In den Kämpfen der letzten Jahre haben wir vor allem diskursive Erfolge erzielt. Linken Kräften ist es gelungen, die Zustimmung zu kritischen und progressiven Positionen in vielen gesellschaftlichen Bereichen zu vergrößern. Damit konnten wir einzelne Zugeständnisse abringen, wie die Streichung des §219a. Gleichzeitig blieben materielle Erfolge meist aus, echte Gegenmacht entstand kaum. Statt kleine Brüche zu erzeugen, werden Schlagworte unserer Kämpfe vom vermeintlich grünen Modernisierungsprojekt symbolisch aufgenommen und vereinnahmt. Der weltweite Aufstieg der Rechten zeigt, wie bereitwillig diese Zugeständnisse zur Disposition gestellt werden, um die herrschende Ordnung zu stabilisieren. Umso mehr müssen wir daher die Fähigkeit entwickeln, Erfolge gegen Angriffe zu verteidigen.
In diesem Sinne wollen wir aus einer radikalen Minderheitenposition heraus kurzfristige Handlungsfähigkeit mit der langfristigen Organisation von Gegenmacht verknüpfen, die nicht symbolisch und appellativ bleibt. Diskursive Verschiebungen bleiben ein relevanter Teil unserer Praxis. Sie müssen sich aber daran bemessen lassen, inwieweit sie das Potenzial für kleine Brüche stärken und reale Veränderungen bewirken. Wir müssen die organisierenden und unterbrechenden Elemente von Gegenmacht systematisch ausweiten, wenn wir ein linkes Hegemonieprojekt voranbringen wollen. Nur dann können wir Veränderungen auch erzwingen. In der Vergangenheit standen unsere Ansätze oft unverbunden nebeneinander. Immer wieder taten sich Spannungsfelder auf: zwischen dem Gewinnen von Mehrheiten und dem Kämpfen als radikale Minderheit, zwischen Verankerung und der Notwendigkeit zur Zuspitzung, zwischen Rebellion und Transformation. In Zukunft müssen wir unsere Ansätze also besser als bisher in ein sinnvolles Verhältnis zueinander setzen.
Für die Bestimmung dieses Verhältnisses brauchen wir produktiven Streit, innerhalb und außerhalb unserer Organisierung. In den folgenden Abschnitten aktualisieren wir deshalb unsere strategischen und taktischen Orientierungen. Im Zwischenstandspapier von 2014 haben wir diese zum ersten Mal aufgeschrieben. Einige Ansätze sind weiterhin gültig, andere sind neu hinzugekommen oder haben in unserer Organisierung an Relevanz gewonnen. Aus dieser Aktualisierung ist kein fertiges Programm geworden, sondern eine Mischung aus Auswertung, neuen Vereinbarungen, Herausforderungen und der gemeinsamen Suche nach Antworten auf offene Fragen.
Der Kampf für eine solidarische Zukunft muss gemeinsam geführt werden, auf vielfältige Art und Weise. Nur im Zusammenspiel verschiedener linker Kräfte in einem gesellschaftlichen Block werden wir in der Lage sein, Kräfteverhältnisse zu verschieben und Machtfragen erfolgreich zu stellen. Davon sind wir weit entfernt. Um diesen Block zukünftig zu schaffen, sind wir in einer Vielzahl von Bewegungen und Kämpfen aktiv, oft in der Form von Bündnissen. In den letzten Jahren hat sich der Charakter dieser Bündnisse verändert. Aus klassischen Gipfelbündnissen oder Bündnissen gegen Rechts, die vor allem aus Delegierten von organisierten Akteur*innen bestanden, sind Mischformen mit vielen Einzelpersonen und wenigen Organisationen geworden. Dafür gibt es verschiedene Gründe, die teils ineinandergreifen und sich wechselseitig verstärken. Etablierte Akteur*innen der gesellschaftlichen Linken sind in weiten Teilen deutlich geschwächt. Dies trifft auf politische Subjekte, die sich eher kurzfristig und individuell engagieren statt langfristig und kollektiv. Auch als Reaktion darauf haben sich andere organisierte Zusammenhänge herausgebildet, die nur ein geringes Interesse am Aufbau breiter Bündnisse zeigen. Das fordert unsere Bündnispraxis heraus.
Diese Bündnispraxis hat sich in der Vergangenheit oft auf zuspitzende Kampagnen fokussiert. Uns ist es schwergefallen, darüber hinaus Strukturen und Orte der Solidarität zu schaffen, die kurzfristige Mobilisierungshochs überdauern. Langfristige Organisierung, die auch materielle Interessen stärker einbezieht, und die Schaffung tragfähiger (Infra-)Strukturen haben für uns im Aufbau von Gegenmacht an Bedeutung gewonnen. Um Kämpfe zusammenzuführen und zu beschleunigen, braucht es jedoch weiterhin Momente der Zuspitzung. Diese Momente können in vorbereiteten Kampagnen angelegt sein, sich aber auch in Gelegenheiten auftun, die mutige Interventionen verlangen. Diese spontane Handlungsfähigkeit zu stärken und sich gleichzeitig langfristig zu verankern, ist das Spannungsfeld, in dem wir uns dabei bewegen.
In den letzten zehn Jahren ist es uns auf lokaler und überregionaler Ebene immer wieder gelungen, breite Bündnisse aufzubauen oder Teil von ihnen zu sein. Unseren Anspruch, verschiedene Akteur*innen zusammenzubringen und Knotenpunkt eines breiten Spektrums linker Akteur*innen zu sein, konnten wir immer wieder umsetzen. So konnten wir im Zusammenspiel verschiedener linker Kräfte wirkungsvolle Interventionen wie Blockupy oder Unteilbar organisieren. Die strategische Bündnisorientierung wird aber durch gesellschaftliche Entwicklungen und die Neuordnung innerhalb der gesellschaftlichen Linken komplizierter und herausfordernder.
