellschaftung eröffnet. Kämpfe in diesem Bereich haben stets das Potenzial, über die unmittelbaren Forderungen hinauszugehen. Das macht sie zu Bruchstellen, an denen nicht nur die Arbeitsbedingungen einer Branche, sondern die gesellschaftliche Organisation als Ganzes infrage gestellt werden kann.
In den 8.-März-Streiks werden diese neuen Kämpfe gegen die Ausbeutung von Sorgearbeit mit der allgemeinen feministischen Kritik an der heteronormativen Kleinfamilie, an der vergeschlechtlichten Arbeitsteilung und an patriarchaler und queerfeindlicher Gewalt verbunden. Der gemeinsame Nenner besteht darin, die männliche Herrschaft insgesamt, also die gesamte patriarchal-kapitalistische Gesellschaftsordnung, infrage zu stellen. Leider konnte der feministische Streik, der in Argentinien und Spanien Millionen bewegt und organisiert hat, in Deutschland bislang nur in Ansätzen umgesetzt werden.
Die Krise der sozialen Reproduktion zeigt sich auch in anderen Bereichen der sozialen Infrastruktur, etwa im steigenden Verwertungsdruck bei Wohnraum, Lebensmitteln, Wasser- und Energieversorgung. Wir alle spüren dies in Form explodierender Mieten, den gestiegenen Kosten für Energie oder Lebensmittel und der zunehmenden Verdrängung aus den Innenstädten. Dadurch wuchs die Beteiligung an mietenpolitischen Kämpfen, vor allem in Berlin und anderen Großstädten. Die Forderung nach öffentlichem Eigentum und basisdemokratischer Verwaltung von Wohnraum, also nach Enteignung und Vergesellschaftung, findet breite Unterstützung bis hin zur Mehrheitsfähigkeit. Diese konkrete antikapitalistische Perspektive der Vergesellschaftung wollen wir in Zukunft auch in die Auseinandersetzungen um Energie- und Wasserversorgung übertragen.
Die Klimakrise ist nicht mehr abstrakt, nicht mehr auf den Globalen Süden beschränkt, sondern auch hierzulande direkt spürbar. In den Hitzesommern wird der Zugang zu kühlem Wohnraum gerade für alte Menschen zu einer existenziellen Frage. Dürreperioden lassen Energie und Wasser knapp werden. Extremwetter und Fluten fordern auch in Europa immer mehr Opfer. Die Gefahr von Pandemien und neuen Krankheitserregern nimmt zu. Inzwischen steht die Klimakrise im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Das betrifft die beginnenden Verteilungskämpfe der Klimaanpassung, aber mehr noch den Kampf für den notwendigen radikalen Umbau von Ökonomie und Infrastruktur. Dieser wird ein zentrales Kampffeld der nächsten Jahre und Jahrzehnte sein.
Die Gesellschaft, ja selbst die Individuen sind gespalten. Ein großer Teil der Gesellschaft befürwortet grundsätzlich eine konsequente Bekämpfung der Klimakrise, wie unter anderem die Massendemonstrationen von Fridays for Future unter Beweis gestellt haben. Unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen gerät diese Position aber in Konkurrenz zu sozialen Interessen und stellt die Fortsetzung der etablierten Lebensweise infrage. Wer trägt die Kosten für die Dämmung von Gebäuden oder den Ersatz von Gas- und Ölheizungen durch Wärmepumpen oder Fernwärme? Können Busse und Bahnen unsere Mobilität sicherstellen, wenn das private Auto verschwinden muss? Kann der Gewinn an Zeit und Lebensqualität den Verlust an Konsumgütern aufwiegen? Diese Fragen stellen sich noch verschärft für die Beschäftigten in den fossilen Industrien, also z.B. in der Automobilproduktion und der Zuliefererindustrie. Viele ihrer Arbeitsplätze werden in einem ökologischen Strukturwandel unvermeidlich wegfallen. Gerade weil diese Jobs bisher überdurchschnittlich gut bezahlt und sicher waren, haben die Abstiegsängste der hier Beschäftigten eine reale Basis.
Eine gesellschaftliche Massenbewegung gegen die kapitalistische Klimazerstörung ist dennoch möglich. Dafür braucht es eine klassenkämpferische Zuspitzung, die die Verursacher*innen und Hauptverantwortlichen für die Klimakrise angreift. Anstatt die notwendige ökologische Konversion und Arbeitsplatzverluste im industriellen Sektor zu verweigern, müssen wir fordern und durchsetzen, dass die Kosten dafür vom fossilen Kapital und den Reichen getragen werden.