Selbstkritisch müssen wir feststellen, dass wir in Bündnissen aus etablierten Akteur*innen zu häufig eine Projektmanager*innen-Rolle eingenommen haben: Wir sind oft mehr damit beschäftigt, die Bündnisse am Laufen zu halten, anstatt sinnvoll politisch zu intervenieren und linksradikale Politik auf die Straße zu tragen. Immer häufiger sind wir in Bündnissen die einzige linksradikale Gruppe. Zivilgesellschaftliche Akteur*innen sind während der multiplen Krisen weggebrochen. Andere Bündnispartner*innen haben sich zurückgezogen, wurden teils in das grüne Herrschaftsprojekt integriert oder verfolgen eine andere Bündnispolitik.
Neue Politisierungs- und Organisierungsangebote verfolgen häufig eine andere Bündnispolitik. So ist es für die erstarkenden „roten Gruppen“ wichtiger, Kämpfe anzuführen, als verschiedene Akteur*innen in ihrer Gesamtheit zu stärken. Sie konzentrieren sich auf die Selbstvergewisserung als radikale Kraft, indem sie sich von moderateren linken Kräften abgrenzen und sich vermeintlich zur Klasse hinwenden. Neben mangelnder Kompromissbereitschaft haben wir die Erfahrung gemacht, dass sie Bündnisse vor allem dann eingehen, wenn sie diese dominieren können. Die andere Tendenz sind identitätspolitisch-machtkritische Kontexte, die zum Teil nicht willens oder in der Lage sind, politische Differenzen auszuhandeln. Andere politische Positionen werden nur als unreflektiert und moralisch problematisch wahrgenommen.
Diese Differenz zwischen den „roten Gruppen“ und den identitätspolitischen Zusammenhängen wurde rund um die Bemühungen zur Organisation des Feministischen Streiks sichtbar. Sie begleitet uns aber auch in anderen Kämpfen. Unter diesen veränderten Bedingungen erneuern wir das Versprechen unseres politischen Ansatzes: Wir treten für eine plurale Linke ein, die ihren Ausgangspunkt in der Lebendigkeit der Bewegungen als gesellschaftsverändernde Kraft hat. Sie findet in gemeinsamen Kämpfen zusammen, statt Bewegungen zu vereinnahmen und für das eigene Organisationsinteresse zu instrumentalisieren.
Unsere Bündnispraxis wird auch durch Verschiebungen innerhalb der Herrschenden verkompliziert. Grüne und (Umwelt-)NGOs haben sich weitgehend dem Projekt des modernisierten Festungskapitalismus verschrieben. Damit sind sie in einigen Praxisfeldern zum politischen Gegner geworden. Es gilt, wie beispielsweise in Lützerath, die Brüche innerhalb dieses Blocks zu vertiefen und seine soziale Basis nicht aufzugeben. Andere Organisationen wie die Gewerkschaften zeigen sich zwar offener für soziale Bewegungen, sind aber selbst tendenziell in den Verteilungskämpfen der ökonomischen Transformation gefangen und sehen ihre eigene Macht schwinden.
Auch in Zukunft wird Bündnisarbeit ein wesentlicher Teil unserer Praxis sein. Insbesondere im Osten und im ländlichen Raum ist linke Politik nicht ohne sie zu denken. Angesichts des Aufstiegs der Rechten wird es überlebensnotwendig sein, sich in strategischen Bündnissen zusammenzufinden. Hier müssen wir die Fähigkeit entwickeln, Erfolge gegen reaktionäre Angriffe abzusichern und darüber hinausgehende Verschlimmerungen zu verhindern. In Zukunft wollen wir jedoch genauer prüfen, welchen Nutzen die konkrete Bündnispraxis erfüllt und uns im Zweifel zurückziehen, bevor sie zum Selbstzweck wird. Gleichzeitig entstehen in den multiplen Krisen neue Betroffenheiten – ob von Armut, Dürre oder auf der Flucht vor Krieg. Klassische Bündnisse kommen hier an ihre Grenzen. Wir sind auf der Suche nach Bündnis- und Organisationsformen, die Betroffene und solidarische Menschen zusammenbringen und einbeziehen.
In der Bündnisarbeit haben wir es immer weniger mit delegierten Gruppenvertreter*innen und immer mehr mit Einzelpersonen zu tun. Diese Entwicklung hat sich über die Jahre zu einer eigenständigen politischen Form entwickelt, die wir Kampagnenplattformen nennen. Wir haben zum Aufkommen von Plattformen wie Blockupy, Ende Gelände, dem Feministischen Streik und Deutsche Wohnen und Co. enteignen beigetragen. Unsere Politik besteht darin meist aus einer Mischung aus Organisierungs- und Bündnisarbeit. Diese politischen Räume werden oft für konkrete politische Projekte genutzt. Sie setzen keine Gruppenzugehörigkeit voraus und laden niedrigschwellig zur Mitarbeit ein. Für viele Menschen sind sie ein (erstes) Angebot, sich zu organisieren. Das ermöglicht wichtige emanzipatorische Erfahrungen, die über klassische Bündnistreffen weit hinausgehen. Auch viele unserer Genoss*innen haben sich in den letzten Jahren in diesen Kampagnenplattformen politisiert, sind dann zu uns gekommen oder haben an diesen Orten einen bedeutenden Teil ihrer politischen Arbeit geleistet. Durch diese Plattformen entsteht in unseren Kampagnen ein stärker organisierendes Moment. Das ist notwendig für den Aufbau von Gegenmacht und deshalb ein großer Gewinn. Mit und in den Kampagnenplattformen haben wir also einiges erreichen können.
Diese Plattformen fordern uns aber auch heraus. So sind zwischen Einzelpersonen, für die die Plattformen zur Erst- oder Primärorganisation werden, und Delegierten von Gruppen Konflikte angelegt. Denn das Diskutieren von Positionen, die außerhalb des Bündnisses festgelegt werden, wird eher zur Ausnahme und führt oft zu wahrgenommenen oder realen Hierarchien. Als eigenständige Organisierung werden sie auch für einige unserer Genoss*innen zum Ort, an dem strategisch diskutiert und entschieden wird. Positionen werden dann nicht mehr gemeinsam innerhalb unserer Organisation ausgearbeitet, sondern eher zur Kenntnis zurückgetragen. Dadurch verschiebt sich der Ort der politischen Bestimmung und Praxis zu den Plattformen. Dabei geht verloren, dass wir als organisierte Linksradikale nicht identisch mit den Bewegungen sind. Dieser Unterschied droht in der neuen Bündnisform zu verschwimmen.
Der offene Charakter ist Stärke und Tücke zugleich. Es ist schwierig, die vielen Aktiven, die teils unverbindlich mitarbeiten, langfristig zu halten und einzubinden. Denn die Projekte, ihre Praktiken und Strukturen haben sich anhand eines spezifischen Bewegungsmoments gebildet. Die entstandenen politischen Räume sind flüchtiger als klassische politische Organisationen. In ihnen entstehen nur teilweise belastbare und langfristige Beziehungen. Wir erkennen die Plattformen als Organisationsformen ihrer Zeit an. Sie fügen sich mit ihren geringen Ein- und Ausstiegshürden ein in größere gesellschaftliche Tendenzen. Gleichzeitig können sie die verbindliche Organisierung nicht ersetzen. Wir müssen darauf achten, dass wir über Plattformen nicht einfach unsere zukünftigen Bündnispartner*innen aufbauen und so über die Schwäche des Organisierungsgrades linker Bewegungen und die Krise der Linken hinwegtäuschen.
Darüber hinaus braucht es mehr politische Bezüge zwischen den meist monothematischen Plattformen. Notwendig sind eine übergreifende Deutung und strategische Orientierung, die sich über konkrete Verbindungen in gemeinsamen Kämpfen und Ereignissen manifestiert. Dieser Aufgabe sind wir zuletzt zu wenig gerecht geworden.
Um gesellschaftliche Gegenmacht aufzubauen, die revolutionäre Prozesse ermöglicht, müssen wir besser darin werden, langfristige linke Strukturen zu schaffen. Diese müssen unabhängig von Bewegungszyklen bestehen bleiben und unsere soziale Basis erweitern. Aus dieser Erkenntnis heraus haben wir in den letzten Jahren eine Praxis ausgeweitet, die häufig unter den Begriffen Basisarbeit oder Organizing zusammengefasst wird. Bisher sind wir hauptsächlich in Stadtteilinitiativen, Mieter*innenorganisierungen sowie in Kämpfen im Gesundheitssektor aktiv.
Ausgangspunkt hierbei sind Kämpfe, die im Alltag der Menschen verankert sind und dabei an materiellen Interessen oder einem gemeinsamen Begehren ansetzen. Die Erfahrungen mit den multiplen Krisen unserer Zeit erzeugen Widersprüche. Diese entstehen in Konflikten um (Care-)Arbeit genauso wie in Auseinandersetzungen um Grundbedürfnisse wie Wohnen, Gesundheit, Pflege und Energie oder im Kampf gegen Diskriminierung, für Selbstbestimmung und rechtliche Gleichstellung. Hier gilt es, die Bruchlinien zu Konfliktfeldern auszuweiten, in denen sich Menschen politisieren und organisieren. So kann über Selbstermächtigung und verbindliche solidarische Beziehungen gesellschaftliche Gegenmacht aufgebaut werden.
Immer mehr linksradikale Gruppen wenden sich diesem strategischen Ansatz zu. An vielen Orten sind Initiativen entstanden, die sich auf langfristige Organisierungsarbeit zum Beispiel im Stadtteil fokussieren und Kampagnenpolitik als bloße Reaktion auf Ereignisse ablehnen. Diese längerfristige Arbeit an der Basis ist als Transformationsstrategie wichtig. Sie erkämpft reale Erfolge, beweist die Umsetzbarkeit linker Ideen, schafft soziale Verankerung sowie solidarische Beziehungsweisen und zeigt eine alternative Zukunft auf. Gleichzeitig sehen wir die Gefahr, dass sozialarbeiterische Tendenzen die Oberhand gewinnen und solche Praktiken zu einer Art Schadensbegrenzung werden. Um Organisierungsprozessen Hoffnung, Perspektive und reale Durchsetzungskraft zu geben – um Brüche zu erzeugen – braucht es zuspitzende Kampagnen. Diese eröffnen Perspektiven über die Basisorganisierung hinaus und orientieren Organisierungsprozesse auf kollektiven Ungehorsam.