Es gibt nicht nur die Ängste vor Abstieg und Veränderung, sondern genauso ein Begehren nach einer anderen Lebensweise. Viele wünschen sich Straßen und Städte, die nicht von Autos verstopft und ihren Abgasen vergiftet werden. Sie wollen ihre Arbeitszeit verkürzen, um selbstbestimmte Sorgearbeit leisten zu können, um Gemeinschaftlichkeit zu erleben und ihr Leben zu entschleunigen. Daraus kann eine alternative Idee vom guten Leben entwickelt werden. Eine solche radikale sozial-ökologische Transformation knüpft an den längerfristigen Interessen der Mehrheit der Menschen an. Aber dieser gesellschaftliche Gegenentwurf ist kein Wohlfühlprogramm: Angesichts der Klimakrise erfordert seine Durchsetzung die antagonistische Zuspitzung des Kampfes gegen das fossile Kapital und seine politischen Verbündeten. Eine lebenswerte Zukunft wird uns nicht geschenkt werden.
Der globale Kapitalismus und seine imperiale Weltordnung beruhen seit Jahrhunderten auf der Ausplünderung und Unterwerfung der Menschen im Globalen Süden. Ihre Lebensgrundlagen wurden dabei systematisch untergraben und zerstört. Die permanenten Krisen der Gegenwart – allen voran die Klimakrise, aber auch die Zunahme geopolitischer Konflikte und Kriege – verschärfen diese Situation nochmals. Millionen sind auf der Flucht, globale und regionale Migrationsbewegungen nehmen zu. Doch die Menschen, die auf oft lebensgefährlichen Wegen Grenzen überwinden, sind nicht nur Opfer: Indem sie um ihre Teilhabe am globalen gesellschaftlichen Reichtum und um ihr Recht auf ein sicheres Leben kämpfen, stellen die Bewegungen der Migration die bestehende Ordnung praktisch infrage.
Die eskalierende, oft tödliche Gewalt an den Grenzen Europas soll diese falsche Ordnung und die ungleiche Verteilung des Reichtums verteidigen. Aber die kapitalistische Wirtschaft der Länder des Nordens ist auf immer neue Arbeitskräfte angewiesen. Im Ergebnis entsteht ein komplexes und widersprüchliches System von Abschottung, Entrechtung, Kontrolle und Ausbeutung, das maßgeblich entlang rassistischer Kategorien organisiert ist. Gleichzeitig ist Migration die „Mutter aller Gesellschaften“ und die Einwanderungsgesellschaft auch in Deutschland eine Realität, die nicht mehr geleugnet werden kann. Daraus sind hierzulande mindestens zwei Konfliktfelder entstanden, auf denen Risse und Bruchlinien der Herrschaft sichtbar werden.
Erstens führt der Ausbau der Festung Europa – von Frontex bis hin zum Abschiebeknast vor der eigenen Haustür – dazu, dass sich das politische Spektrum neu sortiert. Linksliberale und vermeintlich progressive Parteien und Akteur*innen übernehmen immer mehr rechte Positionen und setzen sie praktisch um. Gerade hier klafft zwischen der humanistischen Rhetorik und der Realität der Entmenschlichung an den Grenzen ein riesiger Widerspruch. Diese Politik baut auf einem Angstbündnis mit großen Teilen der Mehrheitsbevölkerung auf. Viele Menschen glauben irrtümlich, die Abwehr von Migration könne drohende Einschränkungen des eigenen Lebensstandards abmildern – und nehmen für diese Illusion der eigenen Sicherheit und des eigenen Wohlstands die Gewalt gegen die „Anderen“ und ihren Tod billigend in Kauf. Oft scheinen die Verteidiger*innen der universellen Gültigkeit von Menschenrechten und des Rechts auf globale Bewegungsfreiheit demgegenüber in der Minderheit zu sein. Doch diese Aufteilung ist weder eindeutig noch stabil. Es gibt Chancen für neue Allianzen und neue Kämpfe. Wir wollen sie offensiv führen – gemeinsam mit allen, die sich von der Doppelmoral „westlicher“, „europäischer“ oder „grüner“ Werte entfremdet haben, die sich lokal gegen Abschiebung und Entrechtung einsetzen oder die sich als betroffene Geflüchtete selbst organisiert haben. Sie alle sind bereit für den Konflikt mit der Festung Europa.