Ein gutes Beispiel für ein produktives Verhältnis von Kampagnen- und Organisierungsarbeit sehen wir in der Kampagne Deutsche Wohnen und Co. enteignen. Der Volksentscheid basiert auf der jahrelangen Organisierung von Mieter*innen in Häusern großer Wohnungskonzerne und damit auf einer potenziell realen Durchsetzungskraft. Gleichzeitig ist die Kampagne ein gutes Beispiel für die Herausforderungen beim Aufbau von Gegenmacht. Von Beginn an wollte die Initiative gerade auch die Organisierung von Mieter*innen weiter vorantreiben. Die stadtpolitische Bewegung in Berlin sollte auch im Falle einer Wahlniederlage organisatorisch besser dastehen als vor der Kampagne. Ihre Sichtbarkeit verdankt sie aber gerade dem Agieren in Verfahren der etablierten Politik. Ihre Popularität wäre ohne die Durchsetzungsperspektive auf staatlichem Terrain nicht denkbar gewesen. Die Situation von Deutsche Wohnen und Co. enteignen beschreibt gut auch unsere strategische Suche: Wir müssen lernen, selbst Durchsetzungsmacht aufzubauen, um von Parteien und Parlamenten unabhängiger zu werden.
Widerständige Orte, die am Alltag und den Bedürfnissen der Menschen ansetzen und trotz aller Widrigkeiten Solidarität organisieren, spielen eine wichtige Rolle beim Aufbau von Gegenmacht. In Sozialen Zentren, Mieter*innenversammlungen, Stadtteilläden oder Polikliniken wird Solidarität erfahren, gestaltet und gelebt. Im Kontrast zur sonstigen Logik der Vereinzelung, Konkurrenz und Ausgrenzung entsteht eine Ahnung von dem, was sein könnte. Im Idealfall sind diese Orte das materielle Fundament für revolutionäre Subjektivitäten und die kommende postkapitalistische Infrastruktur.
Bislang ist unsere Praxis dazu stark unterbestimmt. Aber gerade in Zeiten sich verschärfender Krisen und extremer Vereinzelung geht es darum, Orte der Solidarität zu organisieren. Die Debatten um Soziale Zentren sind im Zuge der europäischen Finanzkrise und den gelebten Beispielen in Südeuropa kurz aufgeflammt. Jenseits einzelner Debattenbeiträge rund um Keimformen und Commoning gab es aber seither wenig kollektive Verständigung. Unsere eigene Rolle im Aufbau dieser Strukturen ist nicht geklärt, obwohl wir fast überall Orte der Solidarität mitgestalten, gründen und nutzen. Wir erleben zudem häufig, dass Genoss*innen den Aufbau dieser Orte, zum Beispiel ein Projekt des Mietshäusersyndikats oder eine Poliklinik, losgelöst von ihrer politischen Praxis in unserer Organisation und zum Teil in zeitlicher Konkurrenz betreiben. Das liegt auch daran, dass den Genoss*innen in diesen detaillierten Aufbauprozessen unsere Art der strategischen Verständigung wenig nützt.
Welche Rolle spielen Orte der Solidarität in unserer Strategie? Nach welchen Kriterien gewichten wir unsere Unterstützung und wie eignen wir uns die dafür nötigen Ressourcen an? Wie verhindern wir den Rückzug in Nischenprojekte und das bloße Abfedern von sozialstaatlichem Kahlschlag? Wie können solidarische Orte gegen mächtige Interessen durchgesetzt und vor Angriffen geschützt werden? Wie ist das Verhältnis von Solidarität und Protest an diesen Orten, welche Verbindungsmöglichkeiten gibt es, die die Solidaritätsfunktion nicht aushöhlen und den Bestand der Orte möglichst wenig gefährden? Diese Fragen gilt es in den kommenden Jahren zu klären. Angesichts einer Situation der Defensive und eskalierender Krisen sind sie für die radikale Linke Fragen des (Über-)Lebens.
Die gesellschaftliche Normalität zu unterbrechen und sich ihr aktiv zu widersetzen, ist Ausgangspunkt, um Risse in den Herrschaftsverhältnissen zu vertiefen. Ungehorsam ist die Voraussetzung für eine radikale Umwälzung des Bestehenden. Wir setzen dabei auf eine Politik der Selbstermächtigung der Ausgebeuteten und Unterdrückten. Diese Politik fragt nicht nach der Legalität, sondern nach der Legitimität ihres Handelns und bestreitet damit das staatliche Gewaltmonopol. Bereits im Zwischenstandspapier haben wir festgehalten, dass uns in diesem Zusammenhang die Möglichkeit und Vermittelbarkeit des massenhaften Regelübertritts als potenzielle Radikalisierung der Vielen besonders wichtig sind. Wir haben aber auch erlebt, dass Aktionsformen an ihre Grenzen stoßen. Um in den nächsten Jahren mehr reale Gegenmacht aufbauen zu können, müssen wir diese Erfahrungen auswerten und Aktionsformen weiterentwickeln: Hat sich unsere Praxis an manchen Stellen ritualisiert? Haben wir dadurch verlernt, in offenen Situationen klar und entschlossen zu handeln? Wie können wir in den neuen Streikbewegungen reale Unterbrechung mit breitem politischem Widerstand verknüpfen und so diese Kämpfe radikalisieren?
Aktionen massenhaften Ungehorsams waren und sind zentraler Bestandteil unserer Praxis. Offen sagen, was wir tun – und tun, was wir sagen. Mut machen, widerständig und radikal zu kämpfen. Sich nicht einschüchtern lassen vom Staat und seinen Institutionen. Diesen Anspruch konnten wir einlösen: Massenhafter Ungehorsam hat sich in vielen sozialen Bewegungen etabliert und verselbstständigt. Was früher nur wenige gemacht haben, ist heute en vogue. Und das ist gut so. Gerade in der Klimagerechtigkeitsbewegung haben Massenaktionen die Bewegung radikalisiert. Sie haben Kraft gegeben und Mut gemacht, nicht aufzugeben und weiterzukämpfen, auch wenn die Eskalation der Klimakrise nicht aufgehalten werden konnte.
Die letzten Jahre haben uns aber auch Grenzen aufgezeigt. Durch die Regelmäßigkeit von Aktionen haben sich diese ritualisiert. Die Aktionen wurden kontrollierbarer und damit weniger kraftvoll. Die Diskursorientierung und der Wunsch nach möglichst breiter Anschlussfähigkeit haben die Radikalisierung und die Selbstermächtigung der Beteiligten und so die Bildung widerständiger Subjektivitäten in den Hintergrund gedrängt. Die Aktionen wurden zu großen Choreografien, die sich oft auf Sitzblockaden und deren möglichst reibungslosen Ablauf beschränkten. Diese Einschränkung unserer Aktionsfähigkeit wollen wir aufheben.
Das heißt nicht, dass Massenblockaden kein taktisches Mittel sein können. In vielen Fällen – sei es die Blockade einer Nazidemo oder eines Firmensitzes – sind sie nach wie vor eine massentaugliche und zugleich radikale Praxis. Aber in Bereichen wie der Klimagerechtigkeitsbewegung, die sich verbreitert und vergrößert und zeitweise enorme Unterstützung erfahren hat, halten wir es für notwendig, die Mittel anzupassen, um wirksamer unterbrechen zu können und weniger kontrollierbar zu sein. Mit dieser Erkenntnis sind wir nicht allein. Die Schlussfolgerungen sind jedoch sehr unterschiedlich. Einige haben zugunsten des Ziels einer maximalen Anschlussfähigkeit politische Inhalte weitestgehend entleert. Linke Gesellschaftskritik fällt unter den Tisch, Gegner werden nicht mehr benannt. Andere, wie etwa die Letzte Generation, setzen weniger auf Masse und eher auf das Moment des Unkalkulierbaren. Mit entschlossenen Aktionen einiger weniger unterbrechen sie den Alltag vieler Menschen. Sie setzen darauf, mit inszenierter Opferbereitschaft und anschließender Repression breite Teile der Bevölkerung von der Dringlichkeit der Klimakrise zu überzeugen. Die Herrschenden so zum Einlenken bewegen? Diese Wette scheint nicht aufzugehen. Hier fehlen die gleichzeitige Organisation massenhaften Rückhalts und eine politische Vermittlung, die dem Status quo eine linke Alternative entgegensetzt.
Einig sind wir uns in der Notwendigkeit, Aktionen stärker auf die unmittelbare Unterbrechung des Betriebsablaufs oder des Alltags auszurichten. Dies wird auch bedeuten, das Repertoire des massenhaften Ungehorsams wieder häufiger über Sitzblockaden hinaus zu erweitern. Die Wahl der Mittel kann dabei nicht losgelöst von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen stattfinden. Sowohl in der Wahl der Ziele als auch im Anspruch auf Legitimität ringen wir um Vermittelbarkeit. Das bedeutet aber nicht, es immer allen recht zu machen. Vielmehr muss es darum gehen, neue Verbindungen zwischen verschiedenen Aktionsniveaus und -formen zu knüpfen, dem Neuen und Unberechenbaren Raum zu geben, kämpferische Subjektivitäten auszubilden, die Radikalisierung sozialer Kämpfe voranzutreiben und auch uns selbst langfristig handlungsfähiger zu machen. Wir wollen nicht mehr nur vor dem Kraftwerk oder der Fabrik sitzen, während die kapitalistische Katastrophe weitergeht. Gemeinsam mit den Vielen gilt es zu unterbrechen, anzueignen und unschädlich zu machen.
Auf der Suche nach Rissen und Bruchlinien stoßen wir immer wieder auf Unerwartetes und Unbekanntes. Im Zeitalter der Krisen verstärkt sich diese Tendenz massiv. Die letzten Jahre haben uns einen ersten Eindruck davon vermittelt: Eine Pandemie, die unseren Alltag innerhalb weniger Tage auf den Kopf stellt und unsere politische Handlungsfähigkeit massiv einschränkt; die Klimakrise, die im Ahrtal zur realen Bedrohung wird und Fragen praktischer Solidarität aufwirft; die Wahl von Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten von Thüringen mit Stimmen der AfD als ein erster Vorgeschmack auf künftige Dammbrüche; oder neue, digital initiierte Formen der Massenmobilisierung und des Aufruhrs auf der Straße. Diese sind aktuell oft verschwörungstheoretisch und offen rechts, sind aber auch möglich als Proteste gegen schlechte Arbeitsbedingungen, steigende Energiepreise, Feminizide oder rassistische Polizeigewalt.
Für diese spontanen und dynamischen Situationen gibt es kein Patentrezept. In der Vergangenheit konnten wir mit den Entwicklungen nicht immer Schritt halten, uns nicht ausreichend verständigen, um diese Situationen als politische Gelegenheit nutzen. Zuletzt waren wir vor allem dann in der Lage, spontan zu handeln, wenn es um Abwehrkämpfe ging. Wir konnten schlimmeres verhindern, aber selten Momente nutzen, um die gesellschaftliche Linke nach vorne zu bringen. In vielen anderen Situationen wurden wir überrascht und haben uns überraschen lassen. Eine Aufgabe für die Zukunft ist es daher, stärker als bisher eine Form der entschlossenen Haltung und radikalen Subjektivität zu entwickeln, um in solchen Situationen kurzfristiger handeln zu können und zu wollen. Dazu gehören Mut, Spontanität und Überzeugung ebenso wie Fingerspitzengefühl und die Fähigkeit, Chancen und Risiken abzuwägen. Dabei können wir unsere Stärken nutzen: die Erfahrungen in Organisierungsprozessen, das gegenseitige Vertrauen, unser inhaltliches Wissen und die Vernetzung zu verschiedenen Akteur*innen. Zugleich gibt es Fragen, die gerade in offenen Situationen möglicherweise neu, auf jeden Fall aber bewusst beantwortet werden müssen: Mit wem kämpfen wir, mit welchen Mitteln tun wir dies und was bedeutet dabei Militanz? Statt hierzu vorab ideologische Antworten zu geben, bedarf es einer konkreten Analyse der konkreten Situation und der darin erreichbaren Ziele. Nur so lässt sich sinnvoll bestimmen, was mehr denn je gelten muss: Mit allen notwendigen Mitteln.