Zweitens ist es der gesellschaftliche Rassismus selbst, der immer neue Widersprüche, Konfliktfelder und Kämpfe entstehen lässt. Ob institutioneller Rassismus auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, rassistische Polizeigewalt, rechte Hetze in den Medien, Übergriffe und Anschläge oder der ganz alltägliche Rassismus: Zuschreibungen, Diskriminierungen, Ausschluss, Bedrohung und Gewalt bleiben für viele Menschen hierzulande Alltag. Daran hat auch die öffentliche Bestürzung nach den tödlichen Angriffen von Hanau nichts geändert. Die weiße Dominanzgesellschaft und ihre Parteien machen die Einwander*innen, die Bewohner*innen der migrantisch geprägten Viertel der Großstädte und/oder die Muslim*innen für alle gesellschaftliche Probleme verantwortlich.
Gleichzeitig würde die gesellschaftliche Produktion und Reproduktion hierzulande ohne die Arbeit migrantisierter Arbeiter*innen zusammenbrechen. Sei es in der Pflege, Landwirtschaft, Logistik oder der aufstrebenden Plattform-Ökonomie: Gerade in diesen Bereichen mit hoher Arbeitsbelastung und prekären Beschäftigungsverhältnissen ist der Anteil migrantisierter Arbeiter*innen besonders hoch. Es ist kein Zufall, dass gerade in diesen Bereichen der Wirtschaft neue Streik- und Protestformen entstanden sind und sich ein zunehmendes kollektives politisches Selbstbewusstsein von Beschäftigten entwickelt hat. In diesen Auseinandersetzungen überschneiden sich Klassenkämpfe und antirassistische Kämpfe. Hier, genauso wie in den Kämpfen gegen alltäglichen Rassismus und rassistische Gewalt, sehen wir eine weitere Bruchlinie, die es zu vertiefen gilt, indem wir selbstbewusst und kompromisslos gegen Rassismus, Ausbeutung und für eine solidarische Migrationsgesellschaft kämpfen.
Im neoliberalen Kapitalismus von heute lassen sich zwei konkurrierende politische Projekte beobachten. Sie ringen um Hegemonie und Vorherrschaft. Auf den ersten Blick scheinen ihre Pläne zur Bearbeitung der globalen Vielfachkrise komplett unterschiedlich, ihre Wertvorstellungen diametral entgegengesetzt zu sein. Das bürgerlich-liberale Hoffnungsprojekt einer „grünen“ Modernisierung steht gegen ein offen autoritäres, manchmal faschistisches Projekt der fossilen Rückwärtsgewandtheit. Die einen wollen mit einem neuen Akkumulationsregime, also mit neuen Technologien, veränderten Produktionsweisen und flexiblen Arbeitsverhältnissen den Kapitalismus modernisieren, um ihn mit Migrationsgesellschaft und Klimaschutz zu versöhnen. Die anderen halten stur an der alten Industriegesellschaft fest und wollen gesellschaftspolitisch die Uhr um Jahrzehnte zurückdrehen. Die ungleiche Verteilung der Produktionsmittel und Ressourcen zwischen Nord und Süd, Staatsbürger*innen und Zugewanderten sowie zwischen den Geschlechtern wird von ihnen aggressiv verteidigt.
Auf den zweiten Blick zeigen sich große Schnittmengen zwischen diesen beiden Hegemonieprojekten. Beide wollen die kapitalistische Produktions- und Lebensweise erhalten, ebenso die globalen imperialistischen Ausbeutungsverhältnisse. Beide knüpfen in unterschiedlicher Form an den Neoliberalismus an. Die Übergänge sind fließend und manche Akteur*innen schwer zuzuordnen.
Als Ergebnis der starken rechten Formierung der letzten Jahre zeichnet sich ein modernisierter Festungskapitalismus als Kompromiss zwischen den beiden kapitalistischen Hegemonieprojekten ab. Dieser grenzt sich aggressiv nach außen ab und greift nach innen zunehmend auf eine autoritäre Form der Politik zurück. Gleichzeitig gibt es weiterhin Zugeständnisse an eine liberale Lebensweise und die Spielregeln der parlamentarischen Demokratie bestehen fort. Es deutet sich eine Gesellschaft an, die gerade so viel Klimaschutz und Modernisierung unternimmt, wie es ohne großen Widerstand des fossilen Kapitals und seiner Gefolgsleute machbar ist.
Gegenwärtig fehlt ein starker linker Block, der in dieses Kräfteverhältnis eingreifen kann – aber das muss und darf so nicht bleiben. Um wirksam eingreifen zu können, brauchen wir ein Verständnis der Gemeinsamkeiten und der Unterschiede zwischen dem vermeintlich grün-progressiven und dem reaktionären Projekt.
Das Projekt eines „grünen Kapitalismus“ verspricht, die Klimakrise durch ökologische Modernisierung erfolgreich zu lösen und gleichzeitig neue Profitmöglichkeiten zu eröffnen. So könnten die kapitalistische Produktions- und Lebensweise langfristig aufrechterhalten und die ökologischen Lebensgrundlagen bewahrt werden. Kern dieses falschen Versprechens ist es, durch technischen Fortschritt und ökologischen Strukturwandel das Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch zu entkoppeln. Das Projekt einer grünen Modernisierung muss die Ursachen und Folgen der Klimakrise also nicht ignorieren oder ganz leugnen, so wie es das rechte Projekt macht. Aus diesem Grund unterstützen internationale Institutionen wie die UN, WTO oder EU überwiegend diese Perspektive.
In den kapitalistischen Zentren Westeuropas und Nordamerikas ist das Projekt einer grünen Modernisierung eng mit dem „progressiven“ Neoliberalismus verbunden. Zustimmung wird vor allem durch Anerkennungspolitiken hergestellt, die Teile der Forderungen aus sozialen Bewegungen aufgreifen, aber diese so abschwächen und uminterpretieren, dass sie mit der kapitalistischen Verwertungslogik vereinbar sind. Ein solchermaßen modernisierter Kapitalismus inszeniert sich als Verteidiger individueller Freiheitsrechte und liberaler Werte, die eine zentrale Rolle für das Selbstverständnis eines grün-progressiven Blocks einnehmen.
Doch die Rettung der kapitalistischen Fortschrittserzählung ins 21. Jahrhundert kann in der Praxis nicht aufgehen: Ein System, das grundlegend auf der Maximierung von Profit und permanentem Wachstum aufgebaut ist, muss auch die natürlichen Ressourcen der privaten Verfügungsgewalt unterwerfen. Ökologische und planetare Grenzen kann es nicht respektieren. Die Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch bleibt eine theoretische Vorstellung, die keiner empirischen Überprüfung standhält. Einen tatsächlich grünen Kapitalismus gibt es nicht und kann es nicht geben.
Auch die Verteidigung liberaler Werte und die progressive Inszenierung in diesem Projekt bleiben hohl. Denn Kapitalismus und imperiale Lebensweise lassen sich nicht ohne Abschottung, rassistische Ungleichbehandlung, Aufrüstung und Repression aufrechterhalten. Das gilt vor dem Hintergrund der bereits unabwendbaren Folgen der Klimakrise umso mehr.
Das gegenwärtige Versagen der Ampel an den minimalen eigenen Ansprüchen belegt dies deutlich. Kleinen Verbesserungen, die nichts kosten, wie die Abschaffung des §219a, also die Streichung des Werbeverbots für Abtreibungen, oder halbherzigen Liberalisierungen beim Staatsangehörigkeitsrecht steht eine Praxis von Abschottung, Sozialabbau und Großmachtpolitik gegenüber. Versteckt hinter Phrasen wie „europäische Solidarität“ wird das Asylrecht ausgehöhlt. Von der „feministischen Außenpolitik“ bleibt kaum mehr als Waffendeals mit Diktaturen übrig. Die Klimaziele werden Jahr für Jahr verfehlt, die fossile Infrastruktur sogar noch ausgebaut.
Alle Hoffnungen in eine grüne Modernisierung des Kapitalismus sind also vergeblich. Eine tatsächliche sozial-ökologische Transformation kommt nicht von oben, sondern muss antikapitalistisch sein.
Konservative und Marktradikale, Rechte bis hin zu faschistischen Kräften haben sich – je nach Land in unterschiedlichen Konstellationen – zu einem eigenständigen rechten Projekt formiert, das mit dem progressiv-grünen Projekt erbittert um die Hegemonie ringt. In Deutschland hat diese Entwicklung verzögert eingesetzt, ist jetzt aber mit den Wahlerfolgen der AfD und dem Rechtsschwenk der CDU unter Merz voll angekommen.