An vielen Stellen der kapitalistischen Produktion und Reproduktion, vor allem im prekären Dienstleistungssektor und der öffentlichen Daseinsvorsorge, hat sich der Widerspruch zwischen dem kapitalistischen Verwertungsdruck und den Bedürfnissen der dort Beschäftigten in den letzten Jahren zugespitzt. Insbesondere in der Pflege und im öffentlichen Nahverkehr, aber auch im Betreuungs- und Bildungsbereich, sind immer wieder kraftvolle Streiks und Proteste entstanden – die Keimformen einer neuen Streikbewegung.
Die Verweigerung von Arbeitskraft ist ein machtvoller materieller Hebel. Kämpferische, basisdemokratische Streiks von Beschäftigten können mehr sein als der reine Kampf um Löhne und Arbeitsbedingungen. Sie unterbrechen den kapitalistischen Normalbetrieb und können Raum schaffen für Kollektivität, Politisierung und Organisierung. Kämpfe können sich verbinden und praktische Solidarität entstehen lassen. Um diesen Hebel über Tarifverhandlungen hinaus zu nutzen, muss es mittelfristig darum gehen, politische Streiks als Möglichkeit durchzusetzen.
Gemeinsam mit anderen Netzwerken und Gruppen haben wir in den vergangenen Jahren Arbeitskämpfe, etwa im Gesundheitssektor, im öffentlichen Nahverkehr oder bei Amazon, solidarisch begleitet und unterstützt. Wir konnten zur Politisierung von Streiks beitragen, kamen dabei aber kaum aus der Unterstützungsrolle heraus. Die hauptamtlichen Strukturen in den Gewerkschaften stehen dem zu oft im Weg. Gleichzeitig haben wir versucht, gesellschaftliche Streiks auch als materiellen Hebel in sozialen Bewegungen zu etablieren, z.B. im Feministischen Streik oder im Klimastreik. Damit konnte zwar die Idee dieser Kampfform stärker in den Bewegungen platziert werden, die konkrete Umsetzung ist aber bisher kaum gelungen. Es fehlt noch an einer breiten sozialen Basis, um derartigen gesellschaftlichen Streiks tatsächlich Schlagkraft zu verleihen.
Wenn an verschiedenen Stellen der Gesellschaft Verweigerung und Unterbrechung entsteht, erwächst daraus ein reales Potenzial von Gegenmacht, das aufgebaut und zusammengeführt werden muss. Unsere Perspektive ist klar: Wir wollen verschiedene Streikmomente stärker verbinden, Tarifstreiks politisieren und in gesellschaftlichen Streiks die materielle und soziale Basis stärken – vom Lohnstreik zum Mietstreik zum Metropolenstreik.
Sich zu organisieren bedeutet für uns, tragende Netze der Solidarität und Kollektivität zu knüpfen, eine gemeinsame Haltung und Kultur der Genoss*innenschaft zu entwickeln. Das beinhaltet Reibung und Konflikt, aber auch das Versprechen, gemeinsam für die Befreiung von der uns durchdringenden Herrschaft zu kämpfen. Der Aufbau solcher solidarischer Beziehungsweisen ist nicht einfach ein zusätzliches Thema, sondern zieht sich durch alle Bereiche unserer Politik: Wie werden wir gemeinsam zu revolutionären Subjekten? Wie lässt sich eine Perspektive globaler Befreiung transnational organisieren? Wie ist Politik in Ungleichheit auf Augenhöhe möglich?
In einem globalen System von Ausbeutung und Unterdrückung muss auch der Kampf um Befreiung global sein. Aus dekolonialer Perspektive wollen wir von den Kämpfen dieser Welt lernen, die nationale Beschränktheit unseres politischen Handelns hinterfragen und überschreiten. Insbesondere wollen wir uns zu Aufständen und revolutionären Projekten wie den Selbstverwaltungsstrukturen in Nord- und Ostsyrien/Rojava und den zapatistischen Gebieten in ein eigenes Verhältnis setzen. Auf der Hand liegt die zerstörerische Rolle Deutschlands: Von Waffenlieferungen und Auslandseinsätzen über die Unterstützung von Diktaturen bis hin zur Zerstörung von Lebensgrundlagen im Globalen Süden durch das deutsche Wirtschaftsmodell und in Südeuropa durch die europäische Krisenpolitik. Sich gegen diese imperiale Verwüstung aufzulehnen und möglichst breit getragenen Widerstand zu organisieren, verstehen wir nicht nur als Ausdruck internationaler Solidarität. Wir befinden uns „im Herzen der Bestie“. Daraus erwächst eine besondere Verantwortung und auch Handlungsmacht.