Das rechte Projekt verspricht trotz der multiplen Krisen und der zunehmenden Unsicherheit, dass durch eine Mischung aus Abschottung, Klimaleugnung und der Verteidigung patriarchaler Privilegien alles so bleiben kann, wie es ist. Für dieses falsche Versprechen von Stabilität werden die – in der Bevölkerung seit jeher vorhandenen – rassistischen, sexistischen, antisemitischen und queerfeindlichen Haltungen gezielt mobilisiert und radikalisiert. In den klassischen und in den sozialen Medien inszenieren sich die Rechten als angeblich widerständige Stimme. Dabei hilft ihnen, dass große Teile der Medien- und Parteienlandschaft die rechten Narrative aufnehmen und ihre menschenfeindlichen Positionen dadurch normalisieren.
Nach dem Sommer der Migration 2015 stand vor allem die rassistische Hetze im Vordergrund der rechten Agitation. In den letzten Jahren gewinnt zusätzlich ein antifeministischer und queerfeindlicher „Kulturkampf“ an Bedeutung. In diesem Versuch, die progressiven, gesellschaftspolitischen Errungenschaften nach 1968 zurückzudrehen, werden auch antisemitische Untertöne immer lauter. So konnte über Interessensgegensätze hinweg ein rechter gesellschaftlicher Block geschaffen und verbreitert werden.
In Deutschland ist es die AfD, die für die Organisierung dieses rechten Blocks die zentrale Rolle einnimmt. Sie konnte sich als rechte Partei mit fester Wähler*innenschaft etablieren, die Finanzierung rechter Strukturen ausweiten und für eine Vernetzung der Rechten auf nationaler wie internationaler Ebene sorgen. Die AfD ist ein Sammelbecken für extrem rechte Akteur*innen und eine Schnittstelle zu aktivistisch agierenden offenen Neonazis. Gleichzeitig werden die Übergänge zu Teilen der etablierten konservativen Parteien und Medien immer fließender. Die Wahrscheinlichkeit parlamentarischer Bündnisse bis hin zu Regierungsbeteiligung wächst.
Neoliberale und Rechte teilen nicht nur einzelne ideologische Vorstellungen und ihre Zusammenarbeit geht über zeitweise Bündnisse hinaus. Das zeigte sich besonders deutlich an den coronaleugnenden Querdenker*innen. Hier spitzt sich die neoliberale Ideologie autoritär zu: Ich-Bezogenheit und individualistisch verstandene Freiheit führen zu Aggression gegen jede kollektive Solidarität. So haben der diffuse Zusammenschluss von autoritären Libertären und Schwurbler*innen die Basis für das rechte Projekt erweitert. Hinzukommen religiöse Fundamentalist*innen, die ihre Strukturen in den letzten Jahren stark ausbauen konnten und vermehrt Bündnisse mit Teilen des rechten Blocks eingehen.
Die Gefahr, die von diesem rechts-autoritären Projekt ausgeht, beginnt lange vor einer Regierungsbeteiligung der AfD. Die rassistischen, antisemitischen, misogynen, queer- und transfeindlichen Gewaltfantasien bleiben nicht im virtuellen Raum der sozialen Medien, sondern führen zu realer, oft tödlicher Gewalt. Dies haben die Mordanschläge von Halle 2019 und Hanau 2020 deutlich gezeigt. Polizei, Geheimdienste und Militär bleiben ein Anziehungspunkt für rechts-autoritäre Charaktere. Sie sind Brutstätten für Rassismus und Naziterrorismus. Im nie konsequent entnazifizierten Sicherheitsapparat der BRD existieren bis heute rechte Netzwerke, von denen eine große Gefahr insbesondere für migrantisierte Menschen ausgeht. Auf den Staat ist daher bei der Bekämpfung rechter Strukturen kein Verlass. Von allein handelt er nur vereinzelt oder wenn er sein Gewaltmonopol gefährdet sieht. Zu allem anderen müsste eine starke antifaschistische Bewegung ihn zwingen.
Der selbstgerechten Darstellung Deutschlands als ein Land, das aus der Geschichte gelernt habe und heute geläutert sei, zum Trotz: Der Antisemitismus kommt aus der „Mitte der Gesellschaft“, er ist weder Vergangenheit noch Einzelfall und auch kein durch Migration importiertes Problem. Antisemitische Verschwörungserzählungen bilden ideologische Brücken von extremen Rechten zu sogenannten Querdenker*innen, von Reaktionären bis zu Teilen der Friedensbewegung.
Gerade in Ostdeutschland sind rechte und faschistische Strukturen, Parteien und Personen tief in der Gesellschaft verankert, während eine (links-)liberale Zivilgesellschaft oft kaum existiert. Hier droht eine regionale rechte Hegemonie, in vielen Gegenden ist sie bereits Wirklichkeit. Eine Erklärung hierfür sind die Abstiegs- und Entwertungserfahrungen, die viele DDR-Bürger*innen in den Jahren nach 1989 gemacht haben. Hieran konnte die extreme Rechte mit einer gezielten Ostpolitik geschickt anknüpfen. Der staatliche Antifaschismus der DDR war auf andere Weise genauso oberflächlich wie die Vergangenheitsbewältigung im Westen. Unter der Oberfläche von Sozialismus und Internationalismus lebten Rassismus und Autoritarismus weiter. Nach dem Zusammenbruch der DDR gab es eine nachvollziehbare Skepsis gegenüber linken Positionen und Organisationen. Auch deshalb hatten die Rechten in Ostdeutschland relativ leichtes Spiel. Heute müssen wir diese Besonderheiten in der Strategie und Praxis unserer antifaschistischen Politik berücksichtigen.
Die Gefahr durch den rechts- autoritären Block ist also akut und real. Dagegen sind breite, antifaschistische Bündnisse notwendig. Zugleich ist das grün-progressive Projekt selbst Teil des Problems, weil es sich von den Rechten treiben lässt. Wirksamer Antifaschismus funktioniert auf Dauer nur mit einer linken, antikapitalistischen Perspektive.
Die Lage der Linken ist widersprüchlich: Es gibt immer wieder beeindruckende Mobilisierungen der Klimagerechtigkeitsbewegung, von Black Lives Matter, Migrantifa, von Deutsche Wohnen und Co. enteignen oder gegen die AfD. Es werden mehr junge Menschen von feministischen, antirassistischen, ökologischen und anderen linken Kämpfen geprägt, als wir vor wenigen Jahren noch gehofft hätten. Gleichzeitig bleiben diese Bewegungen oft punktuell, entwickeln nur kurzfristige Verschiebungen im Diskurs und können ihre konkreten Anliegen nur selten durchsetzen. Vor allem ändern sie nichts an der Strategielosigkeit und Handlungsschwäche linker und linksradikaler Organisationen.
Die Corona-Pandemie mit der allgegenwärtigen Ansteckungsgefahr, den Lockdowns und Einschränkungen im Versammlungsrecht hat viele Menschen davon abgehalten, für Protest und Widerstand auf die Straße zu gehen. Wie die gesamte Gesellschaft, so haben auch unsere eigenen Strukturen und die unserer Bündnispartner*innen unter den Bedingungen der sozialen Isolation gelitten. Die neoliberale Vereinzelung der Menschen hat sich dadurch noch verschärft. Zugleich haben sich in der Corona-Krise tiefe Widersprüche in der gesellschaftlichen und radikalen Linken aufgetan, die gemeinsame Positionen und wirksame praktische Interventionen verhindert haben.
Ähnliche Ratlosigkeit und Widersprüche zeigen sich in der Bewertung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und der folgenden Inflations- und Energiekrise. Wie sieht eine antimilitaristische Haltung aus, die antagonistisch zum deutschen und westlichen Militarismus bleibt, ohne den aggressiven russischen Imperialismus zu leugnen oder unwillentlich zu unterstützen? Wem gilt unsere Solidarität und was heißt das zum Beispiel für unsere Position zu Waffenlieferungen? Wie bringen wir die Forderungen nach bezahlbarer Energie und die Notwendigkeit eines radikalen Klimaschutzes unter einen Hut? Zu diesen Fragen hat auch die IL viel gestritten und zu wenige Antworten gefunden.
Die Spaltung der Linkspartei ist Folge und schärfster Ausdruck der Widersprüche in der gesellschaftlichen Linken. Zwischen den nationalistischen und vulgär-antiimperialistischen Provokationen und bräsigem Reformismus hatten es die emanzipatorischen Kräfte in der Partei immer schwerer. Mit der nun vollzogenen Trennung gibt es möglicherweise Chancen für einen bewegungsorientierten Neustart. Für die IL war die Linkspartei stets wichtige, strategische Bündnispartnerin, aber nie ein Feld politischer Intervention. Unser Projekt ist die eigenständige linksradikale Organisierung und wird es bleiben.