Weder unsere Analysen noch unsere Strategien wären dabei vollständig oder auch nur ausreichend, wenn wir eurozentrische Vorstellungen nicht überwinden und die Perspektiven unserer Genoss*innen aus dem Globalen Süden nicht integrieren würden. Es ist unsere Aufgabe als organisierte radikale Linke, Räume kritisch-solidarischer Aushandlung und Reflexion zu schaffen. Wir müssen uns außerdem die Frage stellen, wie wir Ressourcen zur Verfügung stellen und Organisierungsprozesse praktisch unterstützen können, etwa wenn unsere osteuropäischen Genoss*innen transnationale feministische Allianzen unter widrigsten Bedingungen schmieden – nicht als Wohltätigkeit, sondern als Selbstverortung innerhalb dieser Kämpfe. Gleichzeitig ist für ein linkes Hegemonieprojekt, global wie vor Ort, auch der Aufbau von lokaler Gegenmacht wichtig. Es geht nicht um die Frage, ob der Schwerpunkt auf internationaler oder auf lokaler Ebene liegen sollte – diese Ebenen sind nicht zu trennen. Genauso wie das Kapital grenzüberschreitend agiert und Ausbeutungsverhältnisse transnational verlaufen, entstehen auch die Risse und Bruchlinien im Kapitalismus über Grenzen hinweg.
Prägend waren für uns die Krisenproteste gegen die europäische Austeritätspolitik. Im Rahmen von Blockupy haben wir die Kämpfe für einen Moment europäisch geführt. Es hat jedoch nicht funktioniert, im Rahmen der Commune of Europe einen verbindlicheren transnationalen Organisierungsprozess anzustoßen. Ein wesentlicher Grund hierfür war, dass die Bestimmung unserer Politik weiterhin national verhaftet geblieben ist und Internationalismus weiter als Nord-Süd-Solidarität gedacht wurde. In dieser Zeit bildete sich auch die Plattform Transnational Social Strike. Trotz des Abflauens der Krisenproteste ist es ihr gelungen, transnationale Strukturen aufrecht zu erhalten. Dort begegnen wir vielen unserer damaligen Gefährt*innen und neuen Mitstreiter*innen wieder, vorwiegend aus Europa, aber auch aus anderen Teilen der Welt. In den nächsten Jahren werden wir vor allem hier Verbindungen zwischen unseren Kämpfen suchen, um Ansätze einer transnationalen Praxis zu entwickeln. Wir wollen darin auch engere Verbindungen mit denjenigen knüpfen, die sich die gleichen Fragen wie wir stellen und ein ähnliches Politikverständnis haben. Zudem werden wir die Lern- und Austauschprozesse mit unseren Genoss*innen der kurdischen Befreiungsbewegung, die bereits transnational agiert, verstetigen und intensivieren.
Antirassistische Kämpfe sind so vielfältig und sichtbar wie lange nicht mehr. Sie ergreifen alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und sind Teil der globalen Kämpfe um das Leben selbst. Es geht dabei nicht nur um die Reaktion auf rassistische Morde. Es geht um das Zusammenspiel von institutionellem und alltäglichem Rassismus, der alle Orte durchzieht – auch linke. Es sind Kämpfe des Begehrens und der Wut gegen die staatliche Ordnung, die im Alltag von Bullen mit tödlicher Gewalt durchgesetzt wird, gegen die Erniedrigung, gegen die Kategorisierung. Ausgehend von den Erfahrungen dieser Kämpfe gibt es eine breite Kontroverse um Identitäts- oder Klassenpolitik. Die falschen Gegenüberstellungen von „Ökonomie“ und „Kultur“, „Klasse“ und „Identität“ lehnen wir ab. Rassismus lässt sich weder auf eine Einstellung oder einen Diskurs noch auf ein Instrument zur Ausbeutung und Spaltung der Arbeiter*innenklasse reduzieren. Rassifizierung wird sowohl durch Bilder und Sprache produziert, als auch kapitalistisch genutzt und institutionell durch die Verteilung von Rechten und Zugängen organisiert. Rassismus ist eine umfassende soziale Frage, wird durch Strukturen produziert und schreibt sich in Individuen ein.
Radikal antirassistische Praxis bekämpft die ungleichen Weltverhältnisse, denkt globale und lokale Arbeitsteilung zusammen, verteidigt das Recht auf Bewegungsfreiheit und unterstützt diejenigen, die diese Freiheit faktisch durchsetzen. Sie betrifft aber auch die Verhältnisse unter uns, in der IL und in der gesellschaftlichen Linken insgesamt. Ausgehend von der postmigrantischen Realität stellen die antirassistischen Bewegungen den gesellschaftlichen Normalzustand infrage. Sie fordern damit auch ihre weißen, deutschen Genoss*innen in der radikalen Linken heraus und machen deutlich: Rassismus ist nicht nur das Problem einiger weniger, auch wenn es einige auf hervorgehobene Weise trifft. Um als Freie und Gleiche leben zu können, müssen wir Andere werden. Deshalb beschäftigen wir uns damit, wie sich der Rassismus in uns und unsere Zusammenhänge einschreibt: mit unterschiedlichen Erfahrungen mit Polizei und anderen staatlichen Institutionen, mit der Verwobenheit von politischen Ideologien und ökonomischen Verhältnissen wie Rassismus, Kapitalismus und Neoliberalismus.
Klar ist: Wer die rassifizierenden Gewaltverhältnisse überwinden will, ist darauf angewiesen, das Wissen von Unterdrückten einzubeziehen. Kritisch sehen wir das in Teilen der Linken propagierte Konzept des Allyship, also passive Verbündetenschaft. Wir setzen dem die aktive Beziehung der Genoss*innenschaft entgegen. Denn der rassistische Normalzustand kann nur überwunden werden, wenn Rassismus auch zur Kampflinie derer wird, die nicht unmittelbar betroffen sind, weil auch sie nicht Teil einer rassistischen Gesellschaft sein wollen. BIPoC und Migrant*innen sind schon immer Genoss*innen in gesellschaftlichen und emanzipatorischen Kämpfen. Wir wollen weder sprachlos neben den Kämpfen stehen, noch diese dominieren. Gemeinsam die sprichwörtliche Bullenwanne umwerfen, solidarisch kämpfen in Ungleichheit auf Augenhöhe, das ist unser Anspruch.
In unserer gemeinsamen Organisierung begegnen wir einander als Genoss*innen. Wir teilen ein politisches Begehren nach radikaler politischer Veränderung. Dafür braucht es einen langen Atem. Wir wollen uns gegenseitig befähigen, politische Subjekte mit so einem langen Atem zu werden. Wir wissen um die Widrigkeiten im Alltag, um die Vereinzelung, die Erschöpfung und die Zumutungen, die uns die Verhältnisse aufzwingen. Sich zu organisieren, bedeutet für uns daher auch, uns zu versprechen, diesen Weg des langen Atems miteinander zu gehen und der Ohnmacht etwas entgegenzusetzen.
Wir arbeiten an einer Kultur der Ernsthaftigkeit, die für diesen Weg notwendig ist. Das hat etwas mit (Selbst-)Disziplin zu tun, aber nichts mit militärischer Härte. Ernsthaftigkeit bedeutet auch fürsorglich, herzlich und verbunden zu sein. Das heißt nicht, dass wir uns in vermeintlicher Achtsamkeit einander nicht mehr zumuten, in der Sorge etwas falsch zu machen, wie es die neoliberale Ideologie nahelegt. Der Neoliberalismus führt zu einer Moralisierung des Politischen und sieht das Problem in individuellem Fehlverhalten. Dieser unerfüllbare Anspruch der Selbstoptimierung führt zu Vereinzelung und Rückzug. Dem stellen wir eine Form der Kollektivität entgegen, in der Kritik und Selbstkritik nicht als individueller Veränderungsdruck verstanden wird, sondern als Ausdruck von Solidarität, Lebendigkeit und Zugewandtheit zwischen Genoss*innen.
Teil von Genoss*innenschaft sind auch unsere Versuche, strukturelle Diskriminierungen innerhalb der Organisation zu bearbeiten. Dafür haben wir in den letzten Jahren verschiedene Formate geschaffen und Genoss*innen haben sich diese selbstbestimmt genommen. Geschlechtergetrennte Räume, die interne Selbstorganisation von BIPoCs und Gespräche über eigene klassenbezogene Diskriminierungserfahrungen sind Instrumente, um Diskriminierungen adressierbar zu machen. So wird es möglich, sich in Ungleichheit trotzdem auf Augenhöhe zu begegnen. Wir haben die Erfahrungen mit Männlichkeitskritik kollektiviert und daraus Mindeststandards für unsere Ortsgruppen formuliert. Ein wichtiger Schritt für uns als Organisation war, einen Leitfaden zum Umgang mit sexualisierter Gewalt zu erarbeiten und Ansprechstrukturen auf Basis von Parteilichkeit mit Betroffenen zu schaffen. Uns ist klar, dass weder Leitfäden, noch das Zusammenkommen in bestimmten Positionierungen die politische Haltung und Verantwortung jeder einzelnen Genoss*in ersetzen. Es bleibt eine ständige Aufgabe, ihn mit Leben zu füllen und unser Verständnis davon zu schärfen, wie wir mit patriarchaler Gewalt und Täterschaft umgehen wollen oder was Parteilichkeit konkret bedeutet. In Fällen sexualisierter Gewalt wollen wir kollektiv Verantwortung übernehmen. Dazu gehört auch, dass im konkreten Umgang Fehler passieren können. Um miteinander aus Fehlern und guten Beispielen lernen und unterschiedliche Einschätzungen aushandeln zu können, brauchen wir den Austausch innerhalb und außerhalb unserer Organisation. Nur so entstehen erneuerte und tragfähige Netze der Solidarität.
Netze der Solidarität knüpfen wir auch zwischen verschiedenen Generationen. In die Gründung der IL sind mehrere Generationen von Kämpfen eingeflossen. Das bedeutete immer schon ein Zusammentreffen unterschiedlicher Erfahrungen und politischer Traditionen. Diese Unterschiede in Wissen und Erfahrung sehen wir als Möglichkeit, voneinander zu lernen. Allerdings haben wir uns in den letzten Jahren zu wenig damit beschäftigt, wie dieses Wissen kollektiviert und Erfahrungen zugänglich gemacht werden können. Auch deshalb streben wir den Ausbau von Bildungsarbeit an. Wir erhoffen uns davon die Auswertung von Kämpfen, die Stärkung unserer Analysefähigkeit, eine bessere Selbstverortung innerhalb der gesellschaftlichen Linken und die Entwicklung eines gemeinsamen Geschichtsbewusstseins. Das hilft dabei, Ruhe zu bewahren in stürmischen Zeiten, wenn sich die Ereignisse überschlagen und die Konflikte zuspitzen.
Gerade in Zeiten zunehmender Repression ist Solidarität wichtiger denn je. Die Kriminalisierung politischen Protests, die Zerschlagung linker Gruppen durch die Anwendung von Terrorismusparagrafen und die Ausweitung polizeilicher Befugnisse sind ein Vorgeschmack auf die Schärfe der kommenden Auseinandersetzungen.