Gewerkschaften und Verbände haben sich in den vergangenen Jahren zwar in Richtung sozialer Bewegungen geöffnet und zum Beispiel mit Teilen der Klimagerechtigkeitsbewegung die Zusammenarbeit gesucht. Insgesamt bleiben sie aber in ihren etablierten, sozialpartnerschaftlich orientierten Bahnen. Sie sind damit punktuelle Partner*innen für Bündnisse und Zusammenarbeit, fallen als Motor für radikale Veränderungen aber weitgehend aus.
In der radikalen Linken haben in den letzten Jahren zwei Formen der Politisierung besonderen Zulauf. Erstens ist das eine machtkritische Identitätspolitik. Sie beschäftigt sich mit den vielfältigen Dimensionen von Diskriminierung, allen voran Rassismus, Patriarchat sowie Queer- und Transfeindlichkeit. Wichtig sind dabei vor allem die eigene Positionierung und das individuelle moralisch richtige Verhalten. Diese Politik hat dadurch häufig einen Anleitungscharakter, schafft aber wenig kollektive Handlungsansätze zur gemeinsamen Überwindung der Gewaltverhältnisse.
Zweitens ist – in unterschiedlicher regionaler Stärke – eine Vielzahl „roter Gruppen“ entstanden. Sie bedienen das verbreitete Bedürfnis nach politischer Orientierung und ideologischer Eindeutigkeit. In ihrem dogmatischen Marxismus-Leninismus stehen das Wachstum der eigenen Organisation und ein radikaler Habitus im Vordergrund. Die Vielfalt der revolutionären Linken und der Bewegungen sehen sie nicht als Chance, sondern vor allem als Problem, das es durch Vereinheitlichung und die richtige Ideologie zu überwinden gilt. Folgerichtig treten sie oft als homogener Block auf und kopieren in Ideologie und Ästhetik ihre revolutionären Vorbilder der 1920er Jahre. Ihre Bündnispolitik bleibt meist punktuell und instrumentell.
Der Identitätspolitik und den „roten Gruppen“ gemeinsam ist, dass sie Orientierung und vermeintliche Klarheit für die diffusen Herausforderungen der Gegenwart anbieten. Beide Richtungen erteilen – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – der Suche nach dem Gemeinsamen eine Absage, was die gleichwohl notwendigen Bündnisse oft schwierig macht.
Parallel zu diesen Entwicklungen innerhalb der gesellschaftlichen Linken findet der Kampf um Aufmerksamkeit und politische Positionen zunehmend in den sozialen Medien statt. Einige wenige linke Publizist*innen und Influencer*innen nutzen das virtuelle Kampffeld, um Impulse zur Politisierung zu setzen. Sie bieten Identifikationsmöglichkeiten und verhelfen marginalisierten Positionen zu mehr Sichtbarkeit. Gleichzeitig stellen die Flüchtigkeit, der Individualismus und die oft verkürzten Debatten in sozialen Medien Grenzen für kollektive Veränderungsprozesse dar. Bisher tun sich große Teile der organisierten Linken schwer mit Plattformen, auf denen lange Texte und anonyme Gruppen so schlecht funktionieren. Dieser Herausforderung wollen wir uns stellen, indem wir mehr eigene Kanäle und Formate entwickeln, die eine Balance zwischen kollektivem Sprechen und notwendiger Personalisierung finden. Dabei werden wir nicht vergessen, dass am Ende nicht der virtuelle Raum entscheidet, sondern die ganz reale Straße.
Die großen Fragen liegen also auf dem Tisch: Wie müssen wir angesichts der multiplen Krisen die Strategien der gesellschaftlichen und der radikalen Linken neu formulieren? Wie identifizieren wir nicht nur Konfliktfelder, sondern werden in ihnen handlungsfähig? Wie aktualisieren wir unsere Taktiken und Aktionsformen? Was fehlt, damit Mobilisierungserfolge auch zu materiellen Erfolgen führen? Was sind kollektive Organisationsformen für das 21. Jahrhundert? Kurz: Wie bauen wir gesellschaftliche Gegenmacht auf?